Wortlager / Markus Kutter
 
     

       

Warum nennen sich die Basler Liberalen „liberal“?

 

Von Caesar über Schiller und Goethe, Napoleon und Peter
Ochs via Preussen, Spanien und England zurück nach Basel

Den Basler Liberalen oder eben der Liberal-Demokratischen Partei (LDP) Basel-Stadt darf man ein paar Dinge gelegentlich wieder in Erinnerung rufen:

Ihr seid eine revolutionäre Partei. Ihr seid die älteste Partei am Ort. Und eure Partei hat viele Väter aus den verschiedensten europäischen Ländern. Eure Partei hat mit dem wirtschaftlichen Liberalismus, der unbekümmerten Handlungsfreiheit des Unternehmers, nur indirekt zu tun; blosse Sparsamkeit oder „weniger Staat“ gehören geschichtlich nicht zu euren Maximen. Vom Gedankengut und von dessen Geschichte her seit ihr eine Partei für jedermann, also keinesfalls eine Klassen-Partei.

Solche Behauptungen verlangen nach Belegen. Am 21. Dezember 1820 schrieb der Basler Staatsrat Peter Ochs an seinen Brieffreund Martin Usteri in Zürich: „Ich fürchte, dass diese Art von Krise, in der sich Europa befindet, sich gegen die liberalen Prinzipien wenden wird. Wenn ich daran denke, dass diese Prinzipien seit meinem 18. Lebensjahr (also seit 1770) (...) die Nahrung meiner liebsten Gedanken waren, werde ich ganz melancholisch, sie nur noch wie Träume betrachten zu dürfen, bereit sich zu verflüchtigen.“

Hier steht es, unmissverständlich, im Original auf französisch geschrieben: les principes libéraux. Was meinte Ochs damit?

Die grosse Revolution als Mutter eines Begriffes

Man darf zuerst in den Worten von Rudolf Vierhaus, der in den „Geschichtlichen Grundbegriffen“ 1982 den massgeblichen Artikel schrieb, das Allgemeine vorwegnehmen. Vierhaus sagt: „Mit den Wörtern ,liberal‘, ,Liberale‘, ,Liberalismus‘ ist eine der bedeutendsten und mächtigsten politischen Traditionen Europas und der europäisch geprägten Welt angesprochen.“ Diese Tradition bemächtigte sich zuerst der alten lateinischen Wörter ,liberalis‘ und ‘liberalitas’. Cicero belegt es, dass Caesar selber Mitleid und Liberalitas (im Sinn von Grossmütigkeit) unterworfenen Völkern gegenüber zur Maxime erhob. Die ‘artes liberales’, später im 13. Jahrhundert als ‘arts libéraux’ in Frankreich und im 15. Jahrhundert als ‘freie Künste’ in Deutschland übernommen, erwähnte schon Seneca. ‘Liberal’ und ‘Liberalität’ wurden im Deutschen seit dem 16. Jahrhundert verwendet, sie bedeuten freigebig, vorurteilsfrei und guttätig im Sinn von Grosszügigkeit. Eine unmittelbare politische Bedeutung hatten sie noch nicht.

Diese Bedeutung wächst mit dem Wort ,liberal‘ mit der Französischen Revolution zu. Im deutschen Sprachraum bezeichnet es zuerst eine geistige Haltung. Schon 1784 wird von einem „liberalen Wort“ gesprochen, 1788 von einer „liberalen Erziehung“, zusammen mit dem „natürlichen Freiheitssinn des Menschen“, dann bricht die Revolution in Frankreich aus, in den angrenzenden deutschen Fürstentümern und in den kantonalen Republiken der Schweiz zuerst teilweise stürmisch begrüsst, dann drei Jahr später, nach der Erschlagung der Schweizer Garde in Paris und dem jakobinischen Terreurregiment, mit Furcht oder Abscheu beobachtet.

