Wortlager / Markus Kutter
 
     

     
 
 
 
 

2. Abschied von einer Schweiz der Vaterländer

Nein, schrieb er, die Schweiz sei kein Musterstaat, schon gar nicht „die vollkommenste und höchste Staatenbildung in Europa“. Dennoch habe die Schweiz „ein schweres Problem für sich glücklich gelöst, das für Europa noch nicht gelöst ist“. Damit meinte er, dass man in der Schweiz verstanden habe, zwischen Kulturnationalität und politischer Nationalität zu unterscheiden. Kulturell gehörten die Schweizer zu Deutschland, Frankreich oder Italien; eine schweizerische Nationalität dagegen sei erst mit dem eigentlichen Staatswesen Schweiz entstanden, das nach seiner Meinung weder auf 1291 noch auf die acht- oder dreizehnörtige Eidgenossenschaft, vielmehr erst auf 1798, also den Einmarsch der Franzosen und die Helvetische Republik, zurückdatiert werden konnte.

Eine abenteuerliche These? Der Verfasser berief sich auf eine Autorität von höchstem Ansehen, seinen Zeitgenossen Professor Carl Hilty, der in seinen Vorlesungen über die Politik der Eidgenossenschaft von 1875 festgehalten hatte: „Wir sind niemals vor 1291 (dem ältesten Bunde), ja man darf sagen, wir sind vor 1798 (der helvetischen Revolution) keine Nation gewesen.“ Erst seither hätten wir, die Schweizer, „angefangen und müssen noch immer fortfahren, eine Nation zu werden“. Und der andere Professor, der seinem Kollegen so freudig zustimmte, kam zur Schlussfolgerung: „Die Bildung der schweizerischen Nationalität wird also nicht mehr in die Anfänge der Schweizergeschichte zurückverlegt, sie wird vielmehr als der Abschluss der früheren Geschichte und als die langsam herangereifte Frucht der Gegenwart betrachtet.

Das schrieb Johann Caspar Bluntschli 1875 unter dem Titel „Die schweizerische Nationalität“. Bluntschli (1808-1881) lebte damals schon mehr als 25 Jahre lang in Deutschland, war Professor in Heidelberg nach einem Lehramt in München und hatte als einer der führenden Staatsrechtler im deutschen Sprachraum die Bildung zuerst des italienischen, dann – unter Führung Preussens – des deutschen Nationalstaates fasziniert verfolgt. Das waren Ereignisse, die damals noch nicht zehn Jahre zurücklagen, und die schweizerische Verfassungsrevision von 1874, die die zentralen Kompetenzen des Bundesstaates kräftig erhöht hatte, stand in einem ursächlichen Zusammenhang mit der Gründung dieser beiden Nationalstaaten.

-> gesamte Geschichte als pdf (27KB)
-> gesamte Geschichte als HTML (21KB)

 
   
© 2004 Markus Kutter Nach Oben zurückweiter