An der Stadthausgasse, die quer zum unteren
Teil des Basler Marktplatzes führt, befindet sich seit eh und je
ein Geschäft, das Handschuhe verkauft. Ich habe seit Jahrzehnten
keine Handschuhe mehr gekauft und auch keine mehr getragen, ausgenommen
die aus Wolle gestrickten, wenn es einmal in den Bergen bitterkalt wird.
Aber wie ich wieder einmal am Schaufenster dieses Handschuhladens vorbeiging,
fiel es mir ein:
Als ich kurz nach Kriegsende die Rekrutenschule machte, trugen der Herr
Hauptmann und die Herren Leutnants alle noch Handschuhe. Sogar wir Studenten
leisteten uns gelegentlich Handschuhe; es waren die Situationen, in denen
man etwas Wichtiges oder Würdevolles darzustellen gedachte. Mitte
der fünfziger Jahre vermittelte ich ein Gespräch zwischen Edgar
Salin, dem Basler Professor für Nationalökonomie und Soziologie,
und Carl Koechlin, dem Präsidenten der Firma Geigy. Und ich sehe
noch heute die rötlich-gelben Handschuhe aus Peccari-Leder, die
Salin trug, als er das Verwaltungsgebäude betrat. Die Geste, mit
der ein Mann seine Handschuhe anzog, mit der er sie wieder auszog oder
dann beide gefalteten Handschuhe in die blosse Hand nahm, hatte fast
immer, ob man das wollte oder nicht, einen symbolischen Charakter.
Und heute? Männliche Wesen tragen Handschuhe eigentlich fast nur
noch, um sich gegen Kälte oder Schmutz zu schützen, aber mit
Handschuhen irgend etwas symbolisieren zu wollen, macht wenig Sinn. Etwas
hat sich verändert, aber was ist es genau, das sich verändert
hat? Der Lebensstil, die Mode, die Selbstinszenierung, die Ordnung der
Zugehörigkeit?
Mein Jahrgang ist 1925. Lucius Burckhardt, der engste Freund aus den
Studienzeiten, hat den gleichen Jahrgang. Im Gespräch nannten wir
uns gelegentlich „Generation 1/4“. Dieser Ausdruck gab uns
ein gutes Gefühl: dass wir damals, Anfang der fünfziger Jahre,
das zweite Viertel des Jahrhunderts schon hinter uns hatten und im besseren
Fall noch zwei weitere Viertel würden durchleben können. 25
war auch insofern eine schöne Marke, als wir das erste Viertel des
Jahrhunderts von unseren Eltern hatten erfahren können (meine Mutter
vom Jahrgang 1888 hatte noch die Zeit der drei Kaiser von Österreich,
Deutschland und Russland erlebt), und am Ende des zweiten Viertels im
20. Jahrhundert waren wir genau 25 Jahre alt. Sollten wir das vierte
Viertel des Jahrhunderts mit dem Jahr 2000 auch noch abschliessen können,
wäre das eine saubere Sache. Der Jahrgang 1925 schien eine gewisse
Ordnung zu garantieren, eine Übersichtlichkeit durchschaubarer Art.
1950 lag die Lebenserwartung für Männer erheblich unter 70
Jahren. Heute lese ich in der Zeitung, dass sie unterdessen 76,4 Jahre
beträgt. Auch diese Marke habe ich übersprungen, oder es hat
mir meine Frau Gisela geholfen, dass ich über sie hinweggetragen
wurde. Heute habe ich gelesen, dass der älteste Schweizer im Alter
von über 108 Jahren soeben gestorben sei; im Lokalteil der Zeitung
ist jeden Monat von den Blumensträussen zu lesen, die der Regierungspräsident
einer Hundertjährigen überreicht. Es könnte sein, dass
man demnächst die Marke für Regierungsbesuche in der Begleitung
eines Weibels von 100 auf 105 Jahre anheben muss. Solche Marken sind
eben nicht für ewig gesetzt.
Die Jahrhunderte selber sind ebenfalls dehnbar. Das 19. begann in Frankreich
mit der Revolution von 1789, in der Schweiz mit der Helvetischen Republik
von 1798. Es dauerte bis 1914, dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Das
20. Jahrhundert hingegen war ein verkürztes; es reichte in Europa
nur von 1914 bis zum Zusammenbruch der Sowjetunion um 1990, symbolisiert
durch den Fall der Mauer zwischen Westeuropa und dem kommunistischen
Herrschaftsbereich. Dieses 20. Jahrhundert gebar zwei Weltkriege und
den Kalten Krieg bis zum Amtsantritt von Gorbatschow, es roch nach Blut,
Rauch und Trümmerstaub, lag im Schatten der Diktaturen. Seine Schmach
war der gewollte Völkermord. Die grösste Veränderung wissenschaftlicher,
technischer und moralischer Natur brachte die Kernenergie mit der Möglichkeit
zur Atombombe. Nach was das 21. Jahrhundert dereinst riechen wird, weiss
ich nicht.
Wir haben den Eindruck, dass geschichtlich die Zeit ungleich schnell
läuft. Vielleicht ist es historische Blindheit oder einfach fehlendes
Wissen, wenn wir uns zum Beispiel die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts
als relativ ruhige Epoche vorstellen. Es kannte viele Kriege (der französischen
Krone), Krankheiten, Naturkatastrophen (wie das Erdbeben von Lissabon,
aber sie kommen uns heute wie Einwirkungen von aussen vor, Schicksalsschläge
sozusagen. Heftig bewegt dagegen von Innen scheint uns der Übergang
des 15. zum 16. Jahrhundert mit der Kirchenreformation; aufgeregt ist
das letzte Drittel des 19. Jahrhunderts mit der Ausbildung des Kapitalismus,
der industriellen Gründerzeit, der Elektrizität, Chemie, den
Fortschritten im wissenschaftlichen und medizinischen Bereich. War das
der Anfang der Moderne? Eine Moderne, die dann das Telefon, das Auto,
das Flugzeug, das Radio gebären sollte? Seither, so scheint es,
gehören Nachrichten über wissenschaftliche Errungenschaften
in der Biologie, Energie, Genetik, Physik, Informatik, Medizin etc. zu
den Tagesneuigkeiten. Fortschritt ist ein Sammelbegriff für Veränderungen,
zu denen die meisten Leute nichts und nur ein paar wenige ein bisschen
beitragen können.
Das ist im grossen Ablauf der Geschichte neu. Ein Mensch des 15. Jahrhunderts
(Herbst des Mittelalters) oder des 17. (Barockzeit) konnte sich das Lebensgefühl,
das uns Heutige aus dem Hintergrund bestimmt, nicht vorstellen: dass
wir eigentlich nicht wissen, was dank der wissenschaftlichen Forschung
und dem Ausbau der Technik auf uns zukommt. Aber dass es kommt, ist schon
selbstverständlich geworden.
Was ändert sich eigentlich? Plötzlich stelle ich mir selber
die Frage: Was hat sich in deinem, die 75 Jahre überschreitenden
Leben geändert? Oder wo hast du – und wann – die Veränderungen
in nächster Nachbarschaft erlebt?
Hier tritt wieder das Ferienhaus im Toggenburg auf die Bühne, in
das ich im Alter von vier oder fünf Jahren zum ersten Mal kam und
das dann Jahr für Jahr von der ganzen Familie aufgesucht wurde,
bald einmal auch im Winter. Somit erlebte ich als Kind die jährlich
arrangierten Verbesserungen, die eben auch Veränderungen waren.
Dass wir von einer Saison auf die nächste Strom im Haus hatten,
war die wichtigste. Die alten Petrollampen wurden abgehängt, die
Kerzen in den Schlafstuben verschwanden, neben den Holzherd in der Küche
trat ein elektrischer Herd, ein Boiler wurde an der Küchenwand montiert.
Mit der Elektrizitätsversorgung kam auch das Telefon, bei dem man
noch für ein paar Jahre energisch eine Kurbel zu drehen hatte, um
die Verbindung mit der Zentrale Wattwil zu erlangen.
Auch Renovationen am Haus erlebte ich als Veränderungen, letztlich
positive. Die Laube an der Ostseite des Hauses war in einem sehr lotterigen
Zustand, jetzt kamen die Zimmerleute aus dem Dorf und erweiterten sie.
Der Holzschopf am westlichen Ende des Hauses hatte einen ersten Stock,
bei dessen Betreten man durch die Spalten zwischen den wackeligen Brettern
sah. Meine Eltern legten einen neuen Boden und richteten ein Lager mit
Strohsäcken für Kinder ein, in dem fünf oder sechs Personen
ohne Probleme Unterschlupf fanden. Ursprünglich hatte das Haus seine
eigene Quelle, war also noch nicht an die Wasserversorgung der Gemeinde
angeschlossen. Wenn Gewitter heftige Platzregen brachten, was in den
Sommermonaten fast jedes Jahr der Fall war, kam aus dem einzigen Wasserhahnen
im Schopf eine braune Brühe, der Regen hatte die Quelle ersäuft.
Unten an der Strasse, etwa 100 Meter vom Haus entfernt, liessen meine
Eltern einen einfachen Schopf errichten, der so gebaut war, dass er im
Extremfall auch ein Auto aufnehmen konnte. Aber noch dachte niemand an
ein solches.
Neben diesem Schopf stand das Haus unseres wichtigsten Nachbarn, das
Haus der Familie Näf. Frau Näf und später ihre Tochter
oder Schwiegertochter, die jüngere Frau Näf, führten einen
Spezereiladen. Sie verkauften die einfachen Dinge, Salz und Zucker, Mehl
und Haferflocken, Bouillonwürfel, Schokolade, gelbe Erbsen, die
Suppenwürste von Knorr, Gewürze wie Pfeffer, Hilfsmittel wie
Maizena. Wenn ich von einem Sommer zum nächsten in den dreissiger
Jahren bei Frau Näf in den Laden trat, gab es immer Neues zu entdecken – heute
würde ich sagen: Innovationen im Detailhandel setzten sich durch.