Aber ihre Errungenschaften: die Erklärung der Menschenrechte (analog zur amerikanischen Bill of Rights), die Abschaffung ererbter Gewalten, die Rechtsgleichheit, das Mitspracherecht von Volksrepräsentanten, die durch eine Verfassung geordnete Volkssouveränität werden unumkehrbar – in mancher Beziehung nicht anders, als wie wir es mit Glasnost und Perestrojka in der früheren Sowjetunion in unseren Tagen erlebt haben. Wenn Schiller 1793 voll Kummer über die Entwicklung in Frankreich sagt, „dass das liberale Regiment der Vernunft da noch zu frühe kommt“, wenn Goethe rückblickend auf sein Frankfurter Herkommen 1797 notiert, seine Vaterstadt müsse früher „von Menschen regiert gewesen sein, die keinen liberalen Begriff von öffentlicher Verwaltung, keine Lust an Einrichtung zu besserer Bequemlichkeit des bürgerlichen Lebens gehabt“ hätten, knüpfen solche Aussagen eben nicht nur an den allgemeinen Begriff von ‘liberal’ an, sondern haben schon einen politischen Gehalt. Dieser wird freilich zuerst durch die jakobinische terreur und die militärische Angriffslust des Pariser Direktoriums in Frage gestellt; der liberal Gesinnte kann sich, wie zum Beispiel der Colmarer Dichter Gottlieb Conrad Pfeffel, mit dem zum Teil grausam blutigen Revolutionsgeschehen nicht mehr identifizieren.

Napoleon bringt die Wende. Von 1795 stammt die erste Direktorialverfassung, nach dem Frieden von Campo Formio 1797 erfolgt 1799 der entscheidende Staatsstreich vom
18. Brumaire (9. November), der Napoleon zum ersten Konsul macht. Fünf Jahre später krönt er sich selber zum Kaiser der Franzosen, nachdem kurz vorher eine Volksabstimmung eine erneute Verfassungsänderung gebilligt hatte. Der „Grosse Ploetz“, also das auch bei uns gängigste Nachschlagewerk für historische Daten, hält fest, dass damit Frankreich in der politischen Verfassung endgültig vom liberalen Modell abgerückt sei. Aber schon in den Köpfen der Zeitgenossen spielte sich der genau entgegengesetzte Vorgang ab: Napoleon erschien plötzlich als Vollender der Französischen Revolution, als das politische Genie, das die geistigen Errungenschaften dieser Revolution endlich in die politische Tat umsetzte. Jetzt wurde – vernunftgemäss – das metrische System angenommen, erstmals seit der Revolution wurde 1801 wieder ein regulärer Staatshaushalt aufgestellt, Frankreich bekam 1804 den Code civil, 1806/8 ein Handelsgesetzbuch, eine Zivil- und Strafprozessordnung, 1810 ein Strafgesetzbuch. Die ganze Verwaltung Frankreichs versuchte Napoleon nach rechtsstaatlichen Grundsätzen zu organisieren. In diesem Sinn bediente er sich auch des Begriffes ,liberal‘; er proklamierte schon 1799, dass die bewahrenden, schützenden und liberalen Ideen wieder ihre Rechte bekommen hätten. Liberale Ideen, sagte er, umfassten alles, was die Republik verschönern könne und sie liebenswert mache, was der Revolution einen moralischen Gehalt gebe. Er sagte es auch für die Frankreich angeschlossenen Satellitenstaaten: „Ich werde liberale Ideen blühen lassen, die Völker Deutschlands, Frankreichs, Italiens und Spaniens wünschen die Gleichheit und wollen liberale Ideen.“

