Wortlager / Markus Kutter
 
     

       

Gehört der liebe Gott in die Präambel einer Kantonsverfassung?

 

Eine Sammlung von Beispielen im Sinn von Fallstudien

Als Mitglied des Verfassungsrates des Kantons Basel-Stadt gehörte ich auch der Kommission „Ingress und Grundrechte“ an. Besonders interessierte mich das Problem, welche Funktion eine Präambel (ein anderes Wort für Ingress) in einer Verfassung erfüllen sollte und welche Rolle Präambeln in einer schweizerischen Kantonsverfassung überhaupt spielen konnten. Dazu kamen überraschende Begehren sowohl von einzelnen Parteien wie stimmberechtigten Bürgerinnen und Bürgern, es sollte in der Präambel zur Kantonsverfassung auch eine Anrufung Gottes (invocatio Dei) aufgenommen werden.

Ich versuchte mir zuerst einmal einen Überblick zu verschaffen, indem ich vor allem aus schweizerischen Verfassungen und Verfassungsentwürfen Präambeln zusammentrug, um sie nachher den Kolleginnen und Kollegen in der Kommission und im Ratsplenum vorzulegen. Das ergab so etwas wie Spielmaterial oder eine Kollektion von Musterbeispielen, die durch knappe Kommentare zu Fallstudien werden. In der Literatur ist mir eine solche Übersicht über verschiedene Grundtypen von Präambeln nicht bekannt, so dass ich diese Sammlung von Beispielen in mein Wortlager übernehme.

1. Geschworener Brief von Zürich vom 16. Dezember 1713

Es ist das keine Verfassung im modernen Sinn, weil sie vor Rousseaus contrat social, den amerikanischen Verfassungen und denjenigen des revolutionären Frankreichs von 1792 und 1793 liegt. Die invocatio Dei begründet sich dadurch, dass zum Anfang des 18. Jahrhunderts in den verschiedenen Ständen der Schweiz Kirche und Staat noch nicht getrennt waren, sondern sich vielfach überlappten, etwa in der Rechtsprechung.

Absicht dieses Briefes ist es, die eigentliche Souveränität, also die oberste Machtbefugnis, im Geist des ancien régime zu definieren und auf die verschiedenen Träger aufzuteilen. An erster Stelle stehen die Bürgermeister, dann folgt der (kleine) Rat, dann die Zunftmeister, der Grosse Rat und erst am Schluss die ganze Gemeinde. Diese steht an letzter Stelle, was dann bedeutet, dass die (häufig auf Lebenszeit) gewählten Amtsträger eine höhere Souveränität beanspruchen. Man kann geradezu von einem republikanischen Absolutismus sprechen, weil die Stadt Zürich sich auch als Herrscher über die anderen Städte und Dörfer im alten Stand Zürich betrachtet.

1691 findet in Basel eine revolutionäre Bewegung statt, bei der es ebenfalls darum geht, bei welcher Instanz die eigentliche Souveränität liegen soll. Das sogenannte 91er Wesen führt dazu, dass sich der Grosse Rat zum eigentlichen Inhaber der Souveränität aufschwingt, das Familienregiment der Bürgermeister aushebelt und sich die Kompetenz gibt, das Fundamentalgesetz des Standes Basel jederzeit ändern zu können.

Präambel:

In dem Namen der Allerheiligsten Hochgelobten Dreyeinigkeit, Gottes des Vaters, des Sohns, und des heiligen Geistes. Amen!

Wir, der Burgermeister, der Raht, die Zunftmeister, der Grosse Raht, und die ganze Gemeind der Stadt Zürich, thun kund allermänniglich und bekennen offentlich mit dieserem Brief, nachdeme Wir von Gottes Gnaden Loblich gefreyet sind, Unserer Stadt Ordnung und Regiment, wie es Uns je zu Zeiten nutzlich und nohtdürftig seyn bedunket, zu ordnen und zu setzen, dass Wir aus Kraft dessen, zu Nutz und Nohtdurft, auch um Friden, Schirms, Ruh und Wohlstands willen, Reicher und Armer, wie Uns Gott zusamen geordnet hat, Unserer Stadt Gewalt, Burgermeister, Räht und Zunftmeister zu setzen, zu erkiesen, und zu erwehlen, auch Unsere ganze Gemeind zu versorgen und zu regieren, solche Satz- und Ordnungen (selbige fürbashin zu halten) gemachet haben, wie hiernach in dieserm Brief von einem Stuck zu dem anderen klar und eigentlich geschrieben stehet.

2. Plan einer provisorischen Verfassung für die Helvetische Republik

Der Verfasser dieses Textes ist der Basler Oberstzunftmeister Peter Ochs, geschrieben hat er ihn im Januar 1798 in Paris. Das Dokument kennt keine Präambel, sondern zwei vorgeschaltete Kapitel, das eine als Avant-propos, das andere als Principes fondamentaux bezeichnet. Das Avant-propos erläutert, auf welche Weise der Verfassungsentwurf umgesetzt werden soll; die Principes fondamentaux übernimmt Prinzipien aus der Erklärung der Menschenrechte von 1789 und bringt staatsphilosophische Maximen, die Peter Ochs wichtig waren. Zugleich figurieren in diesem Text einzelne Abschnitte, etwa über Meinungs-, Glaubens- und Pressefreiheit, die nach heutigem Verständnis in einer Verfassung eigene Artikel verdienen.

Sowohl das Avant-propos wie auch Teile der Principes fondamentaux haben die Machthaber in Paris aus dem Manuskript gestrichen oder zu eigentlichen Verfassungsartikeln umgearbeitet.

Avant-propos:

Ce plan de Constitution pour la République helvétique n’est que provisoire. Il s’agit seulement de détruire l’Aristocratie, et d’établir un regime représentatif quelconque qui ait assez de force pour pouvoir reprimer les Malveillans de toute espèce.

3. Verfassung der helvetischen Republik

Es handelt sich um den Text, den das französische Direktorium in Paris dreisprachig drucken liess und nachher in der Schweiz verteilte. Aus dem Entwurf von Ochs wurden die Principes fondamentaux als Haupt-Grundsätze teilweise übernommen, aber von einer eigentlichen Präambel oder gar einer invocatio Dei ist nicht die Rede.