Es gab neue Produkte, neue Verpackungen, neue Namen und Etiketten. Die
unverpackte Ware – Beispiel die gelben Erbsen oder das offene Mehl
in der Schublade – verringerte sich zu Gunsten der fertig verpackten
Produkte. Gewisse Lebensmittel veränderten sogar ihre Konsistenz,
lagen in Frau Näfs Regalen plötzlich als Konserven oder Tuben
mit farbigen Etiketten.
Auch Kinder von heute erleben, wie Sortimente sich ändern. Aber
das hat mehr mit Moden und Trendverlagerungen zu tun. Was ich erlebte,
war der Übergang von der Stapelware zum Markenprodukt. Das Faszinierende
für mich schon damals bestand darin, dass meine eigene Entwicklung
parallel lief zu den Wandlungen in der Warenversorgung – die Migros
wurde im gleichen Jahr gegründet, in dem ich auf die Welt kam.
Zur Zeit meiner Primarschuljahre wohnten wir in Bruggen, einem Vorstadtdorf
von St. Gallen. Zum kleineren Teil war es noch ein Bauerndorf, zum grösseren
ein Fabrikarbeiterdorf. Wenn ich zurückdenke, fällt mir jetzt
die deutlich fühlbare Gliederung, ja geradezu Schichtung dieser
dörflichen Gemeinschaft auf. Bauernfamilien auf der einen Seite,
Arbeiterhaushalte auf der anderen, der Mittelstand sonderte sich ab,
an reiche Fabrikanten in Villen oder sonstige grossbürgerliche Pracht
kann ich mich nicht erinnern. Eine andere Schichtung war die Trennung
in Protestanten und Katholiken, die spürbar ganz verschiedene Lebensbereiche
gegeneinander aussonderte und die Leute gegeneinander abgegrenzte Zeitungen
lesen lies. Es gab das freisinnig-bürgerliche „St. Galler
Tagblatt“, die katholisch-konservative „Ostschweiz“ und
die sozialdemokratische „Volkstimme“, eine kuriose Pressevielfalt
für ein eher ärmliches Vorstadtdorf.
Eine Schichtung schuf der Arbeitsort: Bauer, Detaillist, Velomechaniker,
Fabrikarbeiter und Primarlehrer blieben mit dem Pfarrer und dem Arzt
im Dorf; der Gymnasiallehrer, Staatsbeamte, Strassenbahn- oder Lokomotivführer,
der Buchhalter und Verkäufer fuhren zur Arbeit in die Stadt und
benutzten dazu auf dem Talboden die Trambahn oder am Hang des Hügels
eine der beiden Eisenbahnlinien, die von Wil und Gosau (SBB) oder von
Wattwil und Herisau (Bodensee-Toggenburg-Bahn) kamen. Nur der Arzt, glaube
ich, besass ein Automobil. Die letzte Schichtung oder Gliederung betraf
das, was man die Hierarchie der Eliten nennen könnte: Arzt, Pfarrer,
Staats- oder Gemeindebeamte und Lehrer bildeten die Spitze, standen im
Genuss eines sorgfältig dosierten Ansehens, waren Respektspersonen.
Ihnen hörbar oder unverblümt zu widersprechen, brauchte Kraft
und war riskant.
Schichtüberlagerungen wurden spannend. Unser Primarlehrer mit dem
Namen Spirig war katholisch, eher gefürchtet wegen seiner Neigung
zu Ohrfeigen und sogenannten Tatzen, also Schlägen mit dem Lineal
auf die offene Hand. Daneben schrieb er kleine Berichte für die „Ostschweiz“,
hatte also auch politisch seine Position markiert. Herrn Spirig nach
der Schulstunde zu fragen, über welche Dorfgeschichte er seiner
Zeitung berichten würde, war ein wenig abenteuerlich, denn die „Ostschweiz“ gab’s
bei mir zu Hause nicht zu lesen, nur das „St. Galler Tagblatt“ und
die „Volksstimme“. Aber ich spürte deutlich, dass Lehrer
Spirig mit dem reformierten Pfarrerssohn nicht zuletzt auch darum gerne
sprach, weil damit die etablierten Schichtungen und Aufteilungen an einem
gegebenen Punkt gestört wurden.
Veränderungen? Ohrfeigen und Tatzen kennt die heutige Primarschule
nicht mehr. Der Unterschied zwischen ortsgebundener Arbeit und dem mit
dem Wohnort nicht identischen Arbeitsort ist unerheblich geworden, heute
pendeln fast alle. Und sie sind fast alle motorisiert. Der konfessionelle
Gegensatz, der die schweizerische Gesellschaft seit dem Sonderbundskrieg
von 1847 noch einmal zu prägen verstand, ist heute nur noch ein
flüchtiger Schatten. Eine Elite aus Arzt, Pfarrer, Lehrer und Staatsbeamten
ist nicht mehr sichtbar. Dafür werden Generationen deutlicher unterschieden.
In meiner Jugend – so mein Eindruck – wollten die Jüngeren
möglichst bald einmal erwachsen sein und das dann so lange bleiben,
bis sie eben alte Leute geworden waren. (Ich bekam sie anlässlich
der Konfirmation.) Heute sind die Jüngeren eine grosse Generation
bis gegen 40 Jahre, erst nachher werden aus den Herangewachsenen bestandene
Leute, manchmal mit erheblichen Schwierigkeiten. Auf der anderen Seite
sind sportlich durchtrainierte Senioren, die es mit den Jüngeren
aufnehmen könnten, immer häufiger sichtbar. Und sie joggen.
Aber was heisst sichtbar: Plötzlich merke ich im Rückblick,
dass es nicht nur um Strukturen und Gewohnheiten geht, sondern dass andere
Grössen die Veränderungen bestimmen. Ich will sie einmal Weltgefüge
nennen. Es sind das Konstellationen, in denen sich geschichtliche Überlieferungen,
Wert- und Normengefüge mit Einzelschicksalen treffen und den Menschen,
die in sie involviert sind, ein bestimmtes Verständnis der Welt
und ein Verhältnis zu ihr vermitteln oder sogar befehlen.
Ein solches Weltgefüge war für mich das Pfarrhaus mit seinem
theologischen, geistigen und gesellschaftlichen Unterbau. In der väterlichen
Linie waren Vater und Grossvater Pfarrherren, der Grossvater Hermann
mit Lydia Rohner verheiratet, die wiederum aus einer Pfarrfamilie kam.
In der mütterlichen Linie stammte Grossmuter Julie Erni abermals
aus einem Pfarrhaus in Kyburg. Aus meiner Kinderzeit tauchen Onkel Gottfried
und Tante Ürsi auf, der Pfarrer Gottfried Ludwig und seine Frau
Ursula, wiederum eine geborene Rohner. Er war Pfarrer in Biel und beeindruckte
uns Kinder durch die fast bedrohliche Verwachsenheit seines schwer hinkenden
Körpers, die auch auf seine massige Ehefrau übergegangen schien.
Die Frauen mit dem Namen Rohner kamen alle aus einer Institution, die
sich „Victoria“ nannte. Heute würde man von einer christlichen
Mädchenerziehungsanstalt sprechen, die ihren Zöglingen ein
ehrbares und dienstbeflissenes Wesen beibringen sollte. Als ich vor kurzem
erstmals den Roman „Johannes“ von Jakob Schaffner aus den
zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts las, wurde mir plötzlich
klar, was dieses pfarrherrliche und pädagogisch ausgelegte Weltgefüge
auch bedeutete: einen in sich selber ruhenden und abgerundeten, geradezu
theokratischen Herrschaftsbereich mit festen Ritualen, moralischen Ansprüchen
und sozialen Disziplinierungen. Da gehörte alles zusammen: Tischgebet,
Andacht, Unterweisung, Lebensprogramm, gemeinsames Singen und ein untergründiger
Verhaltenskodex, an dem es nichts zu rütteln gab.
Wenn ich das so niederschreibe, liest es sich ziemlich streng, war es
aber nicht. Ich selber musste mich nie unterdrückt oder bevormundet
fühlen. Vielleicht erlebte ich das Elternhaus als ein Pfarrhaus
schon etwas im Auflösestadium; Onkel Gottfried und Tante Ürsi
begannen komisch zu wirken. Dass einer eine christliche Mädchenerziehungsanstalt
leiten konnte oder geleitet hatte, galt spürbar immer weniger als
Leistungsausweis. Die Arbeitslosigkeit der Weltwirtschaftskrise und die
europäischen Faschismen setzten andere Akzente.
Die Pfarrhauswelt hatte den Vorteil, Ordnung zu schaffen und bot eine
Hierarchie der Werte an. Sie war von geselligem Charakter. Dass Leute
von aussen zum Mittag- oder Abendessen erschienen, dass jederzeit verschiedene
Besuche auftauchten, dass ein Vikar oder ein Student sich regelmässig
an den Mittagstisch setzte, war fast selbstverständlich. Der Essenstisch
wurde damit immer auch zur Diskussionsrunde, es wurden Meinungen vertreten
und ausführlich begutachtet, gelegentlich auch heftig bestritten.
Ein eigenes Ritual hiess „Schwarzer Kaffee“, das war der
engere Kreis, an dem ein gegebenes Thema unter den Studierten weiter
abgehandelt wurde. Wir Kinder sassen dann nicht mehr dabei, häufig
auch die Mutter nicht. In den Kaffeeduft mischte sich der Stumpenrauch.
In einem übergeordneten Sinn gesellig war das Pfarrhaus auch insofern,
als es eine Station darstellte, an der Bücher auftauchten und gewissermassen
zur Rede gestellt werden mussten. Wer hat was geschrieben und warum,
was ist damit gemeint und wie sollen wir das verstehen? Es ging nicht
nur um theologische Geschäfte, es ging auch um Soziales, Politisches,
Moralisches, weniger um Literarisches. Die Gespräche dienten dazu,
den eigenen Standort zu klären, zu befestigen oder zu sichern. Der
Pfarrer führte die Auseinandersetzung mit der Welt oft eher seufzend
denn als Sachwalter Gottes. In den schwierigen Jahren der Weltwirtschaftskrise,
dann in den lärmigen Jahren des heraufkommenden Nationalsozialismus
und der Judenverfolgung, in den Weltkriegsjahren mit den täglichen
Frontnachrichten und gegen Kriegsende dem fernen Brummen von Bombenflugzeugen über
der deutschen Nachbarschaft, fehlte es nicht an drängenden, fast
traumatischen Themen für das tägliche Gespräch. Das Pfarrhaus
in seinem besten Sinn war dann so etwas wie eine Schnittstelle zwischen
dem Geistigen und der sozialen Alltäglichkeit. Sie funktionierte
leidlich, weil sie noch nicht konkurrenziert war durch Fernsehgespräche,
Befragungen am Radio, langen Interviews in Sonntagszeitungen. Das Pfarrhaus
war in meiner Kinderzeit noch so etwas wie ein Medium.