Der Rechtsstaat ist der liberale Staat

Wie nun 1814, nach der militärischen Niederlage, Napoleon zum ersten Mal abgesetzt und 1815 nach St. Helena in die endgültige Verbannung geschickt wird, Europa auf dem Wiener Kongress in die Phase der teilweisen Restauration vorrevolutionärer Verhältnisse tritt – oder es wenigstens versucht –, immerhin zum Teil bis heute stabile Grenzbeziehungen vornimmt, wird Napoleon, der doch auch ein militärischer Gewaltherrscher wer, merkwürdigerweise zu einer Verkörperung dieser liberalen Ideen. Es ist die Idee des gesetzlich geordneten Staates mit Rechtsgleichheit, aufgebaut auf einer Verfassung und mit einem durch gewählte Repräsentanten vertretenen Volk, mit Versammlungs- und Pressefreiheit ohne diskriminierte Minderheiten, abgegrenzt auch von der Kirche, der die Aufgabe des Erziehungswesens entzogen werden soll. Im Februar 1814, nachdem die Gesandten Österreichs und Russlands den Schweizern nahegelegt hatten, die alte napoleonische Mediationsverfassung von 1803 auch formell durch eine neue oder nun eben durch neue Kantonsverfassungen zu ersetzen, war Basel wieder der erste Stand, der sich ans Werk machte. In einem von Johann Georg Stehlin, der neben Ochs in der Helvetik eine wichtige Rolle gespielt hatte, inspirierten Ratschlag war ausdrücklich von der „Beibehaltung liberaler Grundsätze zur Erhaltung des Bandes zwischen Stadt und Land“ die Rede. Gemeint war das Bestreben, den Landbürgern der Stadt analoge politische Repräsentationsrechte einzuräumen, auch wenn die dann verabschiedete Verfassung gerade in diesem Punkt, dem Zug der Zeit folgend, erheblich zurückbuchstabierte und damit ein wesentliches Motiv zur späteren Kantonstrennung lieferte. Bürgermeister Johann Heinrich Wieland, einer der Delegierten am Wiener Kongress, musste mehr als einmal den Vorwurf hören, er habe seine Jakobinermütze aus den 90er Jahren noch nicht abgelegt; sein Enkel Carl Wieland sah das 1878 in den ,liberalen‘ Ansichten eines Mannes, der wiederum mit Ochs in enger Verbindung gestanden hatte, begründet.

Aber die Geschichte machte noch viel überraschendere Kehrtwendungen: Die für die Befreiung vom napoleonischen Joch antretenden preussischen Reformer, die Freiherren vom Stein, Hardenberg, Gneisenau, Humboldt und der Philosoph Fichte, beziehen sich auf diese liberalen Ideen und liberalen Regierungsgrundsätze, unter die auch Toleranz, Pressefreiheit und „ungehemmte Geistesentwicklung“ gehören. Zum Teil beziehen sie sich direkt auf die unter dem Eindruck des Durchbruchs der Revolution 1792 niedergeschriebenen Ideen Antoine Condorcets. Als wichtigstes Instrument zur Erneuerung des Staates verstehen sie das Erziehungswesen. Der Geist der Liberalität verbindet sich bei ihnen mit dem Fortschreiten zur Nationalbildung.

Den endgültigen politischen Stempel erhielt liberal in Spanien. Dort war Napoleon 1808 einmarschiert, Karl IV. hatte zu Gunsten seines Sohnes Ferdinand VII. demissioniert, aber die französische Intervention führte zu einem allgemeinen Volksaufstand, einem eigentlichen Unabhängigkeitskrieg, der bis 1814 dauerte. 1812 traten in Cádiz die Cortes, die alten Reichsstände, zusammen und arbeiteten eine Verfassung aus, die – ein analoger Vorgang zu den antinapoleonischen preussischen Reformen – die Grundsätze der Französischen Revolution: Volkssouveränität, konstitutionelle Monarchie, Gewaltentrennung, Garantie der Grundfreiheiten und Schwerpunkt der Macht bei den Volksvertretung, verwirklichen wollte, was ganz und gar nicht im Sinn Ferdinands VII. war. Dessen Anhänger wurden Serviles genannt; die Anhänger dieser Verfassung dagegen nannten sich Liberales; ‘liberal’ war somit zur politischen Parteibezeichnung geworden. Und diese Parteibezeichnung wurde im nachrevolutionären Europa Metternichs international, meinte von Land zu Land zwar nicht die genau gleiche, aber doch eine ähnliche und über das grundsätzliche Ideengut der grossen Revolution verbundene Sache.