Artikel 1 gilt dem Staatsverständnis dieser neuen Republik; Artikel 2 macht – im Unterschied zum Geschworenen Brief von Zürich 1713 – klar, wer jetzt, in der Zeit nach Rousseau und der Französischen Revolution, als eigentlicher Souverän zu gelten hat. Beide Artikel wurden aus dem Manuskript von Peter Ochs übernommen.

Haupt-Grundsätze:

1. Die helvetische Republik macht einen unzertheilbaren Staat aus.

Es giebt keine Grenzen mehr zwischen den Cantonen und den unterworfenen Landen noch zwischen einem Canton und dem andern. Die Einheit des Vaterlandes und des allgemeinen Interesse’s vertritt künftig das schwache Band, welches verschiedenartige, ausser Verhältnis ungleich grosse, und kleinlichen Localitäten oder einheimischen Vorurtheilen unterworfene Theile zusammenhielt und auf Gerathewohl leitet. Man verspürte nur die ganze Schwäche einzelner Theile; man wird aber durch die vereinigte Stärke Aller stark sein.

2. Die Gesamtheit der Bürger ist der Souverän oder Oberherrscher. Kein Theil und kein einzelnes Recht der Oberherrschaft kann vom Ganzen abgerissen werden, um das Eigenthum eines Einzelnen zu werden.

Die Regierungsform, wenn es auch sollte verändert werden, soll allezeit eine repräsentative Demokratie sein.

4. Mediationsverfassung vom 19. Februar 1803

Was noch heute in der Schweiz schlecht rezipiert oder gar nicht bekannt ist: Napoleon Bonaparte darf als der eigentliche Vater der schweizerischen Kantonsverfassungen gelten. Der Einheitsstaat der Helvetischen Republik funktionierte nicht, auch wenn ihn Napoleon ursprünglich befürwortet hatte, also entschied er, dass die Schweiz wieder zu einem Staatenbund möglichst souveräner Kantone zurückgeführt werden müsse. Politisch verfolgte er damit zwei Ziele: Auf der einen Seite sollten die früheren Untertanenländer St. Gallen, Aargau, Thurgau, Tessin, Waadt, zusammen mit dem neu zur Eidgenossenschaft stossenden Graubünden, als gleichberechtigte Kantone anerkannt werden, auf der anderen Seite rechnete Napoleon damit, dass die Eifersucht unter den Kantonen dafür sorgen würde, dass die Schweiz aussenpolitisch praktisch handlungsunfähig blieb.

Die von Napoleon eingesetzte Kommission von fünf Senatoren bekam den Auftrag, mit den Delegierten der Kantone – total um die 60 Personen – jede einzelne Kantonsverfassung auszuhandeln und aufzuschreiben. Für die Landsgemeindeorte war das ungewöhnlich, da die Art und Weise, wie die Angelegenheiten eines Standes durch die Landsgemeinde geordnet waren, mehr auf mündlicher Überlieferung als auf schriftlich fixierten Prinzipien beruhte.

Die ganze Mediationsakte besteht aus einer sehr langen Präambel, dann folgen 19 einzelne Kantonsverfassungen ohne jede Präambel und natürlich auch ohne invocatio Dei, den Schluss macht die eigentliche Bundesverfassung, die in erster Linie das Militärwesen regeln möchte und zwar wieder ohne Präambel.

Aus der Präambel:

Helvetien, der Zwietracht preisgegeben, war mit seiner Auflösung bedroht. In sich selbst konnte es die Mittel nicht finden, um wieder zu einer verfassungsmässigen Ordnung zu gelangen. (...) Die Beantwortung der Frage: Ob die Schweiz, von der Natur selbst zu einem Bundesstaate bestimmt, anders als durch Gewalt unter einer Central-Regierung erhalten werden könnte; die Ausfindigmachung derjenigen Verfassungsform, die mit den Wünschen jedes Kantons am meisten übereinstimmte; die Heraushebung dessen, was den in den neuen Kantonen entstandenen Begriffen von Freiheit und Wohlfahrt am besten entspräche; endlich dann in den alten Kantonen die Vereinbarung derjenigen Einrichtungen, die durch die Zeit ehrwürdig geworden waren, mit den wiederhergestellten Rechten des Volks: Dies waren die Gegenstände, die der Untersuchung und Berathschlagung unterworfen werden mussten.

Aus dem Nachtrag:

Die gegenwärtige Acte, als das Resultat einer langen Erörterung zwischen klugen und wohlgesinnten Männern, schien uns die angemessensten Verfügungen für die Herstellung des Friedens und die Gründung der öffentlichen Wohlfahrt in der Schweiz zu enthalten. (...) Wir erkennen Helvetien, nach der in der gegenwärtigen Acte aufgestellten Verfassung, als eine unabhängige Macht. Wir garantieren die Bundesverfassung und die eines jeden Kantons gegen alle Feinde Helvetiens, wer immer sie auch sein mögen...

5. Bundesvertrag vom 7. August 1815

Nach dem Zusammenbruch des napoleonischen Machtsystems wollten die Kantone möglichst rasch (auch auf Druck der Alliierten) ihre Verfassungen ändern. Zum Teil bestand in den alten Kantonen auch die Absicht, die letztmals von Napoleon sanktionierten Kantonsverfassungen wieder mehr vorrevolutionären Zuständen anzunähern, also zum Beispiel die Suprematie der Städte über die Landschaften wieder herzustellen.

Mit dem Kanton Waadt war nun einer der neuen Kantone französisch sprechend; der Bundesvertrag von 1815 musste also mindestens zweisprachig sein.

Wo es in den vorrevolutionären Urkunden meistens ganz einfach in nomine Domini oder Dei hiess, galt es jetzt eine Formulierung zu finden, die auf deutsch und französisch gleichwertig erschien. Au nom de Dieu konnte nicht gut als invocatio Dei gelten, weil eine solche Formulierung gefährlich nahe bei einem Fluch lag. Also wählte der französische Redaktor eine Wendung, die sich nachher auf Deutsch ohne Schwierigkeit übersetzen liess.

Mit dem Bundesvertrag von 1815 bekommt eine bundesstaatliche Urkunde erstmals eine invocatio Dei.

Präambel:

Im Namen Gottes des Allmächtigen! Au nom du Tout-Puissant!