Verändert hat sich wahrscheinlich weniger das Pfarrhaus, auch wenn
es seine in früheren Jahrhunderten geformte Rolle weitgehend verloren
hat. Verändert haben sich die Schwerpunkte des Diskurses, die sichtbar
auseinanderstreben. Was ist heute für unser Standhalten, Überleben,
Weiterkommen wichtig? Die Möglichkeiten der totalen Überwachung,
die Fortschritte in der Gentechnik, neue Energieformen, die Kostenentwicklung
im Gesundheitswesen, eine die Landesgrenzen und Kontinente übergreifende
Solidarität, die europäische Integration? Das Zentrum, aus
dem heraus all diese und noch unzählige weitere Debatten verknüpft
werden könnten, ist nicht mehr sichtbar. Und sicher ist es nicht
mehr das Pfarrhaus.
Wenn ich auf ganz präzise und benennbare Veränderungen in
meiner Lebenszeit zurückkommen will, liesse sich leicht ein langer
Katalog von Entdeckungen und Errungenschaften, eine Liste der Fortschritte
in Wissenschaft und Technik, aufstellen. Aber meine Frage lautet nicht:
Was hat sich in der Welt und in den grossen Industrienationen alles verändert,
sondern heisst ganz einfach: Was davon habe ich selber erlebt?
Meine Dissertation schrieb ich am Anfang der fünfziger Jahre noch
auf einer von Hand betriebenen Schreibmaschine im Zweifingersystem. Wenn
ich sie für Briefe benutzte, von denen eine Kopie bei mir bleiben
sollte, klemmte ich zwischen die weissen Seiten ein Kohlepapier hinter
die Walze. Als ich in die Firma Geigy eintrat, stand eine Sekretärin
zu meinen Diensten, die schon über eine elektrische Schreibmaschine
verfügte, mit der sie sogar, dank dem durch Strom verstärkten
Anschlag, mehrere Kopien gleichzeitig herstellen konnte. Ohne eine gewisse
Fingerfertigkeit war das Management der Kohlenpapiere freilich nicht
zu bewältigen, mich erfüllte eine ernste Bewunderung. Wenn
ich nachträglich einen Text korrigierte, kürzte, umstellte
oder verlängerte, musste ich immer abwägen, welche Folgen im
Hinblick auf die Kopien meine Korrektur nach sich ziehen würde.
Ein einzelner Tippfehler liess sich auf allen Kopien mit Radiergummi
und später Tippex bereinigen, aber wenn ich zusätzliche Zeilen
erfand, musste die Seite und manchmal das ganze Manuskript neu geschrieben
werden.
Als wir die eigene Werbeagentur gründeten, war die erste und kostspieligste
Anschaffung eine elektrische Schreibmaschine. Während wir in den
sechziger Jahren für IBM-Produkte Werbekampagnen entwarfen, entstand
der neue Ausdruck „Textverarbeitung“, parallel zur „Datenverarbeitung“.
Bald gab es Schreibmaschinen, die die Zwischenräume zwischen den
einzelnen Buchstaben optisch ausgleichen konnten, dann lernten sie geschriebene
Texte speichern. Die zuletzt bestaunte Errungenschaft war die Schreibmaschine,
die keine Typenhebel mehr besass, sondern einen Kugelkopf, der ratterte
und schneller schrieb, als es eine Maschine mit Typenhebeln je schaffte.
Neben der Maschine mit Kugelkopf gab es Schreibmaschinen mit einem Typenrad,
dank dem sich verschiedene Schrifttypen verwenden liessen. Das letzte
dieser Modelle entsorgte meine Sekretärin erst vor kurzem.
Denn unterdessen war mit den achtziger Jahren der Personal Computer
(PC) ins Büro eingezogen, der erst zur erfüllen begann, was
der Begriff der Textverarbeitung vorher schon versprochen hatte. Schreiben,
speichern, korrigieren, umplatzieren, vergrössern, verkleinern, ändern
im Schriftbild, ausdrucken, kopieren, übermitteln – es sind
Vorgänge von einer Komplexität entstanden, die noch bei Anbruch
des letzten Viertels im 20. Jahrhundert unvorstellbar waren. (Was aber
nicht hindert, dass ich diesen Text zuerst von Hand mit dem Filzstift
auf einen Block aus zweitklassigem Papier niederschreibe, ihn dann später
auf das Diktiergerät spreche, von dem Viola Ratti ihn abschreibt.)
Das Internet ist dazugekommen, immer mehr Nachschlagewerke stehen in
elektronischer Form zur Verfügung. Der e-mail hat sich ungefähr
zur gleichen Zeit wie die Mobiltelefone ausgebreitet, und nun dürfen
wir als vor oder um 1960 geborene Zeitgenossen sagen, dass wir den grössten
Umbruch im kommunikativen Verhalten seit der Erfindung Gutenbergs mit
eigenen Augen als erwachsene Menschen erlebt haben.
War er wichtiger als die Erfindung des Telegrafen, des Telefons, des
Radios, des Fernsehens? Er war vor allem von einer anderen Qualität.
Die genannten Erfindungen stellten immer so etwas wie zusätzliche
Systeme dar, deren man sich auch noch bedienen konnte, wobei die bisherigen
funktionell bestehen blieben. Nun aber schmelzen gewissermassen das Telefon,
das Internet, die e-mail-Möglichkeit, das Radio und das Fernsehen
mit dem Computer zusammen in ein allgemeines, aber nach allen Seiten
offenes System, das in seinen verschiedenen Dimensionen gar nicht mehr
vernünftig definierbar, sondern nur unter den Möglichkeiten
im Markt ausprobierbar ist. Der Vorgang scheint der eines gigantischen
Ausreizens zu sein, jeder und jede versucht Terrain zu besetzen oder
Nischen zu füllen. Das Verwirrende besteht darin, dass bisher getreulich
etablierte Grundsätze plötzlich nicht mehr gelten und dass
Kommunikation, die früher als die Magd des Handelns galt, das Handeln
an sich gerissen zu haben scheint und dafür die höchste Rangstufe
in Anspruch nimmt. Wieder wissen wir nicht, wohin uns diese Veränderung
bringt.
Ich muss mich auf die ganz persönlichen und eigenen Erfahrungen
besinnen. Bei der Gründung der Werbeagentur besorgte am Anfang ein
Herr Enz unsere Buchhaltung; er war ein pensionierter, kaufmännisch
ausgebildeter Herr, der es sinnvoll fand, jungen Leuten bei der Firmengründung
mit seiner Erfahrung beizustehen. Er hatte eine klare und schöne
Schrift, mit der er seine Durchschreibe-Buchhaltung führte. Als
die Agentur grösser wurde, war er zu unserem Bedauern bald einmal überfordert,
wir brauchten einen eigenen Chef für das Finanz- und Rechnungswesen.
Es war der 1956 aus Ungarn geflohene Laszlo Alföldi. Da wir für
IBM Werbeaufträge auszuführen hatten, war es naheliegend, dass
wir uns bei dieser Firma nicht nur um elektrische Schreibmaschinen, sondern
auch um Buchhaltungsmaschinen bemühten. Es dauerte nicht lange,
so zählten wir zu den ersten Betrieben in Basel, die mit Lochkarten
arbeiteten, und bald einmal sassen eigentliche Datentypistinnen unter
uns, die Belege auf Lochkarten übertrugen. Noch gab es keine Personal
Computer. Zuerst kamen die zentralen Computersysteme, mit denen in der
Agentur nur speziell ausgebildete Leute umzugehen wussten; das Aufkommen
der PC’s habe ich in der Agentur nicht mehr erlebt, sondern erst
im Nachfolgebüro, wo wir die ersten Gehversuche im sogenannten Desktop
Publishing machten.
Und nun das Merkwürdige: Gehe ich heute auf das Staatsarchiv, so
kann ich mir von Hand geschriebene Geschäftsakten und Buchhaltungen
aus dem 16. und 17. Jahrhundert vornehmen und, falls ich die Schriften
zu lesen weiss, auch in ihrer ökonomischen Tragweite zu begreifen
versuchen. Was aber mache ich mit den Buchhaltungsdaten aus der Zeit
vor 35 Jahren? Nicht nur sind die Lochkarten schon seit langem entsorgt,
sondern es gibt die Sortier- und Lesegeräte, mit denen sie ausgewertet
werden könnten, längstens nicht mehr. Auch die zentralen IBM-Rechenanlagen
mit ihren Magnetbändern sind verschwunden. Der PC als Arbeitsinstrument
hat einen riesigen Gerätepark obsolet gemacht; das zentrale und
wichtigste Objekt, nämlich der Datenträger selber, ist in seiner
Urform unlesbar geworden. Der Fortschritt hat den Fortschritt verschlungen.
Das halbe Jahrtausend nach der Erfindung Gutenbergs im mitteleuropäischen
Raum zeichnet sich dadurch aus, dass sich der Buchdruck dank der wachsenden
Zahl von Bastlern von einer „Aventure“ zu einer raffinierten
handwerklichen Kunst entwickelte; dagegen liegt die Bedeutung der Kommunikationstechniken
aus dem letzten Viertel des 20. Jahrhunderts darin, dass jede technische
oder programmliche Entwicklung die vorausgehenden ausser Kurs setzt.