In der sogenannten Regenerationszeit, also den ersten 15 Jahren nach dem Wiener Kongress, treten die ersten Theoretiker des klassischen Liberalismus auf. Für die Schweiz besonders wichtig ist Benjamin Constant (1767-1830). Er war in Lausanne geboren, lebte lange Jahre in Deutschland, kam 1818 als Führer der Liberalen in die französische Nationalversammlung. Seine politische Theorie wurde vor allem in die welschschweizerischen Verfassungen übergeführt. Er war ein Anhänger des Zweikammersystems; man darf Constant als den Verfassungstheoretiker der „richtigen Mitte“ (juste milieu) charakterisieren. Als Rechte des Einzelnen will er garantiert wissen: die persönliche Freiheit, die Unabhängigkeit der Justiz und insbesondere das Recht auf Aburteilung durch vom Volk gewählte Geschworene, die Religionsfreiheit, die Gewerbefreiheit, die Unverletzlichkeit des Eigentums und die Pressefreiheit. Constant versuchte auch, die Idee der Volkssouveränität von Rousseau mit den Vorzügen des englischen Parlamentarismus, den er gut kannte, zu vereinen. Die Volkssouveränität sah er in den gewählten Repräsentanten verkörpert, aber zugleich fürchtete er deren Macht, sie könnten nämlich auch „Kandidaten der Tyrannis“ sein. Darum war für ihn die Gewaltentrennung so wichtig, er studierte dem Problem nach, wie durch einen konstitutionellen Monarchen oder eben einen republikanische Verfassung der Machtdrang der gewählten Volksvertreter gebremst werden könne.

Wirtschaftlicher Liberalismus

Damit sind wir entschieden ins 19. Jahrhundert, eben in die Zeit gerutscht, da in Basel Peter Ochs, ein Anhänger der Revolution und ein Bewunderer Napoleons, sich um die „liberalen Prinzipien“ sorgte. Woher aber kommt es denn, dass man heute unter dem Begriff ‘liberal’ häufiger eine wirtschaftlich geprägte Gesellschaftsform versteht, vom Manchester Liberalismus, dem ökonomischen „laisser faire“, redet, eine liberale Partei als eine Vertreterin der freien Wirtschaft betrachtet? Diese Art von Liberalismus hat auch ihre geschichtlichen Wurzeln, aber – man muss das deutlich sehen – sie sind späteren Ursprungs. Da knüpft sich so etwas wie ein zweiter und zusätzlicher Bedeutungsstrang in das historische Geschehen. Hier wird England wichtig, die grosse Gegenmacht Napoleons zur Zeit der Wende vom 18. ins 19. Jahrhundert, die bei der Versammlung der Cortez in Cádiz ihre Hände vehement im Spiel hatte. Aber diese englische Entwicklung fiel im kontinentaleuropäischen Europa auf einen vorbereiteten Boden, nachdem zum Beispiel schon 1816 in Deutschland von den drei Prinzipien der bürgerlichen Wohlfahrt die Rede gewesen war, nämlich Freiheit des Erwerbs (gegen die alten Zunftordnungen und staatlichen Handelsbeschränkungen), Freiheit der Personen (gegen ererbte Machtbefugnisse und Standesunterschiede) und Freiheit der Meinung (gegen Zensur, Presseverbote und Beschränkungen im akademischen Lehrauftrag). Der Wert, aber auch der Wohlstand des Bürgers sollten gehoben werden; die Liberalen in diesem Sinn setzen sich auch für eine gleichmässige Besteuerung aller Bürger ein.