Sehr bewusst wurde in diesem Bundesvertrag auch der alte Begriff „eidgenössisch“ aufgenommen, der zur Zeit der Helvetik etwas ausser Kurs gesetzt schien. Der Begriff war wörtlich zu nehmen: die Eidgenossen sollten sich untereinander auf der Basis von Eiden verbünden. Man kann es auch so sehen: Der invocatio Dei am Anfang entsprach am Schluss der geleistete Eid. Der Bundesvertrag vom 7. August 1815 enthielt deshalb einen abschliessenden Text:

Nachtrag:

Die XXII Kantone konstituieren sich als schweizerische Eidsgenossenschaft; sie erklären, dass sie frei und ungezwungen in diesen Bund treten, denselben im Glück wie im Unglück als Brüder und Eidsgenossen getreulich halten, insonders aber, dass sie von nun an alle daraus entstehenden Pflichten und Verbindlichkeiten gegenseitig erfüllen wollen; und damit eine für das Wohl des gesammten Vaterlandes so wichtige Handlung, nach der Sitte der Väter, eine heilige Gewährschaft erhalte, so ist diese Bundesurkunde nicht allein durch die bevollmächtigten Gesandten eines jeden Standes unterzeichnet und mit dem neuen Bundes-Insiegel versehen, sondern noch durch einen theuren Eid zu Gott dem Allmächtigen feierlich bekräftiget worden.

6. Verfassung des Standes Uri vom 7. Mai 1820

Dass auf Wunsch Napoleons auch die Landsgemeindekantone eine geschriebene Verfassung haben mussten, war den Urnern 17 Jahre nach 1803 immer noch ungewohnt. Aber sie hatten sich damit abgefunden, da offenbar jeder Kanton bei der Tagsatzung seine Verfassung deponieren musste. Eine invocatio Dei in der Kantonsverfassung hingegen erschien so gut wie allen Kantonen als unnötig, weil der Bundesvertrag das schon geregelt hatte. Hingegen sollte (in der Urner Verfassung) der Schutz des Allerhöchsten angerufen werden.

Präambel:

Wir Landammann und Rath und gemeine Landleute des gemein-eidsgenössischen Kantons Uri in der Schweiz – in Folge der Bestimmung des § 15 des Bundesvertrags, dass die Verfassungen der hohen Stände der hohen Tagsatzung eingegeben und in das eidsgenössische Archiv abgelegt werden sollen – erklären hiemit:

Dass wir zwar nie eine in Urkund geschriebene Verfassung unsers Kantons gehabt haben, dass aber durch Jahrhundert lange Übung und bestehende Gesetze dieselbe auf folgenden Grundsätzen beruht, die wir unter dem Schutze des Allerhöchsten unsern Nachkommen unverändert übertragen wollen.

7. Entwurf einer Bundesurkunde vom 5. Dezember 1832

Der Name Bundesurkunde war absichtlich gewählt, weil er mehr als einen blossen Vertrag bedeuten sollte, aber noch nicht als Verfassung auftreten durfte, weil eine solche noch immer emotional mit der Helvetischen Republik verbunden war.

Das Datum 1832 zeigt, dass dieser Entwurf mit den Auswirkungen der Juli-Revolution in Paris im Zusammenhang stand; zum ersten Mal wurde versucht, aus dem sehr lockeren Staatenbund von 1815 ein festgefügteres Staatswesen zu machen.

Die invocatio Dei aus dem Vertrag von 1815 wurde schon fast als selbstverständlich übernommen, daneben wurde das übergeordnete Ziel der näheren Verbindung der Kantone umschrieben.

Präambel:

Im Namen Gottes des Allmächtigen! Die 22 souveränen Kantone der Schweiz, als (folgt Aufzählung), vom Wunsche beseelt, den Bund der Eidgenossen zu befestigen und durch seine zeitgemässe Entwiklung des Vaterlandes Kraft und Ehre zu erhalten und zu fördern, haben den Bundesvertrag vom 7. August 1815 einer allgemeinen Revision unterworfen und in Folge derselben nachstehende Bundesurkunde als Grundgesez angenommen:

8. Kantonsverfassung Wallis vom 14. September 1844

Das erste und im 19. Jahrhundert einzige Mal, dass eine invocatio Dei in einer Kantonsverfassung auftritt, ist der Fall des Kantons Wallis. Sie ist ein Ausdruck der konservativen Gegenbewegung gegen die liberalen Ideen kurz vor Ausbruch des Sonderbundskrieges von 1847.

Die Anrufung Gottes muss man in Verbindung mit Artikel 2 dieser Verfassung sehen, wonach die römisch katholische und apostolische Kirche ganz offiziell zur Staatsreligion erklärt wird, nur sie darf ihren Kult ausüben und soll durch Gesetze gestützt werden.

Präambel:

Au nom de Dieu tout-puissant.

9. Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 12. September 1848

Diese die ganze Schweiz betreffende Verfassung ist nach derjenigen der Helvetischen Republik die zweite, die gleichermassen für das ganze Land gilt und aus dem bisherigen Staatenbund einen Bundesstaat macht.

Sie sieht sich aber in einer schon etablierten Tradition, die 1815 beginnt und 1832 gestärkt wird.

Diese Tradition manifestiert sich auch darin, dass für den Gesamtbund die invocatio Dei beibehalten wird und dass die Präambel sich im Wortlaut an den Präambelentwurf von 1832 anschliesst. Der Bezug auf Einheit, Kraft und Ehre der Eidgenossenschaft ist eine Fortführung dieser Präambel, hat aber durch den soeben beendeten Sonderbundskrieg eine gewisse Zuspitzung erfahren: Die Einheit des Landes, das konfessionell zerstritten war, soll wieder hergestellt werden, die Berufung auf die Kraft meint auch die im Bürgerkrieg siegreichen Truppen der Tagsatzungmehrheit, und die Ehre der Nation gilt es gegenüber den die Schweiz umgebenden Monarchien zu wahren.

Die Schweiz kennt, anders als die übrigen europäischen Nationen, kein Revolutionsjahr 1848, sondern macht aus diesen Bewegungen das Gründungsjahr für den eidgenössischen Bundesstaat – die einzige föderative Republik im damaligen Europa der Monarchien (auch Frankreich gerät auf den Weg zu einem Kaiserreich).

Präambel:

Im Namen Gottes des Allmächtigen!