Dieser Umbruch im Kommunikationswesen hat die Arbeitsteilung zwischen
Bild, gesprochenem und geschriebenem Wort radikal verändert. Aber
auch das Texten und das Schreiben selber sind anders geworden. Dank Druckern
und Kopiergeräten ist das Korrigieren, Ergänzen, Kürzen,
Auszeichnen und Vervielfältigen alltäglich, fast banal geworden.
Früher war die endgültige Version eines Textes von einer gewissen
Feierlichkeit umgeben, die ist heute weg. Noch eine Minute vor Sitzungsbeginn
lässt sich eine Traktandenliste ändern, oder es kann der Fraktionspräsident
in einem Parlament noch während der Sitzung den Resolutionstext
umschreiben, der Parlamentsdiener wird ihn fünf Minuten später
auf allen Plätzen verteilen.
Zugleich ist das Texten selber zielgerichteter geworden. Natürlich
haben die Leute schon immer im Hinblick auf einen Verwendungszweck geschrieben,
eine Postkarte ist etwas anderes als ein Romanentwurf, ein Testament
oder eine Beschwerde beim Amt. Aber dank der vermehrten Beweglichkeit
in der Textverarbeitung prägt sich ein verwendungsspezifisches Schreiben
spürbar deutlicher aus. Ein Dialog auf e-mail läuft anders
als ein Briefwechsel, hat eine andere Gewichtigkeit, lockt einen anderen
Stil heraus. In der Wahrnehmung und der Anmutung sind ein Blatt Papier
und der Bildschirm extrem verschiedene Objekte. Sie sind es nicht nur
im jeweiligen Erscheinungsbild eines Textes, sondern beginnen sich auch
in der Textstruktur und im Sprachmaterial zu unterscheiden. Eine gut
geschriebene Homepage im Internet unterscheidet sich nicht nur im Aufbau
von einem Warenprospekt, sondern verwendet, wenn sie klug konzipiert
ist, auch eine andere Art von Sprache.
In einer Zeitung muss es sich der Journalist genau überlegen, wenn
er den Leser oder die Leserin direkt in der Sie-Form anreden will. Die
direkte Anrede in der Zeitung ist die Ausnahme und überlebt am ehesten
in der Ratgeberecke. Im Internet ist die direkte Anrede ein ganz und
gar gebräuchliches Mittel und wechselt in Publikumsforen oder Chatrooms
problemlos sogar vom Sie zum Du. Wenn ich von einem Berufskollegen, einer
Respektsperson oder einem Unbekannten einen Brief erhalte, darf ich in
der Regel annehmen, dass er fehlerfrei geschrieben ist, eventuelle Fehler
sind Missgeschicke. Wenn die gleiche Person mir einen e-mail schickt,
komme ich gar nicht dazu, auf Fehler zu achten. Denn das e-mail wird
möglicherweise gar nicht ausgedruckt, nur auf dem Bildschirm rasch überflogen,
es verweht sozusagen. Auch wenn oder eben weil es einen starken emotionalen
Inhalt zum Ausdruck bringt. Und in die Aktenablage kommt es nur ausnahmsweise
oder bei juristisch relevanten Themen.
Im Nachlass meiner Eltern fand ich ganze Pakete von verschnürten
Briefen ihrer Eltern und aus der Korrespondenz mit Freunden und Verwandten.
E-mails sammelt so getreulich wahrscheinlich niemand mehr, ein wachsender
Anteil von e-mails wird gar nicht mehr ausgedruckt. Ich denke daran,
was für eine grosse Mühe man sich mit der Bearbeitung und Herausgabe
der Korrespondenz eines Karl Viktor von Bonstetten, Peter Ochs oder Heinrich
Zschokke macht, wie entschieden das historische und literarische Verständnis
für solche Personen von ihren und den an sie gerichteten Briefen
lebt. Ich vergesse nicht, wie sich in den Briefen Jacob Burckhardts das
Wesen dieses im geselligen Verkehr wahrscheinlich eher verschlossenen
Menschen plötzlich öffnet und wundersame Blüten entwickelt;
ich erinnere mich an meinen italienischen Glaubensflüchtling Celio
Secondo Curione, dessen Alltag ich anhand seiner Briefe manchmal fast
lückenlos über ganze Folgen von Tagen rekonstruieren konnte.
Wird das später einmal auch noch für die Menschen des 21. Jahrhunderts
gelten? Oder sorgen die neuen und ganz anderen Kommunikationstechniken
dafür, dass abgelegte Briefe nur noch von einer Welt von gestern
künden?
Dann gibt es die Veränderungen im Alltag, die sehr banalen aber
nützlichen, weil plötzlich etwas möglich geworden ist,
das vorher unmöglich war. Das sind zum Beispiel Fotos mit der Polaroid-Kamera,
Instant-Fotos, Sofortbilder. Eine Erinnerung an den geselligen Anlass,
das Dokument einer Arbeitsstufe, das Beweismittel im Versicherungsfall.
Ich habe das Aufkommen der dreipoligen elektrischen Stecker erlebt, die
Verwandlungen des Grammophons zum CD-Player verfolgt mit den Platten,
die zuerst 78, später 33 und dann 45 Umdrehungen leisteten. Im Büro
gab es plötzlich farbige und durchsichtige Mäppchen aus Kunststoff,
im Supermarkt tauchten zuletzt die Pet-Flaschen aus durchsichtigem Plastik
auf. Brillengestelle, ob aus Kunststoff oder Metall, waren über
eine lange Zeit problematisch, weil sie gern zerbrachen und es darin
den Brillengläsern gleich taten. Wie unglaublich leicht und dauerhaft
und kaum mehr zerbrechlich sind Brillen unterdessen geworden!
Oder noch viel banaler: Auf dem WC fand sich in den dreissiger Jahren
Papier für das grössere Geschäft, meistens in Form von
zerschnittenen Zeitungen; das Örtchen, in dem bogenweis verschränktes
Toilettenpapier in einem speziellen Kästchen zu finden war, gehörte
bereits zu den vornehmeren, es gab auch schon Rollen mit einzeln abreissbaren
Stücken. Aber diese Papiere waren hart und glatt, knisterten bestenfalls.
In der Regel waren sie von einer leicht gelblich-braunen Färbung.
Weiche Papiere hingegen, die nicht mehr knisterten, tauchten erst nach
dem Zweiten Weltkrieg auf – vielleicht weil die Amerikaner das
so wollten? Später bekamen wir in der Küche die ungefähr
30 Zentimeter langen Papierrollen aus weichem Wegwerfpapier auf einer
Kartonröhre, für die Küchengeräte-Hersteller endlich
sogar spezielle Auffangmulden entwarfen. Sie sind geradezu menschenfreundlich
praktisch, weil sie als einmaliger Putzlappen, als Serviettenersatz,
als Abtrocktüchlein oder sogar als Nastuch tauglich sind. Keine
Erfindung, keine Entdeckung, kein Durchbruch – aber würde
es sie morgen nicht mehr geben, müssten wir sie bitter vermissen.
Einer meiner Vettern, Ulrich Binder, war Ingenieur und arbeitete bei
einer Aluminium-Firma in der Ostschweiz. Eines Tages, kurz vor dem Zweiten
Weltkrieg, kam er vorbei und zeigte ein denkbar flach und dünn gewalztes
Stück Aluminium, das auf einer Kartonröhre aufgerollt war.
Das gibt, sagte er, eine Folie aus Aluminium, die man dann für alles
mögliche im Bereich der Küche, des Haushalts, der Körperpflege
etc. verwenden kann. Es tönte so vielversprechend – und war
es auch. Heute sind Alu-Folien banaler Alltag. Im eigenen Eisschrank
konkurrieren sie mit durchsichtigen Kunststoff-Folien, die sich sehr
praktisch über kleine Schalen oder Suppenteller spannen lassen.
Sie alle gab es vor der Mitte des 20. Jahrhunderts nicht. Gelegentlich
habe ich den Eindruck, in der zweiten Lebenshälfte sei ich in ein
eigentliches Folien-Zeitalter geraten: Folien an den Wänden, an
den Decken, gegen die Feuchtigkeit, in der Erde, im Büro, auf Verpackungen,
anstelle von Briefkuverts, zum Abdecken und Isolieren. Ich weiss noch,
wie ich in den fünfziger Jahren zum ersten Mal einen laminierten
Buchumschlag sah und beeindruckt war.
Überhaupt die Kunststoffe! Der Veteran hiess Bakelit und war möglicherweise älter
als ich selber, war uns bekannt in der Form zum Beispiel der Zitronenpresse.
Bakelit war hart, gut formbar, aber nicht sehr bruchresistent. Es war
der wichtigste, in meiner Erinnerung sogar einzige Kunststoff aus der
Vorkriegszeit. Unterdessen ist da eine Welt für sich entstanden
und aufgeblüht, eine zweite synthetische Natur, deren Umfang und
Differenziertheit keiner mehr überblickt. Sichtbar in Erscheinung
trat sie nach dem Krieg mit den Nylon-Strümpfen, später mit
den reflektierenden Oberflächen, zum Beispiel auf Verkehrszeichen
oder Schutzanzügen. Als ich noch bei Geigy arbeitete, lernte ich
die optischen Aufheller der Marke Tinopal kennen – weniger ein
Kunststoff als ein Zusatz, der Textilien im ultravioletten Licht eine
Künstlichkeit gab, die sich nicht mehr übersehen liess. Welcher
Anteil an Kunstfasern heute in einem textilen Erzeugnis steckt, lässt
sich mit feinen Fingerspitzen kaum mehr erfühlen, auch erfahrene
Leute schauen lieber auf dem Etikett nach.