Der ökonomisch definierte Liberalismus geht im wesentlichen auf zwei Väter zurück. Adam Smith (1723-1790), den Verfasser des „Wealth of Nations“, welches Buch schon Isaak Iselin in Basel rezensierte und das die preussischen Reformer 1807 an der Universität Königsberg zum Gegenstand einer Vorlesung machten. Der andere Vater des wirtschaftlichen Liberalismus ist John Stuart Mill (1806-1873), dessen wichtigstes Werk „On Liberty“ heisst. Aber auch diese liberalen Väter beriefen sich auf französische Vorgänger, die sogenannten Ökonomisten, von denen Jean-Claude Marie Vincent de Gournay die Formel „Laisser faire, laisser passer“ geliefert hatte. Sie setzten sich für den Abbau von Handelshemmnissen ein und verlangten vom Staat den Schutz von Freiheit und Eigentum. England war das am frühsten industriell organisierte Land der Welt, das somit auch als erstes in die Auseinandersetzung zwischen den grossen Landbesitzern und dem auf Welthandel und auf Industrialisierung gewerblicher Tätigkeiten erpichten Bürgertum trat. Der entscheidende Kampf wurde zwischen den Tories, der konservativen und auf den Landadel abgestützten Partei, und den Whigs, die sich als fortschrittliche Partei des Bürgertums verstanden, ausgetragen. 1832 übernehmen die Whigs die Führung, setzen ein Reformgesetz durch; 1838 gründet der Fabrikant Richard Cobden in Manchester einen Verein zur Durchsetzung des Freihandels, der sogenannte Manchester Liberalismus nimmt Gestalt an. 1846 – wir sind jetzt schon im Zeitalter der Königin Viktoria – werden die Getreidezölle abgeschafft. 1847 nennen sich die Whigs auch offiziell „Liberal Party“.

Grundsätzlich von den kontinentaleuropäischen Entwicklungen verschieden ist das Bestreben dieser englischen Liberalen, die Interessen des Bürgertums mit denjenigen der Arbeiterschaft zu koordinieren, wohingegen auf dem Kontinent und auch in der Schweiz der klassische Liberale, bei einem im Vergleich zu England unterentwickelten Industrialisierungsgrad, seinen aristokratischen Widersacher im konstitutionellen und seinen orthodoxen Gegner im kirchlich-religiösen Bereich findet. Als ‘liberal’ bezeichnete sich einer, der gegen einen Monarchen von Gottes Gnaden opponierte, weil dieser Landesfürst seinen Landständen keine oder zu geringe parlamentarische Rechte einräumte. Liberal war einer, der alte Standesvorrechte und Zunftprivilegien bekämpfte und die Möglichkeiten des freien Handels für die aufkommende Industrialisierung nützen wollte. Liberal nannte sich, wer die Trennung von Kirche und Staat befürwortete, in katholischen Ländern die Macht des Papstes, in reformierten Ländern ein landeskirchliches Regiment, das sich stellenweise noch auf die Vorschriften der Reformation berufen wollte, verneinte. Somit bekam der Terminus ,liberal‘ in fast jedem europäischen Land eine jeweils etwas andere Bedeutung. Der ,Liberale‘ war der Gegenspieler des preussischen Junkers, des österreichischen Kaisers, der Jesuiten, des städtischen Zunftregimentes, des sein Parlament verachtenden Fürsten. In diesen, je nach der Staatszugehörigkeit anders formulierten Widersprüchen lag die Kraft der 1848er Revolution, die zum Teil erfolgreich waren (etwa in der Schweiz), zum Teil kurzfristig ihr Ziel erreichten (etwa in Frankreich), aber im übrigen Europa meistens misslangen (Frankfurter Bundesversammlung). Politisch dagegen war der Liberalismus unzweifelhaft zur stärksten europäischen Bewegung geworden.