Die schweizerische Eidgenossenschaft, in der Absicht, den Bund der Eidgenossen zu befestigen, die Einheit, Kraft und Ehre der schweizerischen Nation zu erhalten und zu fördern, hat nachstehende Bundesverfassung angenommen:

10. Internationale Präambeln der Nachkriegszeit

Das Ende des Zweiten Weltkrieges war der Anfang für eine heute fast ins Uferlose gewachsene Serie von internationalen Konventionen oder Übereinkommen, die, falls ihnen die Schweiz beitrat (was häufig der Fall war), auch für die Kantone als Teilstaaten bindend und in einem ganz allgemeinen Sinn für Schweizerischen und Schweizer verpflichtend sind.

Meistens beginnen solche Übereinkommen mit einer Präambel, die sich mit den übergeordneten Absichten und Zielsetzungen der einzelnen Konvention befasst. In einem engeren Sinn geht es aber auch darum, das Übereinkommen an den richtigen Platz im internationalen Vertragswerk zu rücken und es sinngemäss einzuordnen. Man darf zu Recht davon sprechen, dass in der Nachkriegszeit und also in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein deutlich zunehmendes Bewusstsein der internationalen und sogar weltweiten Vernetzung entstand. Dieses Bewusstsein sucht auch nach der Sprache, in der es sich ausdrücken wollte. Das wichtigste Vorbild dabei ist nach wie vor die Deklaration der Menschenrechte aus der Französischen Revolution von 1789.

Mit dem Blick auf schweizerische Verhältnisse ist vielleicht überraschend, dass bei kantonalen Verfassungsrevisionen eine solche Einpassung in eine grössere Verfassungsarchitektur selten bedacht wird; selbst Bezüge auf die den Kantonsverfassungen eindeutig übergeordnete Bundesverfassung sind nicht häufig. Die Art der verwendeten Sprache suggeriert Staatswesen, die sich in völliger Souveränität und Unabhängigkeit sozusagen allein auf der Welt zu befinden scheinen. Dass der Föderalismus der Kantone häufig nur noch darin besteht, Erfüllungsgehilfen für Bundesaufgaben zu sein, kommt in den revidierten Kantonsverfassungen der letzten Generation kaum zum Ausdruck.

Wie solche Einbindungen in übergeordnete europäische Zusammenhänge formuliert werden, zeigt der erste Teil einer Präambel für eine internationale Konvention.

Aus der Präambel des Übereinkommens über Menschenrechte und Biomedizin vom 4. April 1997:

Die Mitgliedstaaten des Europarats, die anderen Staaten und die Europäische Gemeinschaft, die dieses Übereinkommen unterzeichnen,
eingedenk der von der Generalversammlung der Vereinten Nationen am 10. Dezember 1948 verkündeten Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte;
eingedenk der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten;
eingedenk der Europäischen Sozialcharta vom 18. Oktober 1961;
eingedenk des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte und des Internationalen Paktes über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte vom 16. Dezember 1966;
eingedenk des Übereinkommens vom 28. Januar 1981 zum Schutz des Menschen bei der automatischen Verarbeitung personenbezogener Daten;
eingedenk auch des Übereinkommens vom 20. November 1989 über die Rechte des Kindes;
in der Erwägung, dass es das Ziel des Europarats ist, eine engere Verbindung zwischen seinen Mitgliedern herbeizuführen, und dass eines der Mittel zur Erreichung dieses Zieles darin besteht, die Menschenrechte und Grundfreiheiten zu wahren und fortzuentwickeln...

11. Die Revisionsbemühungen 100 Jahre nach 1874

Die letztmals revidierte Bundesverfassung der Schweiz stammt von 1874, bei der die Präambel von 1848 erhalten blieb. Im 20. Jahrhundert zeigte sich mehr und mehr die Notwendigkeit einer Gesamtrevision der Bundesverfassung. Zu diesem Zweck berief der Bundesrat unter der Leitung von Kurt Furgler eine eigene Kommission, die sich mit dieser Verfassungsrevision beschäftigen und sie vorbereiten sollte, weil man das Jubiläum der 100 Jahre alten Bundesverfassung mit einer frisch revidierten feiern wollte.

In diese Kommission wurde als Schriftsteller Adolf Muschg berufen, der sich besonders auch der Präambel annehmen sollte. Er versuchte das Problem grundsätzlich anzugehen, stellte sich also die Frage, was die Präambel für eine neue Bundesverfassung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts überhaupt aussagen sollte.

Sein Entwurf von 1977 brachte vier Ideen, die in den bisherigen Präambeln nicht enthalten waren: Frei bleibt nur, wer seine Freiheit gebraucht; ein Volk ist dann stark, wenn es auf das Wohl der Schwachen achtet; staatliche Macht hat eine Grenze, und wir sind aufgerufen, am Frieden der Welt mitzuwirken.

In der alten Tradition von 1815 blieb die invocatio Dei erhalten.

Praämbel-Entwurf der Kommission Furgler:

Im Namen Gottes des Allmächtigen!
Im Willen, den Bund der Eigenossen zu erneuern;
gewiss, dass frei nur bleibe, wer seine Freiheit gebraucht,
und dass die Stärke des Volkes sich misst am Wohl des Schwachen;
eingedenk der Grenzen der staatlichen Macht und der Pflicht, mitzuwirken am Frieden der Welt,
haben Volk und Kantone der Schweiz die folgende Verfassung beschlossen:

12. Kommentar von Adolf Muschg zur Präambel von 1977

Ich bat Adolf Muschg 25 Jahre später um einen persönlichen Kommentar zu seinem Präambel-Entwurf, was er mit einem an mich gerichteten e-mail vom 25. Oktober 2002 tat. Mich interessierte vor allem, wie er sich zur invocatio Dei dieses von der Kommission Furgler abgesegneten Entwurfes stellte.

Kommentar:

Ja, ich muss mich der Präambel schuldig bekennen, auch wenn sie in der geltenden BV nicht wiederzuerkennen ist, kleingehackt und mit gutgemeintem Treudeutsch verschnitten. Sie war damals das Produkt einer febrilen Auszeit von der Kommission, die ich im Hotel Cucagna (gleich Schlaraffenland) zu Disentis nehmen musste. Und ein Versuch, der Anrufung „Gottes des Allmächtigen“, der ich umsonst widerstrebt hatte, so etwas wie einen säkularisierten Kommentar anzuhängen (ein Restchen Bergpredigt hält sich immer noch darin). Also im Kern eine halbe Sache, da hat der Teufel den Schwanz darauf, und sie verdienen nicht gut auszugehen. Was übrigens die Gottesanrufung betrifft, so wird Sie die damalige Mehrheit zu deren Gunsten nicht überraschen: sie bestand aus wertkonservativen Katholiken und religiös Gut-, aber Gleichmütigen, die nichts Anstössiges in ihr fanden, während die paar dezidierten Protestanten geradezu eine Blasphemie darin sahen, Gott für unser Menschenwerk in Anspruch zu nehmen: aber ihre unheilige Koalition mit ebenso gläubigen Atheisten erwies sich dann nicht als stark genug. Die Mehrheit fand – auch wenn sie es nicht gerade so ausdrückte –: da Gott schon einmal in der Verfassung stehe, lasse man ihn doch lieber drin und wecke dann keine schlafenden Hunde. – Ihr Plädoyer für einen Bundesgott, dem sich die Kantone doch müssten anschliessen können, statt ihn für sich nochmals extra zu beschäftigen, finde ich so humoristisch wie überzeugend. Aber Sie werden sich seinen Segen nicht nehmen lassen.