Aus meiner Lebenszeit stammt auch die Erfindung der Spraydose. Parfum-Verstäuber
gab es gewiss schon früher, sicher bereits im 19. Jahrhundert. Die
hatten kleine, mit einem kordelartigen Gewebe umgebene Gummibälle,
die man drücken musste, damit die Parfumwolke austrat. Die Spraydose
hatte keinen Druckkörper mehr; sie war für alles nützlich
und verwendbar: Desinfektionsmittel, Medikament, zur Schädlingsbekämpfung,
zum Einfärben, zum Grundieren, zum Lackieren, zum Isolieren. Sie
ist in der Hand von Graffiti-Künstlern und Protestbewegungen zu
einem politischen Instrument geworden, mit dem die Industriegesellschaft
sich selber zu bestrafen scheint: An die Mauern um die Forschungs- und
Produktionsstätten, in denen Pigmente entwickelt und die Ventil-
und Gasdrucktechniken von Spraydosen ausprobiert werden, sprayen die
jungen Leute, die sich ausgeschlossen fühlen, ihre Protestparolen
genau mit den Instrumenten, an deren Perfektionierung die Instanzen hinter
der Mauer arbeiten. Sie ersetzen aus moralischen Gründen nur das
verpönte FCW-Gas durch andere Treibstoffe und freuen sich an einem
solide etablierten Markt.
Ich sollte auch davon reden, wie sich während meiner Lebenszeit
die Speisen im Restaurant verändert haben und wie in den Haushalten
selber eine andere Art zu kochen entstand. Was war der Grund für
diese Veränderungen? Zum einen die Gerätetechnik, zum andern
Marktöffnungen und Angebotsverschiebungen dank Immigranten, dann
die sich ablösenden Ernährungstheorien, wenn nicht wechselnde
Ernährungsmoden, zu denen zum Beispiel die Pizza gehört. Eine
(späte) Mode waren ebenso die Fast-Food-Restaurants der Marke Wienerwald
und McDonald. Ueli Prager, der Gründer der Firma Mövenpick,
war in der Schweiz wohl die Person, die für die Veränderungen
im Gastro-Bereich die feinste Nase hatte. Er war darin mit Gottlieb Duttweiler
zu vergleichen, der ein Meister darin war, amerikanischen Errungenschaften
eine schweizerische Prägung aufzudrücken.
Die Küchenausstattung meiner Mutter im Zweiten Weltkrieg bestand
aus Pfannen und Töpfen, Messern, Raffeln und Stösseln, Kellen,
Schöpfern und Walholz, Sieben und Schwingbesen, dazu einem Krauthobel
und einer Zitronenpresse, viel mehr war es nicht. Kein Schüttelbecher,
kein Mixgerät, keine Teflon-Bratpfanne, kein Gerät, das Teig
knetet, kein Dampfkochtopf, keine elektrische Kaffeemühle und kein
Römertopf. Ein Eisschrank kam erst nach dem Krieg in die Küche,
und eine Geschirrspülmaschine sowie ein Schrank für tiefgekühlte
Lebensmittel waren pure Wunschträume. Noch gar nicht vorstellbar
waren Geräte, dank denen sich Mayonnaise schlagen, Gemüseteile
in der Suppe zerkleinern oder Zwiebeln und Kräuter unterschiedlich
fein zerhacken liessen. Ein elektrischer Herd, der sich exakt auf 60
oder 200 Grad einstellen liess, in dem die heisse Luft heftig zirkulierte
oder die Käseschnitte von oben grilliert werden konnte, musste erst
erfunden werden.
In Mutters Küche wurde mit Butter oder ausgelassener Butter gekocht,
heute geschieht das mit Öl. Dass man am offenen Markt mehr als zehn
verschiedene Sorten Oliven kaufen könnte, war nicht vorstellbar.
Als Gewürze und Kräuter galten Zwiebeln, Pfeffer, Muskatnuss,
Nelken, Schnittlauch und Petersilie; Safran, Koriander, Curry, Cardamon
oder gar Ingwer waren unbekannt. Rosmarin und Thymian sowie Basilikum
galten bereits als Exoten. Wenn ich heute den Küchenschrank öffne,
finde ich nur ausnahmsweise oder gar nicht mehr Haferflocken und gelbe
Erbsen, Linsen sind selten oder nur in der Form von grünen oder
den kleinen rötlichen sichtbar, dafür sehe ich drei verschiedene
Reissorten und kleine Flaschen mit Soja-Saucen oder Balsamico-Essig.
Ich esse, genau betrachtet, fast völlig anders als vor 50 Jahren.
Wenn man ist, was man isst, sind wir ziemlich andere Menschen geworden.
Neuerdings braucht Gisela die asiatische Wok-Pfanne für die Zubereitung
von Gemüsen, das schmeckt sehr gut.
Heute ist die Pizza, um 12.30 Uhr noch ofenwarm durch einen Kurier im
Büro abgeliefert, eine Selbstverständlichkeit. Sie tauchte
als ein Folgeprodukt der italienischen Einwanderung zuerst in Restaurants
auf, die sich bald einmal Pizzeria nannten. Dann spezialisierten sich
kleine Betriebe darauf, das verhältnismässig einfache Produkt
zu den einzelnen Abnehmern zu verteilen. Es war die gleiche Zeit, da
in den Städten die Velo-Kuriere Verteilfunktionen übernahmen.
Diese haben unterdessen entdeckt, wie sich ihre Abrufbarkeit mit Mobiltelefonen
verbessern lässt. Neue Medien als Geburtshelfer einer neuen Mobilität – da
fällt mir auch ein, wie in den Taxis über Funk plötzlich
die Stimme der zentralen Einsatzleitung zu vernehmen war. Das muss Anfang
der sechziger Jahre gewesen sein. Heute sind diese Stimmen verstummt;
ein kleines Display sagt dem Chauffeur die nächste Andress, die
er ansteuern soll.
Arbeit, will mir scheinen, hat in meiner Lebenszeit einen anderen Geschmack,
eine andere Qualität und Tragweite bekommen. Dass Arbeit darin bestehen
könnte, Pizzas über die Mittagsstunde kreuz und quer durch
eine Stadt zu verteilen oder am Funkgerät herumfahrende Taxis zu
den Kunden zu dirigieren oder mit der Hilfe von Velofahrern Dokumente
und sonstige Objekte von einer Hausnummer zur anderen zu transportieren,
wäre in der Zwischenkriegszeit kein Thema unter dem Stichwort „Arbeit“ gewesen.
Man hätte es sich auch nicht vorstellen können. Arbeit war
noch Pflichterfüllung, Auftragstreue in einem vorgesehenen Zeitrahmen,
angesichts der Wirtschaftskrise oft eine armselige Plackerei. Der grosse
Luxus war der vorverlegte Arbeitsschluss am Samstagnachmittag. Dass die
Arbeitswoche nur noch fünf Tage umfassen könnte, hörte
sich 1938 geradezu exotisch an.
Drei Dinge haben die Arbeitswelt nach meiner Beobachtung verändert:
die fünf-Tage-Woche, die Betriebskantinen (in den grösseren
Firmen oder Institutionen) und die gleitende Arbeitszeit. Die fünf-Tage-Woche
bekam nach dem Zweiten Weltkrieg die Bezeichnung einer „englischen“ Arbeitszeit,
war also ein Teil jener Modernität, die man dem Sieger in einem
Krieg zubilligt. Der Verweis auf England hatte den Vorteil, dass die
fünf-Tage-Woche keine gewerkschaftliche Forderung darstellte, sondern
eher auf die Einsicht der Fabrikherren und ihrer Manager zurückging,
die am freien Samstag auch lieber Rebhühner jagen wollten. Als ich
bei Geigy zu arbeiten begann, gab es noch kein Personalrestaurant; als
ich die Firme wieder verliess, waren die entsprechenden Planungen schon
angelaufen. Unvermeidlich war, dass die zeitlich kürzere Verpflegung
im Personalrestaurant auch die Dauer der Mittagspause verkürzte,
somit rückte der Zeitpunkt des Arbeitsschlusses nach vorn. Also
durfte man sich zu überlegen beginnen, ob eine auf die Bedürfnisse
des Mitarbeiters und der Mitarbeiterin angepasste Arbeitszeit nicht überhaupt
sinnvoller wäre; der Begriff der „gleitenden“ Arbeitszeit
gab darauf eine Antwort.
Der nächste grosse Schritt, den wir noch nicht richtig hinter uns
gebracht haben, ist die dank Computer, Internet und e-mail dezentralisierte
Arbeit zu selbst gewählten Zeiten. Über Fernmeldenetze entsteht
eine mit sich selber online kommunizierende Arbeitsgemeinschaft, deren
Zusammenhalt nur noch durch die Aufgabenstellung und die Renumerationsansätze
gegeben ist. Sozusagen im Nebeneffekt wird Teilzeitarbeit möglich,
mit ihr das Job-Sharing, bei dem sich zwei oder mehr Personen in eine
Arbeit teilen. Hätte 1950 jemand gesagt, dass zwei volle Arbeitsplätze
durch fünf Personen zu 60, 50, 40 und zweimal 25 Prozent erfüllt
werden, man hätte ihn für übergeschnappt betrachtet. Heute
hat eine normale kantonale Verwaltung erheblich mehr Mitarbeiterinnen
und Mitarbeiter als volle Arbeitsplätze.
Wo die Kräfte zu suchen sind, die solche Veränderungen bewirkt
haben, ist nicht einfach zu sagen. Hat sich die Art der Arbeit in den
Büros und dann sogar in den Fabrikationsräumen selber verändert?
Was haben gewerkschaftliche Forderungen bewirkt, welche Art von Übereinstimmung
gesellschaftlicher Natur ergibt sich zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern,
was ist einfach nur Mode oder Trend? Inwiefern sind die alten Hierarchien
zwischen Vorgesetzten und Mitarbeitern dahingeschmolzen, welche Zwänge üben
die motorisierte Mobilität und zyklisch auftretende Mitarbeitermängel
aus? Alle denkbaren Kausalitäten sind, eine jede für sich,
schon erstaunlich komplex, und ihr Zusammenspiel ist kaum mehr definierbar.
Sicher ist nur: Die Arbeitswelt nach 2000 ist eine fast völlig andere
als die aus dem Jahr 1950.