Die Basler Liberalen

Nachweisbar ist, dass die Bezeichnung ‘liberal’ in Basel zwischen 1798 und 1821 eine zunehmend präzisere politische Bedeutung erhielt. Peter Ochs schon verwendet den Ausdruck so; sein erster Biograph, Johann Heinrich David, bedauerte 1821 in einem Rückblick auf die Französische Revolution und ihre terreur, „dass die liberalen Institutionen mit so schrecklichen Opfern erst erkauft wurden“. Freilich, von einer schon als ‘liberal’ deklarierten Partei kann im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts noch nicht die Rede sein. Als ‘liberal’ galt eine geistige und gesellschaftliche Haltung, die das Prinzip der Gewaltentrennung und die Gleichberechtigung aller Bürger (aber noch nicht der Bürgerinnen) akzeptiert hatte und die Rechtsstaatlichkeit forderte. Die Konservativen waren die Leute, die nach 1803 und 1814 zum Teil am liebsten die vorrevolutionären Verhältnisse wieder hergestellt hätten; die Liberalen waren die Leute, die aus der Erbschaft der grossen Revolution und der Helvetik einen neuen und gerechteren Staat bauen wollten.

Durch das ganze 19. Jahrhundert überlagern sich europäische, nationale und kantonale Entwicklungen und führen zu einem ständigen Bedeutungswandel der Begriffe. In Basel nähern sich gelegentlich sogar die Konservativen den Liberalen an. Kantonal entscheidend sind 1814 die Wiedereinführung eines Ratsherrenregimentes mit dreizehn Kleinräten als eigentlicher Regierung, dann die Kantonstrennung von 1833. An ihr sind die damaligen Konservativen, insofern sie das Übergewicht der Stadt und Zunftinteressen vertraten, die Hauptschuldigen; die liberal gesinnten Räte sahen sich durch den Gang der Ereignisse in die Minderheit gedrängt. 1848 war das Jahr der bürgerlichen Revolution in Frankreich und Deutschland, Basel stand zudem unter dem Eindruck der Revolutionsversuche in der badischen Nachbarschaft. Im europäischen Sinn waren das ‘liberale’ Revolutionen, sie wurden im politischen Geschehen der Stadt auf die verschiedenste Weise reflektiert. Basel hatte sich schon früh, nicht zuletzt dank der Weitsichtigkeit konservativer Ratsherren, zur Aufnahme liberal denkender Akademiker bereit gefunden; Alexandre Vinet, Carl Gustav Jung, Ignaz Paul Vital Troxler verstärkten und bereicherten das liberale Gedankengut, aber Parteien gab es vor 1833 im heutigen Sinn noch nicht.

Blickt man auf die Eidgenossenschaft im gesamten, so stellen die entscheidenden Zäsuren der Sonderbundskrieg von 1847 und die Errichtung des Bundesstaates von 1848 dar, der gesamtschweizerisch als ein Sieg der Liberalen gelten darf. Doch die baslerische Regierungsform, das seit 1815 fast ehrenamtlich geführte Ratsherrenregiment, blieb bis 1874 bestehen. In diesem Sinn war Basel altväterischer als die meisten anderen Kantone und wurde es durch die Kantonstrennung von 1833 noch ausgesprochener. Unter den Ratsherren und sogar in den einzelnen Köpfen hielten sich konservative und liberale Tendenzen etwa die Waage, dementsprechend war der Grosse Rat als Parlament parteipolitisch noch nicht in deutliche Fraktionen aufgeteilt. Nicht so sehr trotzdem, sondern vielleicht gerade darum konnte er für die damalige Zeit oft erstaunlich fortschrittlich handeln. 1840 verabschiedete er zum Beispiel ein Gesetz, das dank der Initiative liberaler Grossräte erstmals in der ganzen Welt die progressive Besteuerung durch eine eher konservative Regierung einführte – der Reiche soll dem Staat gegenüber absolut und prozentual mehr leisten müssen als der Arme. Es waren auch im alten Sinn liberal gesinnte Männer, die sich, obwohl selber Fabrikanten, aus eingewurzelter christlicher Überzeugung gegen einen hemmungslosen Manchester Liberalismus wehrten. So Carl Sarasin 1868: „Die Erfahrung lehrt, dass dem Industrialismus hie und da Zügel angelegt, zu Gunsten der der Industrie dienenden Klassen gewisse Schutzmassnahmen aufgestellt werden müssen.“ Sarasin forderte Massnahmen gegen die Kinderarbeit, trat für die gesetzliche Schulpflicht ein, die Regelung der Nachtarbeit, die Begrenzung der täglichen Arbeitszeit, postulierte die Vorsorge für Kranke und Erwerbsunfähige. Man grenzte sich gegen den Wirtschaftsliberalismus, wie er auf Seiten des radikalen Freisinns vertreten wurde, sehr deutlich ab. Dabei waren Konservative und die Männer, die sich in Basel als solche verstanden – Adolf Christ, Andreas I. Heusler, Bernhard Socin – sozial nicht weniger engagiert.