12. Präambeln in revidierten Kantonsverfassungen

Die Revisionsarbeiten der Kommission Furgler brachten im erhofften Termin keine verbindlichen Resultate. Sie wurden aber durch die Presse einer breiten Öffentlichkeit bekannt. Einzelne Kantone, die sich mit den Totalrevisionen ihrer Verfassungen beschäftigten, sahen sich durch die Tätigkeit dieser Kommission angeregt, so dass – im Unterschied etwa zur napoleonischen Zeit – plötzlich Präambeln in Kantonsverfssungen attraktiv und reizvoll schienen. Solche Präambeln versprachen die Möglichkeit, über den Sinn und Geist von Kantonsverfassungen etwas Übergeordnetes aussagen zu können; die Formulierungen der Kommission Furgler boten so etwas wie staatsphilosophisches Spielmaterial, aus dem regierungsrätliche oder grossrätliche Kommissionen oder eigentliche Verfassungsräte rhetorische Varianten bilden konnten.

Vom Sprachmaterial her gesehen sind die Präambeln in den nach 1980 revidierten Kantonsverfassungen Abwandlungen der Formulierungen aus der Kommission Furgler. Plötzlich schien es auch verlockend, auf der Ebene von Kantonsverfassungen eine invocatio Dei ins Spiel zu bringen. Auf eine direkte Anrufung Gottes wurde allerdings meistens verzichtet, an deren Stelle trat lieber die Formulierung einer Verantwortung vor Gott, gelegentlich auch vor der Schöpfung, und neu war, dass in den Präambeln plötzlich ökologische Gesichtspunkte auftraten, das heisst dass die Verantwortung vor Gott für Mensch und Natur gelten sollte.

Kanton Aargau vom 25. Juni 1980:

Das Aargauer Volk,
in der Absicht,
die Verantwortung vor Gott gegenüber Mensch, Gemeinschaft und Umwelt wahrzunehmen,
den Kanton in seiner Einheit und Vielfalt zu gestalten,
Freiheit und Recht im Rahmen einer demokratischen Ordnung zu schützen,
die Wohlfahrt aller zu fördern,
die Entfaltung des Menschen als Individuum und als Glied der Gemeinschaft zu erleichtern,
den Stand zu einer aktiven Mitarbeit an der Festigung und am Ausbau der Schweizerischen Eidgenossenschaft zu verpflichten,
gibt sich nachstehende Verfassung:

Kanton Basel-Landschaft vom 17. Mai 1984:

Das Baselbieter Volk,
eingedenk seiner Verantwortung vor Gott für Mensch, Gemeinschaft und Umwelt,
im Willen, Freiheit und Recht im Rahmen seiner demokratischen Tradition und Ordnung zu schützen,
gewiss, dass die Stärke des Volkes sich misst am Wohle der Schwachen,
in der Absicht, die Entfaltung des Menschen als Individuum und als Glied der Gemeinschaft zu erleichtern,
entschlossen, den Kanton als souveränen Stand in der Eidgenossenschaft zu festigen und ihn in seiner Vielfalt zu erhalten, gibt sich folgende Verfassung:

Kanton Solothurn vom 8. Juni 1986:

Das Volk des Kantons Solothurn,
im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott für Mensch, Gemeinschaft und Umwelt, mit dem Ziel,
den Kanton in seiner kulturellen und regionalen Vielfalt zu erhalten und als Stand in der Eidgenossenschaft zu festigen,
Freiheit und Recht im Rahmen einer demokratischen Ordnung zu schützen,
den Frieden im Innern und den Zusammenhang des Volkes zu wahren,
die Wohlfahrt aller zu fördern,
eine Gesellschaftsordnung anzustreben, die der Entfaltung und der sozialen Sicherheit des Menschen dient,
gibt sich folgende Verfassung:

Kanton Bern vom 6. Juli 1993:

In der Absicht, Freiheit und Recht zu schützen
und ein Gemeinwesen zu gestalten,
in dem alle in Verantwortung gegenüber der Schöpfung zusammen leben,
gibt sich das Volk des Kantons Bern folgende Verfassung:

Kanton St. Gallen, Entwurf der Verfassungskommission vom 17. Dezember 1999:

Im Bewusstsein unserer Verantwortung vor Gott für die menschliche Gemeinschaft und die gesamte Schöpfung wollen wir St. Gallerinnen und St. Galler
unser geschichtlich gewachsenes Staatswesen in Freiheit und Recht gestalten;
uns für das Wohl der Einzelnen und der Gemeinschaft in Solidarität und Toleranz einsetzen;
an der Bewahrung des Friedens mitwirken.
Im Wissen um die Grenzen aller staatlichen Macht geben wir uns die folgende Verfassung:

Kanton Schaffhausen vom 17. Juni 2002:

In Verantwortung vor Gott für Mensch und Natur gibt sich das Volk des Kantons Schaffhausen folgende Verfassung:

Kanton Graubünden von 2003:

Wir, das Volk des Kantons Graubünden,
im Bewusstsein unserer Verantwortung vor Gott sowie gegenüber den Mitmenschen und der Natur,
im Bestreben, Freiheit, Frieden und Menschenwürde zu schützen, Demokratie und Rechtsstaat zu gewährleisten, Wohlfahrt und soziale Gerechtigkeit zu fördern und eine gesunde Umwelt für die künftigen Generationen zu erhalten,
in der Absicht, die Dreisprachigkeit und kulturelle Vielfalt zu fördern und als Teil des geschichtlichen Erbes zu bewahren,
geben uns folgende Verfassung:

13. Verfassung des Landes Mecklenburg-Vorpommern vom 23. Mai 1993

Der Zusammenbruch des kommunistischen Systems in der Sowjetunion und in Osteuropa, in dessen Gefolge die Wiedervereinigung Deutschlands möglich wurde, liess eine grosse Anzahl neuer nationaler Verfassungen und deutscher Länderverfassungen entstehen. In der ehemaligen DDR gaben sich viele Menschen Rechenschaft, zuerst unter der nationalsozialistischen, dann einer kommunistischen Diktatur gelebt zu haben. Darüber hinweg konnte nicht einfach zur Tagesordnung geschritten werden.