Und wie war das mit den Kleidern? Ich klettere in meiner Erinnerung
möglichst weit zurück und finde eine von Hand gestrickte Unterhose,
die an der richtigen Stelle ein kleines rundes Loch hatte, aus dem das
Knäblein sein Wasser lösen konnte. Ich finde eine Art Schürze,
die ich für den Kindergarten anziehen sollte, aber lieber im Erdgeschoss-Korridor
des elterlichen Pfarrhauses an den Nagel hängte. Ich finde ein nur
bis zur Taille reichendes kurzes Hemd, das etwa sechs Knöpfe am
unteren Saum aufwies, dank denen sich die mit sechs Knopflöchern
versehene kurze Hose anknöpfen liess. Auf dem Weihnachtstisch lag
einmal ein kurzärmliges Hemd, eine Art von Hirten- oder Älplerbluse
aus solidem hellbeigen Stoff, um dessen Knopfleiste, die auf halber Brusthöhe
aufhörte, ein Herz aus verschiedenfarbigen Fäden gestickt war,
mein Monogramm stand prunkend in der Mitte. Es machte mich unheimlich
stolz: ein richtiges Hirtenhemd, das man sogar für einen Alpaufzug
hätte anziehen können!
Ich trug kurze Cordhosen von blauer Farbe, Pfadfinderhosen eben. Und
gelegentlich, aber nicht zu häufig, Knickerbocker aus braun-weiss
gesprenkeltem Stoff. Die überfallende Hose konnte ich unter dem
Knie mit einer kleinen Schnalle oberhalb der Wade festzurren, aber ich
wollte mir in dieser Aufmachung nicht recht gefallen. Dass die Knopfleisten
der Hemden spätestens auf Bauchnabelhöhe abgeschlossen waren,
weiss ich darum so genau, weil mir das erste Hemd, das von oben bis unten
aufknöpfbar war, modern und geradezu avantgardistisch vorkommen
wollte. War das die amerikanische Art, Hemden zu schneidern? Den Hosenschlitz
schloss man gewöhnlich mit vier oder fünf Knöpfen – plötzlich
ging das nun viel praktischer mit Reissverschlüssen. Das war nach
dem Zweiten Weltkrieg – vielleicht wieder amerikanischer Einfluss?
Lange Hosen bekamen die jungen Leute in der Regel erst mit der Konfirmation,
sie hatten unten einen etwa zwei Zentimeter breiten Aufschlag, der dazu
führte, dass viel Strassenstaub oder Erdreste in der untersten Falte
steckenblieben. Wiederum nach dem grossen Krieg kamen die langen Hosen
ohne jeden Um- oder Aufschlag auf den Markt; solche Hosen trugen die
amerikanischen GI’s, die in der Schweiz Urlaub machten. Es muss
in den fünfziger Jahren gewesen sein, anlässlich einer Ferienwoche
im Toggenburg, dass der eingeladene amerikanische Komponist Earle Brown
sich Skier im Dorf mietete und dann in Blue Jeans die Abfahrt vom Gamserruck
hinter sich brachte. Skihosen waren in meiner Vorstellung aus solidem
Wollstoff oder einer starken Gabardine, aber doch nicht Baumwoll-Jeans!
Nur dass diese Amerikaner eben alles anders machten.
Überlege ich mir diese Veränderungen, so stehe ich plötzlich
unter dem Eindruck, dass sich die innere Orientierung des Kleidertragens
mehr verändert hat als das äussere Erscheinungsbild. Bis zum
Zweiten Weltkrieg versuchten die jungen Leute, in ihrer Bekleidung erwachsener
auszusehen, als sie es waren. Mit dem Beginn der fünfziger Jahre
begann sich das zu kehren; nun wurde es interessant, seine Generationen-Zugehörigkeit
nach unten auszurichten. Als bestandener Mann mit Jacke und Veste, steifem
Kragen und ernster Kravatte aufzutreten, war für einen Zwanzigjährigen
nicht mehr attraktiv; erstrebenswert erschien es für einen Mitfünfziger,
sportlich und locker zu wirken und unter der Freizeitjacke ein offenes
Hemd mit unterlegtem Halstuch zu zeigen.
Das grosse Rollenspiel der Männermode aus dem 19. Jahrhundert,
das darin bestand, durch die Kleidung Stand, Rang und Funktion zu signalisieren,
hat sich totgelaufen. Heute bringen wir in der Art unserer Bekleidung
eher persönliche Launen und Zugehörigkeiten kultureller Natur
zum Ausdruck, somit hat sich auch das, was als gesellschaftliche Etikette
einst befolgt werden wollte, weitgehend aufgelöst.
Dann das Auto.
Es war schon erfunden, als ich auf die Welt kam. Aber es dominierte
den Verkehr noch nicht, auf dem Land waren in meiner Kinderzeit Automobile
nur gelegentliche Begegnungen.
Eine Erinnerung meiner Mutter: Ihr Vater und mein Grossvater Emil Scheller
sagte leichthin, die Autofahrer seien alle verrückt. (Das war zur
Zeit des Ersten Weltkrieges.) Es hinderte ihn nicht, am Kreuzplatz in
Zürich eine der frühsten Tankstellen einzurichten und als Inhaber
einer Handelsfirma den Verkauf von Benzin für Automobilisten zu übernehmen
und damit Geld zu verdienen. Wahrscheinlich schon Ende der zwanziger
Jahre war er selber Automobilbesitzer geworden. Er schaffte sich nicht
nur einen Wagen der Marke Cadillac an, sondern engagierte auch einen
Fahrer mit dem Namen Ernst Lüthi, der sich mir, dem noch nicht zehnjährigen,
gegenüber feierlich als Sozialdemokrat bekannte und zwischen den
Fahrten in die Stadt den Garten besorgte. Herr Lüthi, wie er von
allen gerufen wurde, trug bei der Ausfahrt eine graue Uniform mit kleinen
Glasperlen am Rand des steifen Kragens. Wenn er am Morgen an den Frühstückstisch
trat, an dem Grossmutter häufig allein sass, nachdem ihr Mann Richtung
Büro verschwunden war, hatte Herr Lüthi die steife Mütze
unter den linken Arm geklemmt und fragte nach den ordres für den
angebrochenen Tag.
Von Grossvaters Auto sind mir ein paar Details geblieben. Das Abteil
des Fahrers war vom Raum für die Passagiere durch ein verschiebbares
Glas getrennt. Der Passagierraum selber war für vier Personen gedacht,
da zwischen der rückwärtigen Bank und dem Abteil für den
Fahrer noch zwei Klappsitze angebracht waren. Neben ihnen hingen an der
Seitenwand prächtig dicke Kordeln, an denen die Passagiere auf den
Behelfssitzen sich festhalten konnten. Eine elektrische Scheibenwaschanlage
besass das Auto noch nicht; wenn es regnete, wurden Ausfahrten problematisch,
oder es musste Herr Lüthi immer wieder anhalten, um die Scheibe
im Handbetrieb abzuwischen. Ich sehe auch noch die gerillten Trittbretter, über
die wir in den hohen Wagen kletterten.
Ein anderes Auto – ich glaube, es war ein Fiat – brachte
der Bruder meines Vaters, der Apotheker und Ameisenforscher Heinrich
Kutter, in den dreissiger Jahren in unsere familiäre Nähe.
Es war kein Luxus- oder Prestigeobjekt, sondern eine berufliche Notwendigkeit,
weil Onkel Heini als Fachmann für Insektenbekämpfung ein Automobil
brauchte, um die Erbsenplantagen im Rheintal und Thurgau zu besuchen.
Gelegentlich nahm er uns Kinder auf eine solche Ausfahrt mit. Wie schnell
fährt dein Auto? Kommst du auf über 100 km/h? Wir bettelten
solange um einen Geschwindigkeitsrausch, bis er auf einer geraden Strasse
in der Rheinebene die Tachonadel endlich zitternd auf die Marke 100 hochtrieb.
Im Krieg 1939-45 begann so etwas wie das Autosterben. Im Frühjahr
1940 – wir waren schon nach Basel übersiedelt – waren
Autos für die plötzliche Evakuierung vor der deutschen Bedrohung
Richtung Vierwaldstättersee oder Emmental unverzichtbar und entsprechend
Gegenstand des Neides, aber dann setzten bald Vorschriften und die Benzinrationierung
jeglichem Automobiltourismus ein Ende. Von Automobilen gesäumte
Strassenseiten, wie wir sie seit Jahrzehnten hinzunehmen gewohnt sind,
waren nicht einmal denkbar. Der Vater meines Schulbanknachbars Peter
Max, ein Herr Dr. Richard Suter, war der entscheidende Mann im grössten
Garagenbetrieb Basels, der Garage Schlotterbeck. Er sagte mir nach dem
Ende des Krieges, als wir uns einmal über die Schwierigkeiten des
Autohandels während der Kriegsjahre unterhielten, vor welcher Alternative
er damals gestanden wäre: Entweder gewinnt Hitler den Krieg, dann
sind wir mit einer Grossgarage und der Vertretung der Marke Citroën
sowieso so aufgeschmissen, dass ich mir etwas anderes einfallen lassen
muss. Oder Hitler verliert, und dann wird schon wenige Tage nach der
Kapitulation die Nachfrage nach Automobilen ins Unermessliche steigen.
Darum kaufte ich ab dem zweiten Kriegsjahr jeden Wagen, den ich auftreiben
konnte, und wenn mir der Preis zu hoch erschien, brauchte ich nur zu
warten. Solange nämlich dieser Krieg dauerte, wurde jedes nicht
mehr gefahrene Auto fast täglich billiger.
Vater Suter füllte den stattlichen Rundbau der Garage – heute
steht sie nicht mehr – bis auf den letzten Quadratmeter mit meistens
zu Spottpreisen aufgekauften Occasionswagen. In den sonst unterbeschäftigten
Werkstätten liess er sie revidieren. Und als Hitler ihm die Freude
gemacht hatte, den Krieg zu verlieren, konnte er so gut wie alle gehorteten
Wagen verkaufen, da es nach dem Mai 1945 noch länger dauerte, bis
aus Frankreich, England oder Amerika wieder Automobile geliefert werden
konnten, von Italien und Deutschland ganz zu schweigen.
Meinen ersten eigenen Wagen kaufte ich, nachdem ich meine Stelle bei
Geigy angetreten hatte. Es war auch eine Occasion aus der Grossgarage,
ein kleines englisches Fahrzeug der Marke, Triumph die es schon lange
nicht mehr gibt. Insgesamt habe ich bis zum Tag, da ich der Augen wegen
meinen Führerschein zurückgab, mindestens sieben Automobile
hintereinander besessen, vom dritten Wagen an immer der Marke Citroën,
deren innovatorische Laune mich entzückte.
