Nein, schrieb er, die Schweiz sei kein Musterstaat, schon gar nicht „die
vollkommenste und höchste Staatenbildung in Europa“.
Dennoch habe die Schweiz „ein schweres Problem für sich
glücklich gelöst, das für Europa noch nicht gelöst
ist“. Damit meinte er, dass man in der Schweiz verstanden
habe, zwischen Kulturnationalität und politischer Nationalität
zu unterscheiden. Kulturell gehörten die Schweizer zu Deutschland,
Frankreich oder Italien; eine schweizerische Nationalität dagegen
sei erst mit dem eigentlichen Staatswesen Schweiz entstanden, das nach
seiner Meinung weder auf 1291 noch auf die acht- oder dreizehnörtige
Eidgenossenschaft, vielmehr erst auf 1798, also den Einmarsch der Franzosen
und die Helvetische Republik, zurückdatiert werden konnte.
Eine abenteuerliche These? Der Verfasser berief sich auf eine Autorität
von höchstem Ansehen, seinen Zeitgenossen Professor Carl Hilty,
der in seinen Vorlesungen über die Politik der Eidgenossenschaft
von 1875 festgehalten hatte: „Wir sind niemals vor 1291 (dem ältesten
Bunde), ja man darf sagen, wir sind vor 1798 (der helvetischen Revolution)
keine Nation gewesen.“ Erst seither hätten wir, die Schweizer, „angefangen
und müssen noch immer fortfahren, eine Nation zu werden“.
Und der andere Professor, der seinem Kollegen so freudig zustimmte, kam
zur Schlussfolgerung: „Die Bildung der schweizerischen Nationalität
wird also nicht mehr in die Anfänge der Schweizergeschichte zurückverlegt,
sie wird vielmehr als der Abschluss der früheren Geschichte und
als die langsam herangereifte Frucht der Gegenwart betrachtet.“
Das schrieb Johann Caspar Bluntschli 1875 unter dem Titel „Die
schweizerische Nationalität“. Bluntschli (1808-1881)
lebte damals schon mehr als 25 Jahre lang in Deutschland, war Professor
in Heidelberg nach einem Lehramt in München und hatte als einer
der führenden Staatsrechtler im deutschen Sprachraum die Bildung
zuerst des italienischen, dann – unter Führung Preussens – des
deutschen Nationalstaates fasziniert verfolgt. Das waren Ereignisse,
die damals noch nicht zehn Jahre zurücklagen, und die schweizerische
Verfassungsrevision von 1874, die die zentralen Kompetenzen des Bundesstaates
kräftig erhöht hatte, stand in einem ursächlichen Zusammenhang
mit der Gründung dieser beiden Nationalstaaten.
Bluntschlis These lief, vereinfacht gesagt, darauf hinaus, dass im Fall
des italienischen und deutschen Nationalstaates die (als Kulturnationalität
verstandene) Nationalität als die Ursache und der nationale Staat
als die Wirkung dieser Ursache verstanden werden müsse, wohingegen
im Fall der Schweiz das schweizerische Staatswesen die Ursache (geworden)
sei und die sich kulturell äussernde Nationalität erst dessen
Wirkung darstelle. Das war eine Umkehr des Gedankens und hiess zugleich,
dass die schweizerische Nationalität, weil sie die drei Kulturnationalitäten
Deutschlands, Frankreichs und Italiens verbinden musste, in der Sache
selber eine internationale Nationalität bedeutete. Eine weitere Überraschung
bestand darin, dass Bluntschli Carl Hilty bedenkenlos zustimmte, wenn
dieser sagte, dass die Schweizer auch 1875 noch immer fortfahren müssten,
eine Nation zu werden.
Das Geburtsjahr 1808 für Johann Caspar Bluntschli bedeutete, dass
er als Kleinkind noch in der von Napoleon mediatisierten Schweiz gross
geworden war und als Schüler die restaurierte Schweiz von 1815 erlebt
hatte. Im Alter von nur 21 Jahren machte er dann in Bonn seinen juristischen
Doktor, 1830 nahm er in Zürich, um praktische Erfahrungen zu sammeln,
untergeordnete Positionen am Amtsgericht und in einer Regierungskommission
ein. Dann löste die Pariser Julirevolution die liberalen Revolutionen
in der Schweiz aus, und der knapp 23jährige, frisch verheiratete
Bluntschli publizierte seine erste grössere Schrift „Das
Volk und der Souverän, im Allgemeinen betrachtet und mit besonderer
Rücksicht auf die Schweizerischen Verhältnisse“ (1831).