Wie das in einem übergeordneten Sinn in der Verfassung für ein neu konstituiertes deutsches Bundesland zum Ausdruck kam, lässt sich in der Präambel des Landes Mecklenburg-Vorpommern nachlesen. Auf der einen Seite wird Bezug auf die deutsche Geschichte genommen, auf der anderen Seite steht das Bekenntnis zur europäischen Völkergemeinschaft. Solche Überlegungen sind den neu revidierten Kantonsverfassungen in der Schweiz eher fremd, allerdings aus natürlichen Gründen: Nicht ein welthistorischer Bruch kennzeichnet die Existenz der schweizerischen Kantone, sondern deren erstaunliche Kontinuität seit 200 Jahren.

Präambel:

Im Bewusstsein der Verantwortung aus der deutschen Geschichte sowie gegenüber den zukünftigen Generationen,
erfüllt von dem Willen, die Würde und Freiheit des Menschen zu sichern, dem inneren und äusseren Frieden zu dienen, ein sozialgerechtes Gemeinwesen zu schaffen, den wirtschaftlichen Fortschritt aller zu fördern, die Schwachen zu schützen und die natürlichen Grundlagen des Lebens zu sichern,
entschlossen, ein lebendiges, eigenständiges und gleichberechtigtes Glied der Bundesrepublik Deutschland in der europäischen Völkergemeinschaft zu sein,
im Wissen um die Grenzen menschlichen Tuns,
haben sich die Bürger Mecklenburg-Vorpommerns auf der Grundlage des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland in freier Selbstbestimmung diese Landesverfassung gegeben.

14. Bundesverfassung von 1999

Die Totalrevision der Bundesverfassung von 1874 kam 25 Jahre später als erhofft. Ein neuer Staatsentwurf oder eine neue nationale Regierungsorganisation stand kaum zur Debatte, die eidgenössische Räte einigten sich darauf, dass die bisherige Verfassung sanft adaptiert und mit dem Blick auf die neusten Entwicklungen fortgeschrieben werden sollte.

Das traf natürlich auch auf die Präambel zu, die in der Tradition von 1815, 1832, 1848, 1874 begriffen wurde.

Präambel:

Im Namen Gottes des Allmächtigen!

Das Schweizer Volk und die Kantone,
in der Verantwortung gegenüber der Schöpfung,
im Bestreben den Bund zu erneuern, um Freiheit und Demokratie, Unabhängigkeit und Frieden in Solidarität und Offenheit gegenüber der Welt zu stärken,
im Willen, in gegenseitiger Rücksichtnahme und Achtung ihre Vielfalt in der Einheit zu leben,
im Bewusstsein der gemeinsamen Errungenschaften und der Verantwortung gegenüber den künftigen Generationen,
gewiss, dass frei nur ist, wer seine Freiheit gebraucht, und dass die Stärke des Volkes sich misst am Wohl der Schwachen, geben sich folgende Verfassung:

15. Vorentwurf des Justizdepartementes Basel-Stadt für eine Kantonsverfassung von 1999

Dieser Vorentwurf für eine Verfassung des Kantons Basel-Stadt beginnt das Kapitel mit den allgemeinen Bestimmungen mit einem Absatz 1:

Der Kanton Basel-Stadt ist ein souveräner Stand der Schweizerischen Eidgenossenschaft.

Als Variante wird ein zusätzlicher Absatz 2 vorgeschlagen: Falls – in baselstädtischem Traditionsanschluss – auf eine Präambel, welche auf diese Zwecke Bezug nimmt, verzichtet wird, würde der 2. Absatz lauten:

Er hat zum Zweck,
den Menschen eine Entfaltung in Freiheit und sozialer Sicherheit zu ermöglichen,
den Frieden im Innern und den Zusammenhang des Volkes zu wahren,
die kulturelle Vielfalt zu erhalten,
die gemeinsame Wohlfahrt zu fördern,
das Recht im Rahmen einer demokratischen Ordnung zu schützen,
die natürlichen Lebensgrundlagen zu erhalten.

Eine invocatio Dei ist in diesem Entwurf des Justizdepartementes nicht enthalten; auf eine Präambel wird ausdrücklich verzichtet.

Eine Präambel kennt auch der von den parteipolitisch unabhängigen Autoren Dieter Chenaux-Repond und Conradin Cramer geschriebene Verfassungsentwurf vom August 2000 nicht (der im Verfassungsrat erstaunlicherweise nie ernsthaft beachtet wurde).


16. Erste Konklusionen

Es gibt keine etablierte Tradition, nach der Kantonsverfassungen eine Präambel haben müssen. Eher ist eine Tradition darin zu sehen, dass Kantonsverfassungen seit 1803 und bis ins 20. Jahrhundert fast durchgehend auf Präambeln verzichten.

Es gibt erst recht keine etablierte Tradition, nach der Kantonsverfassungen mit einer Anrufung Gottes beginnen oder Gott direkt erwähnen sollten. Das Bedürfnis danach ist eigentlich erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und dann besonders nach 1977 entstanden.

Weitgehend vergessen ist die noch im Bundesvertrag von 1815 angedeutete Relation zwischen der invocatio Dei und dem tatsächlich zu leistenden Bundesschwur, der dieser Anrufung Gottes in der Präambel eine zusätzliche Bedeutung gibt.

Wer für eine Verfassung eine invocatio Dei fordert, möchte sich durch diese Anrufung Gottes verpflichtet sehen. Nachdem in der Bundesverfassung der Schweiz eine solche invocatio Dei zu finden ist, erklären sich die Leute, die auch in der Präambel einer Kantonsverfassung Gott nennen möchten, durch die Bundesverfassung nicht ausreichend verpflichtet, was geradezu als ein Zeichen mangelnder Frömmigkeit verstanden werden könnte.