Das Auto als Instrument der Bewältigung von Distanzen: Vom Vorstadtdorf
in die Stadt fuhr ich als Schüler mit der Trambahn, der Eisenbahn
oder mit dem Fahrrad. Auf dem letzteren schaffte man in einer Stunde
zwischen 20 und 25 km, also in einem halben Tag um die 100 km oder etwas
darüber. Ferien erlebte ich immer mit der Eisenbahn und – im
Toggenburg – mit dem Postauto, das die Landschaft anders vermittelte
als der Bahnwagen auf seinen Geleisen. Für die Übersiedlung
von St. Gallen nach Basel nahm ich das Fahrrad, ich wollte diese mein
Leben verändernde Distanz in eine andere und grössere Stadt
selber schaffen. Es war das erste Kriegsjahr, die grossen Strassen von
St. Gallen Richtung Zürich und dann von Winterthur zum Rhein hinunter
waren so gut wie autofrei. In der Gegend von Wil, wo die Strasse über
längere Distanz sanft absinkt, war ich ganz allein, das gab ein
merkwürdiges Gefühl, in die Welt hinausgeweht zu werden. Als
ich dann während der Kriegszeit in Basel zur Schule ging, war das
praktisch eine Fahrrad-Stadt; es schien fast mehr Lastwagen als Personenwagen
zu geben. Langsam kamen die Automobile mit angebauten Holzvergasern im
Heck auf, groteske Fortbewegungsmaschinerien, die einer ständigen
Wartung bedurften. Um 1950 unternahm ich erstmals eine Ferienreise im
Auto mit einem Kollegen und zwei Kolleginnen nach Frankreich. Selber
hatte ich noch keinen Führerschein, wurde also gefahren, was insofern
attraktiv war, als wir zu viert in einem amerikanischen Cabriolet herumkutschierten.
Wir hatten uns die Loire-Gegend ausgesucht, fuhren von einem Schloss
zum anderen. Ich erlebte zum ersten Mal, wie das Auto Örtlichkeiten
und Dinge, die zu erreichen sonst sehr mühsam war, plötzlich
heranholte und Distanzen reduzierte. Es machte Landschaften und ganze
Gegenden sozusagen unerheblich, sie waren nur noch Strassen mit etwas
Kulisse auf beiden Seiten. Im Besitz eines eigenen Wagens musste ich
das weiter ausprobieren; die auf dem Fahrrad tagelange und -breite Schweiz
schnurrte plötzlich auf eine Stundengrösse zurück.
Noch (und noch für längere Zeit) gab es keine Autobahnen;
vor dem Krieg hatte man keine gebaut, wollte es auch nicht so machen
wie Hitler in Deutschland, und die für den Strassenbau zuständigen
Kantone konnten sich für ein die ganze Schweiz umfassendes Vorhaben
nicht einigen. Für Autobahnen schien das Land einfach zu klein.
Fuhr einer geschickt und mit der notwendigen Rasse, liess sich Basel-Zürich
noch immer in einer Stunde schaffen. Allerdings galt das gerade noch
Anfang der fünfziger Jahre, gegen Ende dieses Dezenniums musste
schon mit gegen anderthalb Stunden gerechnet werden, und das Leben in
den Strassendörfern vor und hinter dem Bözberg war nicht mehr
lustig.
Typisch schweizerisch kam es mir vor, dass es in der amtlichen Sprache
keine Autobahnen, sondern nur „Nationalstrassen“ gab, nachdem
zuerst in einem längeren Prozess die gesetzlichen Grundlagen geschaffen
werden mussten. Die ersten Autobahnstücke entstanden in der Umgebung
von Bern. Die Landesausstellung Expo 64 in Lausanne machte es dann allen
Leuten bewusst, dass die Schweiz begonnen hatte, ein Land der Autobahnen
zu werden, nachdem auf diesen Anlass hin das grosse Teilstück Genf-Lausanne
(und eines der schönsten!) fertiggestellt worden war. Das am äussersten
Rand der Schweiz gelegene Basel musste wieder einmal warten, bis die
Geschäfte im Mittelland erledigt waren. Aber der Ausbau der deutschen
Autobahn von Karlsruhe her, über den in den Basler Zeitungen immer
wieder berichtet wurde, schuf eine Art von Erwartungshaltung bei den
Leuten, die jetzt jedes Jahr neu zu den Automobilisten stiessen.
Das (immer schnellere, sichtbar bessere, zunehmend billigere) Automobil
samt den Autobahnen, Autostrassen, der Tankstellen-Infrastruktur und
den unlösbaren Parkierproblemen hat nicht nur die Schweiz, sondern
ganz Europa in weniger als 50 Jahren verändert. Was waren, nach
dem Ende des Krieges, eine Eisenbahnfahrt die Nacht hindurch Richtung
Paris oder die Einfahrt in ausgebombte deutsche Bahnhöfe! Welchen
Kontrast boten 30 Jahre später eine Autofahrt durchs Ruhrgebiet,
von Mailand an Bologna vorbei Richtung Florenz oder die Umfahrung von
Paris auf dem Autobahnring! Länder, Gegenden und Landschaften wurden „erfahrbar“,
die grossen Achsen zogen sich zusammen wie Gummizüge. Die Nachbarschaftsbereiche
ohne Autobahnen wie die Vogesen, einzelne Juratäler oder die Schwarzwaldhöhen,
die einst nur zu Fuss oder zu Pferd erschliessbar waren, wurden dank
neuen Autostrassen (übrigens auch gastronomisch) konsumierbar. Ihr
Abenteuerwert sank, ihr Unterhaltungswert stieg. Doch der Wert ihrer
Einzigartigkeit schwand, weil das Auto das Versprechen enthielt, sie
jederzeit aufsuchen zu können, wenn es einen gelüstete. Örtlichkeiten
waren verfügbar geworden, und zwar individuell, was den Unterschied
zur Eisenbahn schuf.
Das Flugzeug hat diese Asymmetrie in der Erreichbarkeit von Örtlichkeiten
nochmals übersteigert, nach Frankfurt, Mailand, Wien oder Paris
sind es kaum mehr Stunden. Auf meiner ersten Atlantiküberquerung
war das Meer noch fünf Tage breit, heute ist New York im Flugzeug
soweit weg wie Florenz im Automobil. Es war Ende der dreissiger Jahre,
dass Kinder am Rand von Zürich einen Rundflug von vielleicht einer
halben Stunde buchen konnten. Ich brannte darauf, mein etwas jüngerer
Vetter Thomas Freysz nicht weniger. Aber die uns ausführende Schwester
meiner Mutter, Tante Hedi, war kategorisch: Thomas dürfe auf keinen
Fall mit einem Flugzeug fliegen; sein Vater würde das nie und nimmer
gestatten, fliegen sei viel zu gefährlich. Für mich galt das
nicht, da meine Eltern gar nicht auf die Idee gekommen wären, dass
ich anlässlich von Ferien in Zürich ein Flugzeug besteigen
würde. Es war mein erster und letzter Kurzflug für viele Jahre,
bis dann, in den sechziger Jahren, die Herumfliegerei auf Kosten der
eigenen Firma begann.
Ist es möglich, dass das Aufkommen der Eisenbahn in den Briefen,
Erinnerungen und der Literatur mehr Spuren hinterlassen hat als das Auto,
vielleicht sogar das Flugzeug? Das Letztere wahrscheinlich nicht, aber
die Banalisierung dieser Beförderungsart ist schneller vorangeschritten
als jene der Eisenbahn. Howard Gossage hat folgenden Miniaturdialog in
einem Flughafen überliefert: „Was für ein Wochentag ist
heute? – Donnerstag. – Dann muss es San Francisco sein!“ Die
Unterschiedlichkeit der Städte ist der Auswechselbarkeit der Flughäfen
gewichen. Und noch etwas: Der erste Anblick eines Jumbo Jets mit Platz
für viele hundert Passagiere schuf bei mir kein Gefühl, als
wäre einmal mehr so etwas wie ein Durchbruch geschaffen. Der Anblick
war eher beelendend und untergründig beängstigend: so viele
Leute, und alle einer Technik ausgeliefert, die sie selber nicht beherrschen.
Ich habe nachgeschaut: In meinem Geburtsjahr 1925 wurde in Basel die
Balair gegründet, die 1931 mit der 1919 in Zürich gegründeten
Ad Astra zur Swissair fusionierte, deren Nachfolgegesellschaft heute,
da ich das schreibe, mit dem Namen Swiss herumfliegt. Die Anfänge
von Automobil und Flugzeug liegen eine Generation weiter zurück,
aber das Heranwachsen, die Ausbreitung und die Unentbehrlichkeit beider
Transportmittel hat sich zu meinen Lebzeiten ergeben. Ich hörte
aber auch in den letzten Kriegsjahren das nächtliche Grollen der
alliierten Bomber über Basel hinweg im Anflug auf deutsche Städte
wie Freiburg oder Dresden. Der Fortschritt trägt einen Januskopf.
Endlich gibt es Veränderungen, von denen wenig die Rede ist, weil
sie nicht sichtbar im Raum der öffentlichen Aufmerksamkeit stehen,
sondern nur persönlich und höchst privat erlebt werden. Was
für ein Schrecken war durch die ganze Kindheit, besonders im ersten
Schulalter, die Zahnärztin mit ihrem Folterstuhl und der Bohrmaschine,
die über ein System von Lederschnüren funktionierte und schon
ihr sägendes Geräusch hören liess, bevor der gerillte
Kopf den kranken Zahn abzuschleifen begann! Erst viel später war
davon die Rede, dass es auch Spritzen gäbe, mit denen man die Schmerzen
nicht mehr spüre. Die erste dieser Spritzen machte mir noch ein
krummes Gesicht für einen ganzen Tag. Aber die letzten Zahnarztbesuche,
die aus Gründen meines Alters in der Sache ja nicht problemloser
werden, sind von den Schmerzen und der Pein her eigentlich so harmlos
geworden, dass sie sich mit den kindlichen Erfahrungen überhaupt
nicht mehr vergleichen lassen. In den „Buddenbrooks“ von
Thomas Mann sind es mehrere Figuren, deren Leben fast teuflisch mit Zahnleiden
verknüpft ist. Geschrieben wurde der Roman zu Beginn des 20. Jahrhunderts;
wer 100 Jahre später (also heute) eine ähnliche Geschichte
schreiben möchte, dem müsste man raten, seinen Zahnarzt zu
wechseln.