Entstehung der Basler Parteienlandschaft

In diesen Abgrenzungen der politischen Lager wird eine Besonderheit Basels sichtbar, die für andere Städte in der deutschen Schweiz kaum oder gar nicht zutrifft: das Nebeneinander von Liberalen und Freisinnigen, die sich Radikale nannten und von 1919 bis 1973 diesen Namen sogar offiziell führten. Gestärkt durch die Gründung des Bundesstaates von 1848 und getragen von einer Einwanderungswelle grossen Ausmasses in die sich immer stärker industrialisierende Stadt, versetzte der Freisinn, auch er ein Kinde des Liberalismus, nach 1875 die alten Liberalen in die Minderheit, so dass sie sich sogar den seit 1833 stark gewandelten Konservativen wieder annäherten, mit denen sie sich in den religiösen Überzeugungen verbunden fühlten. Eine Art moralische Trauerarbeit über die Kantonstrennung ebnete den politischen Widerspruch aus. (Als Vorbild eines Liberal-Konservativen darf in Zürich Johann Caspar Bluntschli gelten, der nach dem Sonderbundskrieg von 1847 aus Kummer über den Radikalismus die Schweiz Richtung München verliess.) Der liberale Gottlieb Bischoff und der konservative Adolf Christ befassten sich schon in den 60er Jahren mit der Idee der obligatorischen Krankenversicherung, sie empfanden sich als Gesinnungsgenossen. Die Liberalen, die sich zwischen Konservativen und Radikalen als eine Art von „juste milieu“ (im Sinne Constants) betrachteten, verhalfen auch mit Hilfe der Konservativen der stark anwachsenden katholischen Bevölkerungsgruppe zur politischen Anerkennung gegen freisinnige Widerstände; die Freisinnigen ihrerseits mussten sich gegen die aus den Arbeitervereinen heranwachsenden Sozialdemokratie abgrenzen, nachdem sie erfahren hatten, dass die Sozialdemokratie letztendlich sowohl wirtschaftlich wie politisch sehr andere Ziel verfolgte.

Rückblickend lässt sich sagen, dass die wesentlichen Etappen für die noch in der Gegenwart spürbare Ausprägung der Basler Parteienlandschaft die Abschaffung des Ratsherrenregimentes 1875, die Durchführung von Wahlen nach dem Proporzsystem 1905 (womit die freisinnige Vorherrschaft gebrochen wurde) und der Einzug der Sozialdemokraten 1902 in den Regierungsrat und 1917 als stärkste Fraktion in den Grossen Rat darstellen. Bürgerliche Parteien, die sich als solche bezeichnen, gibt es seit 1898. Die 1911 vom Freisinn abgespaltene Bürger- und Gewerbepartei schloss sich 1957 den Liberalen an, weil ihr die Wahrung einer Gewerbepolitik auf freiheitlicher Basis dort am besten gewährleistet schien.