Erstaunlicherweise sind die Bezüge der meisten Kantonsverfassungen zur übergeordneten Bundesverfassung eher spärlich; nach meinem Wissen kümmert sich keine neue Kantonsverfassung um internationale Übereinkommen, auch wenn sie für die Schweiz bindend sind.

Die Sprache, in der Präambeln für Kantonsverfassungen, für die Bundesverfassung und für internationale Übereinkommen niedergeschrieben werden, zeigt auf der einen Seite noch immer einen spätbarocken Duktus, auf der anderen Seite das Pathos der Deklaration der Menschenrechte von 1789.

Persönlich war ich in der Kommission für Ingress und Grundrechte der Meinung, eine invocatio Dei in der Präambel einer Kantonsverfassung sei nicht angebracht, zudem könne ohne Schaden für die Verfassung eines Kantons auf eine eigene Präambel verzichtet werden, weil das unweigerlich zu bloss rhetorischen Figuren führe, wie sie unter 12. in dieser Untersuchung angeführt sind.

17. Präambeln zur Auswahl

Im Zwischenbericht der Kommission Ingress und Grundrechte vom 5. September 2002 wurden dem Verfassungsrat drei Thesen unterbreitet:

These 1: Es ist der Verfassung eine Präambel voranzustellen.
These 2: Es ist in die Verfassung keine invocatio Dei aufzunehmen.
These 3: Eine Konsultativabstimmung soll aufzeigen, welcher Ebene des Staatsverständnisses der Vorzug zur Ausarbeitung einer Präambel gegeben wird.

Das hiess ganz einfach, dass der gesamte Verfassungsrat sich darüber Rechenschaft geben sollte, dass er in der Formulierung einer Präambel, sollte diese denn nötig sein, sich völlig frei fühlen könne. Um den Mitgliedern des Verfassungsrates den gedanklichen und sprachlichen Spielraum klar zu machen, beschloss die Kommission, dem Plenum insgesamt sechs Präambeln oder Ingresse vorzulegen, die jedesmal von einem anderen Gesichtswinkel ausgingen, wie ein kantonales Gemeinwesen zu verstehen sei.

Ingress Nr. 1: Thema Voraussetzungen

Auf der einen Seite werden die entscheidenden politischen Vorgänge, die zur total revidierten Verfassung geführt haben, festgehalten; auf der anderen Seite wird die Kantonsverfassung in die übergeordneten völkerrechtlichen Verträge eingeordnet.

Die nachstehende Verfassung des Kantons Basel-Stadt,
ausgelöst durch den Volksentscheid vom 18. April 1999 über die Totalrevision der Kantonsverfassung,
ausgearbeitet und verabschiedet von einem sechzigköpfigen Verfassungsrat in den Jahren 2000 bis 2...,
angenommen durch die stimmberechtigten Frauen und Männer im Kanton Basel-Stadt in der Volksabstimmung vom ........,
setzt die Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft von 1999 und die in ihr definierten Grundrechte voraus,
anerkennt die von der Schweiz 1974 ratifizierte Europäische Menschenrechtskonvention,
weiss sich den von der Schweiz 1992 ratifizierten UNO-Pakten über die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen sowie über die bürgerlichen und politischen Rechte verpflichtet,
unterstellt sich den völkerrechtlich verbindlichen Verträgen mit anderen Staaten oder Staatengemeinschaften und der Organisation der Vereinten Nationen
und hat zum Ziel, das geistige und materielle Wohlergehen aller Menschen in ihrem Wirkungsbereich zu fördern und ihnen ein friedliches Zusammenleben in Freiheit, gegenseitiger Achtung und Anerkennung zu ermöglichen.

Ingress Nr. 2: Thema politische Räume

Die Präambel nennt in einem geografischen Sinn die sehr spezielle Lage des Kantons Basel-Stadt und macht klar, dass eine grenzüberschreitende Aktivität dieses Kantons notwendigerweise zu Beziehungen auch mit der EU führen muss.

Der Kanton Basel-Stadt,
in Treue zum Bundesstaat der Schweizerischen Eidgenossenschaft,
angewiesen auf eine enge und freundschaftliche Zusammenarbeit mit den angrenzenden Gemeinwesen in der Nordwestschweiz und am Oberrhein,
eingedenk seiner weit gegen Frankreich und Deutschland hinausgeschobenen Lage als Grenzstadt zur Europäischen Union,
der Welt verbunden durch seine Universität, seine Industrie, seine Verkehrslage und die Interessen seiner Bevölkerung,
bestrebt, die hier wohnenden Menschen frei, gerecht und in der Verantwortung für andere, für sich selber sowie für die kommenden Generationen zusammenleben zu lassen,
hat sich am ........ durch den Entscheid der stimmberechtigten Bürgerinnen und Bürger diese Verfassung gegeben.

Ingress Nr. 3: Thema Zweckbestimmung

Die wichtigsten inhaltlichen Aufgaben einer Verfassung werden in möglichst nüchterner Sprache rekapituliert.

Um die Rechte aller in Basel-Stadt wohnenden Personen festzuschreiben,
um die Ziele zu setzen, nach denen sich dieses Staatswesen zu richten gedenkt,
um das Zusammenwirken von Parlament, Regierung, Verwaltung und Justiz zu ordnen,
um die Volksrechte zu garantieren, dank denen die Bürgerinnen und Bürger politisch aktiv werden können,
um festzulegen, wie der Kanton Basel-Stadt seine Aufgaben zu erfüllen gedenkt,
haben die Stimmberechtigten dieses Kantons, der als souveräner Gliedstaat der Schweizerischen Eidgenossenschaft angehört, sich am ..... eine neue Verfassung gegeben.

Ingress Nr. 4: Thema Vorsätze

Der Kanton wird gewissermassen als ein Subjekt sichtbar gemacht, das sich verschiedene Aufgaben vorgenommen hat.

Im festen Willen, als souveräner Kanton der Schweizerischen Eidgenossenschaft anzugehören,
im Vertrauen auf die demokratische Gesinnung seiner Bürgerinnen und Bürger,
den Ideen der Toleranz, der Solidarität und der gegenseitigen Verantwortlichkeit verpflichtet,
in der Absicht, die Gunst der Lage am Oberrhein als einen Auftrag zur grenzüberschreitenden Vermittlung zu verstehen,
entschlossen, eine im besten Sinn europäische geistige Tradition weiterzuführen.
und eingedenk der Tatsache, dass unser Wohlergehen mit dem Schicksal der übrigen Welt verbunden ist,
hat sich der Kanton Basel-Stadt mit der Zustimmung seiner Stimmberechtigten am ..... diese neue Verfassung gegeben.