Das gilt ja nicht nur für die Medizin der Zähne, es gilt noch
viel mehr für den ganzen Leib. Ich wurde an einer Diskushernie operiert,
habe links eine künstliche Hüfte, die abnehmende Sehkraft beider
Augen machte eine Graue Star-Operation nötig. Solche Eingriffe sind
kaum mehr interessant, weil man ständig Leute kennenlernt, denen
es nicht anders ging. Aber bei meiner Mutter war die gleiche Augenoperation
noch nicht möglich, und wenn man alte Familienfotos genauer anschaut,
entdeckt man fast immer schmerzgebeugte Hüftpatienten, gekrümmte
Rücken und den verzweifelten Griff zum Stock. Auch darum werden
wir heute älter: weil die Akzeptanz körperlicher Leiden nach
dem 60. Altersjahr dank den Entwicklungen der Medizin ihre Schicksalshaftigkeit
verloren hat. Also ist auch die depressive Resignation zurückgegangen,
die den Tod herbeizurufen pflegt. Noch ohne den Blick auf die genetische
Medizin, die Organtransplantation, die Herzschrittmacher etc. habe ich
im Bereich des Gesundheitswesens (das meistens ein Krankenwesen ist)
Veränderungen erlebt, die den Gesellschaftskörper umgeschichtet
und seine Spielregeln verändert haben.
Aber sie taten es nur in dem Teil der Menschheit, den wir als die entwickelte
Welt der Industrienationen bezeichnen. In Afrika, in China und Indien,
in vielen Ländern Südamerikas herrschen andere Bedingungen.
Wir haben entdeckt, dass wir – Abendländer, Europäer,
Schweizer – die unvorstellbar Privilegierten sind. Das ist auch
eine Veränderung: Als ich in die Primarschule ging, besassen die
meisten europäischen Nationen noch Kolonien, das britische Empire
war rund um den Globus auf den Landkarten rosarot eingefärbt. Der
Blick auf die Welt erfolgte durch ein europäisches Schlüsselloch.
Das ist vorbei, Globalisierung ist eines der meistgebrauchten Wörter
geworden, meint aber vor allem die ökonomische Austauschbarkeit
der Waren, Kapitalien und Menschen. Es gibt jedoch die Globalisierung
auch als Bewusstseinslage: dass wir tatsächlich eine Welt geworden
sind, ökologisch zum Beispiel. Verändert haben sich der Ansatzpunkt,
die Sichtweise, die Kategorien.
Ich bin, das ist mir jetzt klar geworden, ein Kind des 20. Jahrhunderts,
Generation ¼ mit privilegiertem Standort. Die Veränderungen
in diesem Säkulum mit den Veränderungen in früheren Jahrhunderten
vergleichen zu wollen, ist nicht sinnvoll. Die „Fortschrittlichkeit“ des
20. Jahrhunderts ist von einer völlig anderen Qualität als
diejenige des 19. oder 18. Jahrhunderts. Erstaunlich sind auch die Modifikationen,
die das politische Bewusstsein erfahren hat. Ein einheitliches Europa
unter den Regeln eines gestalterisch ehrgeizigen Herrschaftssystems war
eine napoleonische Idee und schien, wenigstens für die wenigen Jahre
zwischen 1804 und 1813, Wirklichkeit werden zu wollen. Die Europäische
Union als ein Erbe Napoleons? Vielleicht, aber dann nach demokratischen
Spielregeln, sicher ohne gekrönte Familienhäupter. Meine Verwunderung,
dass die Schweiz sich aus diesem Prozess bisher heraushalten konnte oder
musste, dauert an. Aber ich rechne damit, dass er uns jederzeit wieder
ein-, über- oder zurückholen wird. Es könnte so schmerzhaft
wie erlösend werden.
Was die Nationen Europas an politischen Veränderungen erlebt haben,
ist auf dem Hintergrund ihrer staatlichen Heranbildung im 19. Jahrhundert
geradezu unglaublich. Umso merkwürdiger mutet es an, dass die Schweiz
selber bei aller Veränderungslust politisch noch immer wie ein Gebilde
aus dem 19. Jahrhundert dasteht. Sie funktioniert nach den alten Gesetzen
eines tief verankerten Föderalismus und den eingeübten Erfahrungsregeln
der direkten Demokratie, die bisweilen sogar eine neue Zukunft versprechen.
Eine Liste weiterer Stichworte zu den erlebten Veränderungen liegt
auf dem Tisch. Wie hat das Fernsehen den Tagesrhythmus verändert?
Wie bezahle ich meine Rechnungen und benutze Kreditkarten? Wieso zeigten
nach dem Zweiten Weltkrieg die Strassen- und Bahnhofbeschriftungen plötzlich
andere Farben, welche Verwandlungen haben die Uniformen erlebt? Trug
nicht der Postbote einst eine den Offiziersmützen vergleichbare
Kopfbedeckung, und heute kommt er in Turnschuhen mit einer Baseball-Mütze
vorbei? In der Typografie und der grafischen Gestaltung gab es die Entwicklung
vom Handsatz zum Film- und Fotosatz, und jetzt spuckt der Computer alles
aus! Die Zwei-Komponenten-Kleber wie Araldit haben dem Heimwerker völlig
andere Möglichkeiten geschenkt. Aus den offenen Fenstern der Schulhäuser
hörte ich in jungen Jahren unzählige vertraute Melodien wie „Traute
Heimat meiner Lieben“, „Luegid vo Bärge und Tal“ oder „Das
Wandern ist des Müllers Lust“ – alle vergessen? In meiner
Bibliothek steht ein Liederbuch des 19. Jahrhunderts ohne jegliche Noten;
unter den Titeln für die einzelnen Lieder steht bloss vermerkt:
nach der Melodie „Freut euch des Lebens“. Das heisst, dass
der im Publikum abrufbare Vorrat an Melodien riesig war. Heute sind das
nur noch Bruchstücke.
Am frühen Nachmittag steige ich die Treppe bei der Basler Pfalz
zum Rhein hinunter, im Kopf noch mit „Veränderungen“ beschäftigt. Über
Mittag traf ich Heinz Hossdorf, einen Jahrgänger von mir und bekannt
durch seine Ingenieur-Künste; er berichtete mir von Rolf Gutmann,
nicht einmal ein Jahr jünger als wir beide, wie er sich krebskrank
auf den Tod vorbereitete und jetzt auch gestorben ist. Veränderungen?
Der Rhein ist an diesem Oktober-Nachmittag grünlich-braun, im Westen
ist der Himmel aufgerissen hinter dem Novartis-Hochaus und dem dicken
Kamin der Kehrichtverbrennungsanlage. Es mag demnächst wieder zu
regnen beginnen, die Sicht über das Wasser und bis in die ersten
Höhen des Schwarzwaldes dagegen ist fast pedantisch klar. Noch brauche
ich für den Heimweg keinen Mantel. Veränderungen?
Dass wir sterblich sind, wissen wir seit dem Ende der Kindheit, aber
vorerst nur im Kopf. Der Leib lernt es allmählich, zu sehr verschiedenen
Zeiten, aus den unterschiedlichsten Anlässen. Ein geplatzter Blinddarm,
den ein nicht sehr begabter Hausarzt völlig übersehen hatte,
brauchte mich in den fünfziger Jahren an den Rand des Todes. Das
Erlebnis eines lichterfüllten Ausgangs, an dem mich eine menschenähnliche
Figur zu empfangen schien, war von einer grossartigen Klarheit und Einfachheit.
Im Werkareal der Firma Geigy überquerte ich ein anderes Mal die
Fabrikstrasse und hörte plötzlich den schreckensvollen Ruf:
Obacht! Ich schaute auf und sah die Puffer einer Rangierlok auf mich
zufahren, rettete mich im allerletzten Augenblick mit einem Sprung. Es
ging um Sekundenbruchteile.
Aber Veränderungen? Diese kommen – in meinem Fall, auf leisen
Füssen. Samtpfötchen sozusagen. Plötzlich ein Schub der
Unlust, eine Art Trägheit, die mit einer Siesta nicht zu beheben
ist, aber sie geht vorbei. Durch viele Jahre hindurch schien das Energiepotential,
aus dem ich zehren konnte, unerschöpflich; jetzt kann es geschehen,
dass es mir vorkommt wie eine alte Batterie. Oder es will mir das Spektrum
der gedanklichen Vorstellungen und der mit ihnen korrelierten Stimmungen
mit einem Mal unerwartet eingeschränkt vorkommen, eingleisig sozusagen,
ohne die bunte Vielfalt nach allen Seiten, und in diese Eingleisigkeit
zieht dann ein isoliertes Gefühl ein, eine Sorge, eine Frage ohne
Antwort. Die Unzufriedenheit mit mir selber hockt sich neben mich. Altert
man so?
Es sind Veränderungen, die die mir gewohnte Sicht auf die Dinge
verschieben und einengen. Ich rätsle ihnen mehr nach als den rein
körperlichen Anzeichen zunehmenden Alters. Denn wie selbstverständlich
ging ich immer von einer Autonomie der Person aus, die letztlich zwar
von ihrem charakterlichen Vorgehen bestimmt sein könnte, aber fähig
sein sollte, sich über sie hinwegzusetzen. Jetzt merke ich, dass
diese Autonomie viel kleiner ist, als ich dachte. Ich entdecke nicht
nur meine Bedingtheit, sondern weiss auch, dass sie zunimmt.
Ja, ich verändere mich, aber es ist kein schmerzlicher Vorgang.
Er hat sogar seine glücklichen Seiten.
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