In ihr war zu lesen, dass die Schweiz einer der merkwürdigsten und
wunderlichsten Staaten sei, welche die Geschichte kenne. Das Schweizervolk
sei keine gleichartige Masse, es bilde auch keinen Staat – „man
kann gar nicht von der Schweiz als einem Staate sprechen. (...) Es ist
unmöglich, von der Einheit der Schweiz auszugehen.“ Denn: „Die
einzelnen Kantone der Schweiz sind wahre Staaten.“ Ihre Volksstämme
würden sich zwischen Zürich und Appenzell oder Basel und Schwyz
mehr unterscheiden als die Preussen von den Österreichern. Dazu
passte auch, dass verfassungsrechtlich diese Staaten zwei ganz verschiedene
Grundtypen darstellten: die demokratischen Landsgemeinde-Kantone und
die eben jetzt, infolge der Julirevolution, egalitärer ausgestalteten
repräsentativen kantonalen Republiken. Sie waren die tatsächlichen
Vaterländer der damaligen Schweizerinnen und Schweizer.
In unserem Zusammenhang wichtig ist es zu sehen, dass noch 1831 ein
juristisch beschlagener und politisch interessierter junger Mann als
Beobachter der schweizerischen Verhältnisse zuerst einmal die „Verschiedenheit
der Sprachen, Sitten, Lebensweise und Denkungsart in den Kantonen“ sah,
die er für so gross hielt, „dass an eine Auflösung
derselben und eine durchgreifende einheitliche Verfassung für die
ganze Schweiz nicht zu denken“ war. Sie könne „niemals
eine dauerhafte Einheit hervorbringen, weil diese der Natur der Schweiz
zuwider ist“. Dem schien zu widersprechen, dass er an anderer
Stelle vom „Gefühl eines alle Schweizer umfassenden Nationalverbandes“ sprach,
aber es war für ihn insofern kein Widerspruch, als er das ganze
Land, seine Gesellschaft und sich selber in einem Entwicklungsprozess
sah: „Der Staatsverband war noch schwach; das Nationalgefühl
aber erstarkte mehr und mehr.“ Dieser Entwicklungsprozess müsse,
so seine Meinung, zu einer Verstärkung der Zentralgewalt und, dank
dem revolutionären Schub von 1830, zu einer neuen Verfassung für
den Bund von 1815 führen.
Es ist durchaus legitim, die 50 Jahre nach 1798, also nach Gründung
der kurzlebigen Helvetischen Republik, als eine blosse Vorbereitungszeit
für den Bundesstaat von 1848 zu begreifen. Denn ohne die kantonalen
Revolutionen nach 1830 und ohne den radikalen Sieg im Sonderbundskrieg
hätte der nicht gegründet werden können. Im Verständnis
von Bluntschli waren diese 50 Jahre die Zeit, wo ein nationales Bewusstsein,
das vor 1798 kaum vorhanden gewesen war, den durch politische Entscheidungen
geschaffenen Raum langsam erobern oder auffüllen musste. Die erste
(aufgezwungene) Entscheidung war die Helvetische Republik von 1798 gewesen,
dieser zentralistische Einheitsstaat; als zweite (wiederum befohlene)
Entscheidung musste die napoleonische Mediation von 1803 verstanden werden,
die frühere Untertanenländer zu selbständigen Kantonen
aufgewertet hatte, so dass nach 1815 22 gleichberechtigte Kantone den
neuen Bund schlossen. Dieser war, in heutiger Sprache, ein multilaterales
Vertragswerk, das im Sinn der alten bilateralen Bündnisse das grösste
Gewicht noch immer auf militärische Verpflichtungen legte und als
vorerst wichtigste gemeinsame Organisation eine aus kantonalen Kontingenten
zusammengesetzte Armee schuf. Es war ein Vertrag für einen Staatenbund
mit ersten bundesstaatlichen Ansätzen, aber keine eigentliche Verfassung;
sein Text war zudem so überhastet redigiert worden, dass man vergessen
hatte, eine Revisionsklausel einzubauen. Allzu flüchtig war auch
festgehalten, nach welchen Mehrheiten in welchen Geschäften die
Delegierten der Kantone in der gemeinsamen Behörde, der Tagsatzung,
stimmen und entscheiden sollten.
Diese drei staatsrechtlich relevanten Weichenstellungen (Helvetik, Mediation,
Bundesvertrag) standen – laut Bluntschli – am Anfang der
nationalen Bewusstseinsbildung, hatten also die politische Nationalität
vorweg geschaffen, und erst nachher ging es darum, dass die Schweiz auch
eine Art von kultureller Nationalität bekommen würde. (Das
war, mit dem Blick auf die Entstehung des deutschen und italienischen
Nationalstaates, die Umkehrung von Ursache und Wirkung.) Wie das geschah,
deutete Bluntschli 1831 schon mit dem Hinweis auf die wichtige Rolle
der vielen nach 1798 gegründeten eidgenössischen Vereine an.
Aus heutiger Sicht vollzog sich die „nationale Integration“ nach
1815 in einem äusserst vielschichtigen und mehrdimensionalen Prozess,
der zuerst einmal eine neue Art von Öffentlichkeit und somit Pressefreiheit
voraussetzte, sich dann auf die neu geschaffenen bürgerlichen Werte,
auf die Zielsetzungen im Bildungswesen, auf ein anderes Geschichtsverständnis,
auf Feste, Lieder, Fahnen, auf interkantonale und parteipolitische Debatten
bezog, die die Schweiz vor 1798 noch gar nicht gekannt hatte.