Ingress Nr. 5: Thema Besonderheiten

Der Ingress soll den Leserinnen und Lesern noch einmal klar machen, inwiefern sich der Kanton Basel-Stadt durch seine Lage und seine Struktur von anderen Kantonen unterscheidet.

Der Kanton Basel-Stadt,
nach seinem Gebietsumfang der kleinste, zugleich der am dichtesten bevölkerte Kanton der Schweiz,
ein Stadtstaat mit zwei Landgemeinden, dessen Kantonsbehörden auch für die Stadtgeschäfte zuständig sind,
inmitten einer internationalen Region gelegen, für die er immer wieder als Zentrum zu dienen bereit ist,
ein Eingangstor zur Schweiz für Eisenbahnen, Automobile, Schiffe und Flugzeuge,
eine Universitäts-, Kultur- und Museumsstadt, Standort forschender und weltweit tätiger Unternehmen,
hat sich durch den Beschluss seiner Stimmbürgerinnen und Stimmbürger vom .... eine neue Verfassung gegeben,
mit der er seine Aufgaben als souveräner Stand der Eidgenossenschaft im Einvernehmen mit den benachbarten Gemeinwesen und zum Wohl seiner Bevölkerung zu erfüllen gedenkt.

Ingress Nr. 6: Thema Solidarität der Generationen

Es soll vor allem eine Brücke aus der Vergangenheit in die Zukunft geschlagen werden, wobei der gegenwärtigen Generation eine besondere Verantwortung zugehalten wird.

Die Stimmberechtigten des Kantons Basel-Stadt,
aufbauend auf den Errungenschaften früherer Generationen,
im Bewusstsein der Verantwortung gegenüber der Nachwelt,
im Bestreben, nachhaltige wertverbessernde Entwicklungen zu fördern,
in der Pflicht gegenüber Natur und Umwelt und
in der Absicht, die Bedeutung des Kantons als Zentrum von Lehre und Forschung, Kultur und Wirtschaft auch im Interesse der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der grenzüberschreitenden Region zu festigen,
geben sich die folgenden Verfassung:

18. Grundrechte der Europäischen Union vom 12. Juni 2003

Der von Gisgar d’Estaing präsidierte Europäische Konvent ist als ein von den nationalen Regierungen und vom europäischen Parlament gewählter Verfassungsrat zu betrachten. Er legte im Sommer 2003 einen Verfassungsentwurf vor, hatte also in wesentlich kürzerer Zeit als der baselstädtische Verfassungsrat seine Aufgabe erledigt. In der spezifischen französischen Tradition und mit Rücksicht auf europäische Empfindlichkeiten ist in diesem Dokument nicht von einer Verfassung, sondern von einer Charta die Rede.

Die Präambel versucht den wichtigsten Zweck der Europäischen Union zu definieren und eine Sichtweise zu fördern, die sowohl nationale wie regionale und lokale Grössenordnungen wahrnimmt. Sie will das eigene Dokument in die komplexe Architektur internationaler Übereinkommen einbauen und nennt explizit verschiedene Gerichtshöfe.

Von Gott ist nicht die Rede, nur von einem geistig-religiösen Erbe.

Präambel:

Die Völker Europas sind entschlossen, auf der Grundlage gemeinsamer Werte eine friedliche Zukunft zu teilen, indem sie sich zu einer immer engeren Union verbinden.

In dem Bewusstsein ihres geistig-religiösen und sittlichen Erbes gründet sich die Union auf die unteilbaren und universellen Werte der Würde des Menschen, der Freiheit, der Gleichheit und der Solidarität. Sie beruht auf den Grundsätzen der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit. Sie stellt den Mensch in den Mittelpunkt ihres Handelns, indem sie die Unionsbürgerschaft und einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts begründet.

Die Union trägt zur Erhaltung und zur Entwicklung dieser gemeinsamen Werte unter Achtung der Vielfalt der Kulturen und Traditionen der Völker Europas sowie der nationalen Identität der Mitgliedstaaten und der Organisation ihrer staatlichen Gewalt auf nationaler, regionaler und lokaler Ebene bei. Sie ist bestrebt, eine ausgewogene und nachhaltige Entwicklung zu fördern und stellt den freien Personen-, Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr sowie die Niederlassungsfreiheit sicher.

Zu diesem Zweck ist es notwendig, angesichts der Weiterentwicklung der Gesellschaft, des sozialen Fortschritts und der wissenschaftlichen und technologischen Entwicklungen den Schutz der Grundrechte zu stärken, indem sie in einer Charta sichtbarer gemacht werden.

Diese Charta bekräftigt unter Achtung der Zuständigkeiten und Aufgaben der Union und des Subsidiaritätsprinzips die Rechte, die sich vor allem aus den gemeinsamen Verfassungstraditionen und den gemeinsamen internationalen Verpflichtungen der Mitgliedstaaten, aus der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, aus den von der Union und dem Europarat beschlossenen Sozialchartas sowie aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union und des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ergeben. In diesem Zusammenhang wird die Charta von den Gerichten der Union und der Mitgliedstaaten unter gebührender Berücksichtigung der Erläuterungen, die auf Veranlassung und in eigener Verantwortung des Präsidiums des Konvents zur Ausarbeitung der Charta formuliert wurden, ausgelegt werden.

Die Ausübung dieser Rechte ist mit Verantwortlichkeiten und Pflichten sowohl gegenüber den Mitmenschen als auch gegenüber der menschlichen Gemeinschaft und den künftigen Generationen verbunden.

Daher erkennt die Union die nachstehend aufgeführten Rechte, Freiheiten und Grundsätze an.

19. Entscheid des Verfassungsrates von Basel-Stadt vom 21. August 2003

Der Verfassungsrat des Kantons Basel-Stadt beschloss zu diesem Datum, auf eine Präambel in der revidierten Kantonsverfassung mit der knappen Mehrheit von zwei Stimmen ganz zu verzichten. Damit erledigte sich auch die Frage einer invocatio Dei.

Ziemlich sicher wird der Verfassungsrat bei der zweiten Lesung sowohl auf eine Präambel wie auf den lieben Gott zurückkommen.

 
© 2004 Markus KutterNach Oben