Für die Liberalen typisch (und auch immer wieder beispielhaft) ist die Besinnung auf die verfassungsrechtlichen Grundlagen der staatlichen Gemeinschaft, die Bereitschaft zu Reformen, sofern sie geschichtlich gewachsene und anerkannte Einrichtungen nicht gedankenlos zerstören, Respekt vor geistigen, aber auch unternehmerischen Leistungen, Sorgfalt in der Formulierung von Gesetzen und der Wille, den Staatshaushalt im Gleichgewicht zu halten. Dazu gehört es, künstlerische sowie wissenschaftliche Leistungen, persönliche Rechte und religiöse Überzeugungen zu achten; das Bekenntnis zum eidgenössischen Staat ist stark föderalistisch geprägt, was die Basler Liberalen mit den liberalen Parteien in der Welschen Schweiz verbindet. Durch das ganze 19. Jahrhundert vereinigten solche Überzeugungen Personen sehr verschiedenen Herkommens zum politischen Wirken, das in einer gesellschaftlich überschaubaren Stadt durch Zusammenschlüsse auf verschiedenen Ebenen das notwendige Gewicht erhielt. Dem Regierungs- und Nationalrat Paul Speiser (1846-1935) verdanken es die Liberalen, dass sie seit 1905 unter diesem Namen als eigentliche Partei organisiert und in den Räten vertreten sind. Zugleich ist Paul Speiser das Beispiel eines Liberalen, der dem Staat auch in wirtschaftlichen Dingen eine Rolle zuerkennt, wenn das öffentliche Wohl es verlangt. Der grosse Liegenschaftsbesitz des Kantons Basel-Stadt, die Übernahme der Rheinsalinen durch die öffentliche Hand, die staatlichen Strassenbahnen gehen auf seine Initiative zurück; als Nationalrat hat er auch ein eigentliches Kriegssteuergesetz formuliert. Seine Memoiren über sein öffentliches Wirken sind weniger ein Handbuch als ein Exempel liberal verstandener Politik.

Die Liberalen heute

Geschichtlich betrachtet ist somit die Liberale Partei im Stadtkanton Basel zugleich die älteste als auch revolutionären Ursprungs. Sie nimmt gesamteuropäisches Gedankengut und gesamteuropäische Entwicklungen auf und übersetzt sie in die politische Alltagsarbeit eines kleinen Staatswesens. Sie bekennt sich zuerst zu einem im Rechtssinn geordneten Staat, dessen Gesetze widerspruchslos und rational durchschaubar sein müssen, verankert in einer vom Volk akzeptierten Verfassung. Diese Gesetze sollen dem Wohlergehen der Bürgerinnen und Bürger insgesamt dienen; dieses Wohlergehen ist aber umfassender zu verstehen als die blosse Möglichkeit zum individuellen Wohlstand. Die Liberale Partei anerkennt die sozialen Aufgaben des Staates, aber sie will auch dafür besorgt sein, dass der staatliche Haushalt für das Parlament überschaubar und korrigierbar bleibt. Sie ist keine Klassenpartei, sondern steht als politische Organisation jedermann und gewiss auch jeder Frau offen, die sich mit diesen Zielsetzungen identifizieren können. Sie befürwortet eine möglichst umfassende soziale Verantwortung des einzelnen Bürgers, ohne alles an den Staat delegieren zu wollen; sie sieht in der Erziehungspolitik ein wichtiges staatliches Instrument. Sie postuliert nicht einfach „weniger Staat“, aber sie wünscht sich einen „schlanken“ Staat, der transparent und reformfähig ist. Sie hält am Gedanken der Aufklärung fest: dass erst das Verständnis der Zusammenhänge die Sorgfalt des Handelns zu bewirken vermag. Das gilt besonders für den Umweltschutz, der erfolgreich nur durchgesetzt werden kann, wenn die Wirtschaft selber ökologisch vorgeht, das sogar als in ihrem ökonomischen Interessen liegend begreift. Sie zählt auf grosszügige, vorurteilsfreie und wohlmeinende Bürgerinnen und Bürger. Insofern darf sie die Bezeichnung ,liberal‘ noch heute beanspruchen und es als ihre Aufgabe betrachten, dass sich in der Krise, in die Europa heute wieder geraten könnte, die „liberalen Prinzipien als liebste Gedanken“ nicht verflüchtigen.

 
© 2004 Markus KutterNach Oben