Wo war nun das „gemeinsame Vaterland“ sichtbar, das
jetzt nicht mehr nur durch den Kanton verkörpert sein sollte? Man
staunt gelegentlich, mit dem Blick auf die Schweiz im späten 19.
Jahrhundert, wie militärisch sie organisiert war, und kann sogar
einen preussischen Einfluss vermuten. Aber nun hatte der Bundesvertrag
von 1815 als die am besten funktionierende gesamteidgenössische
Institution die Armee geschaffen, womit es fast selbstverständlich
wurde, dass ein schweizerischer Patriotismus seine Kalorien zuerst einmal
von ihr bezog. Die von der Armee initiierte rote Armbinde mit dem weissen
Kreuz hat vermutlich zur Popularisierung des Schweizerkreuzes, das 1815
noch kaum eine Rolle gespielt hatte, am meisten beigetragen.
Deutlicher als in der alten Eidgenossenschaft vor 1798 gab es jetzt
ein zweistöckiges Vaterland, das aus den noch als souverän
verstandenen Kantonen und darüber aus dem eidgenössischen Staatenbund
bestand. Der Kanton war wichtiger, denn die Behörde Tagsatzung konnte
zwar Krieg und Frieden erklären, die Leitung der Armee ausüben
und Bündnisse mit anderen Staaten schliessen, aber daneben gab es
wenig zu regieren. Die Tagsatzung war eben keine Regierung, sondern in
den meisten Dingen nicht mehr als eine umständlich funktionierende
Gesandtenkonferenz.
Die Dürftigkeit des Bundesvertrages von 1815 war schon im ersten
Jahrzehnt sichtbar geworden; die kantonalen Verfassungsänderungen
im Gefolge der Julirevolution deckten dann die Richtung auf, welche die
politische Entwicklung nehmen musste: mit weiterer Aufklärung, mit
einzelnen Reformen und einem verbesserten Bildungswesen waren die Schwächen
nicht zu beheben, politische Eingriffe wurden nötig. Der Versuch
zu einer eidgenössischen Verfassungsrevision scheiterte 1832, weil
der Mechanismus der Tagsatzung nicht fähig war, ein solches Vorhaben
gemeinsam zu bewältigen, die Kantone lehnten die Revision ab. So
musste zu Ersatzmitteln gegriffen werden, zum Beispiel den sogenannten
Konkordaten, mit denen sich einzelne Kantone zu einem gemeinsamen Vorgehen
in Währungsfragen, Strassenbau oder Durchgangszöllen – mühsam
genug – zusammentaten. (Man hätte von einer „Schweiz
der variablen Geometrie“ oder einer „Schweiz der verschiedenen
Geschwindigkeiten“ reden können.) Unvermeidlich war auch,
dass sich einzelne Kantone aus politischen, konfessionellen, vielleicht
sogar versteckten wirtschaftlichen Gründen um separate Bündnisse
bemühten – das Siebner-Konkordat der liberalen Kantone oder
der Sarner Bund der konservativen Kantone waren dem späteren Sonderbund
der katholisch-konservativen Kantone nach ihren Zielsetzungen durchaus
zu vergleichen. Die Schweiz der kantonalen Vaterländer probte die
Integration zum grösseren und übergreifenden Verband; der Sonderbundskrieg
von 1847 wurde dadurch zur entscheidenden Stufe in der Bewusstseinsbildung,
dass er eine Mehrheit sichtbar machte, der niemand mehr, weder im In-
noch Ausland, die politische Handlungsfähigkeit absprechen konnte.
Aus späterer Zeit stammt die Formulierung, die Schweiz sei eine
Willensnation. Bluntschli hätte das nicht so gesagt. Denn die Vorstellung,
dass in der Schweizer Geschichte neben den Luzernern, Zürchern und
Bernern auch die Waadtländer und St. Galler, die Tessiner und Aargauer,
die Bündner und Neuenburger zum Bund der drei Urkantone stossen
wollten, war für ihn ahistorisch. So konservativ er sich selber
verstand, so wenig schwärmte er in politischen Dingen von organischem
Wachstum. Er schrieb: „Die französische Revolution und
Napoleons Kaiserthum waren überwältigende neue Erscheinungen
für die historische Politik. (...) und in unseren Tagen wird der
Politiker, wenn die Elemente gähren und die Ereignisse drängen,
oft Antheil nehmen müssen an neuen Thaten, an neuen Einrichtungen,
an neuer Staatenbildung.“ Das war der Schweiz 1798 zugestossen,
und ohne diesen Eingriff von aussen – so Bluntschlis Interpretation – hätte
sich aus dem kantonalen Patriotismus kein schweizerisches Nationalgefühl
entwickeln können. Das Europa am Anfang des 21. Jahrhunderts steht
vor dem gleichen Problem.
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