Von Caesar über Schiller und Goethe, Napoleon und Peter
Ochs via Preussen, Spanien und England zurück nach Basel
Den Basler Liberalen oder eben der Liberal-Demokratischen Partei (LDP)
Basel-Stadt darf man ein paar Dinge gelegentlich wieder in Erinnerung
rufen:
Ihr seid eine revolutionäre Partei. Ihr seid die älteste Partei
am Ort. Und eure Partei hat viele Väter aus den verschiedensten
europäischen Ländern. Eure Partei hat mit dem wirtschaftlichen
Liberalismus, der unbekümmerten Handlungsfreiheit des Unternehmers,
nur indirekt zu tun; blosse Sparsamkeit oder „weniger Staat“ gehören
geschichtlich nicht zu euren Maximen. Vom Gedankengut und von dessen
Geschichte her seit ihr eine Partei für jedermann, also keinesfalls
eine Klassen-Partei.
Solche Behauptungen verlangen nach Belegen. Am 21. Dezember 1820 schrieb
der Basler Staatsrat Peter Ochs an seinen Brieffreund Martin Usteri in
Zürich: „Ich fürchte, dass diese Art von Krise, in der
sich Europa befindet, sich gegen die liberalen Prinzipien wenden wird.
Wenn ich daran denke, dass diese Prinzipien seit meinem 18. Lebensjahr
(also seit 1770) (...) die Nahrung meiner liebsten Gedanken waren, werde
ich ganz melancholisch, sie nur noch wie Träume betrachten zu dürfen,
bereit sich zu verflüchtigen.“
Hier steht es, unmissverständlich, im Original auf französisch
geschrieben: les principes libéraux. Was meinte Ochs damit?
Die grosse Revolution als Mutter eines Begriffes
Man darf zuerst in den Worten von Rudolf Vierhaus, der in den „Geschichtlichen
Grundbegriffen“ 1982 den massgeblichen Artikel schrieb, das Allgemeine
vorwegnehmen. Vierhaus sagt: „Mit den Wörtern ,liberal‘,
,Liberale‘, ,Liberalismus‘ ist
eine der bedeutendsten und mächtigsten politischen Traditionen Europas
und der europäisch geprägten Welt angesprochen.“ Diese
Tradition bemächtigte sich zuerst der alten lateinischen Wörter
,liberalis‘ und ‘liberalitas’.
Cicero belegt es, dass Caesar selber Mitleid und Liberalitas
(im Sinn von Grossmütigkeit) unterworfenen Völkern gegenüber
zur Maxime erhob. Die ‘artes liberales’, später im 13.
Jahrhundert als ‘arts libéraux’ in Frankreich und
im 15. Jahrhundert als ‘freie Künste’ in Deutschland übernommen,
erwähnte
schon Seneca. ‘Liberal’ und ‘Liberalität’ wurden
im Deutschen seit dem 16. Jahrhundert verwendet, sie bedeuten freigebig,
vorurteilsfrei und guttätig im Sinn von Grosszügigkeit. Eine
unmittelbare politische Bedeutung hatten sie noch nicht.
Diese Bedeutung wächst mit dem Wort ,liberal‘ mit der
Französischen Revolution zu. Im deutschen Sprachraum bezeichnet
es zuerst eine geistige Haltung. Schon 1784 wird von einem „liberalen
Wort“ gesprochen, 1788 von einer „liberalen Erziehung“,
zusammen mit dem „natürlichen Freiheitssinn des Menschen“,
dann bricht die Revolution in Frankreich aus, in den angrenzenden deutschen
Fürstentümern und in den kantonalen Republiken der Schweiz
zuerst teilweise stürmisch begrüsst, dann drei Jahr später,
nach der Erschlagung der Schweizer Garde in Paris und dem jakobinischen
Terreurregiment, mit Furcht oder Abscheu beobachtet.
Aber ihre Errungenschaften: die Erklärung der Menschenrechte (analog
zur amerikanischen Bill of Rights), die Abschaffung ererbter Gewalten,
die Rechtsgleichheit, das Mitspracherecht von Volksrepräsentanten,
die durch eine Verfassung geordnete Volkssouveränität werden
unumkehrbar – in mancher Beziehung nicht anders, als wie wir es
mit Glasnost und Perestrojka in der früheren Sowjetunion in unseren
Tagen erlebt haben. Wenn Schiller 1793 voll Kummer über die Entwicklung
in Frankreich sagt, „dass das liberale Regiment der Vernunft da
noch zu frühe kommt“, wenn Goethe rückblickend auf sein
Frankfurter Herkommen 1797 notiert, seine Vaterstadt müsse früher „von
Menschen regiert gewesen sein, die keinen liberalen Begriff von öffentlicher
Verwaltung, keine Lust an Einrichtung zu besserer Bequemlichkeit des
bürgerlichen Lebens gehabt“ hätten, knüpfen solche
Aussagen eben nicht nur an den allgemeinen Begriff von ‘liberal’ an,
sondern haben schon einen politischen Gehalt. Dieser wird freilich zuerst
durch die jakobinische terreur und die militärische Angriffslust
des Pariser Direktoriums in Frage gestellt; der liberal Gesinnte kann
sich, wie zum Beispiel der Colmarer Dichter Gottlieb Conrad Pfeffel,
mit dem zum Teil grausam blutigen Revolutionsgeschehen nicht mehr identifizieren.
Napoleon bringt die Wende. Von 1795 stammt die erste Direktorialverfassung,
nach dem Frieden von Campo Formio 1797 erfolgt 1799 der entscheidende
Staatsstreich vom
18. Brumaire (9. November), der Napoleon zum ersten Konsul macht. Fünf
Jahre später krönt er sich selber zum Kaiser der Franzosen,
nachdem kurz vorher eine Volksabstimmung eine erneute Verfassungsänderung
gebilligt hatte. Der „Grosse Ploetz“, also das auch bei uns
gängigste Nachschlagewerk für historische Daten, hält
fest, dass damit Frankreich in der politischen Verfassung endgültig
vom liberalen Modell abgerückt sei. Aber schon in den Köpfen
der Zeitgenossen spielte sich der genau entgegengesetzte Vorgang ab:
Napoleon erschien plötzlich als Vollender der Französischen
Revolution, als das politische Genie, das die geistigen Errungenschaften
dieser Revolution endlich in die politische Tat umsetzte. Jetzt wurde – vernunftgemäss – das
metrische System angenommen, erstmals seit der Revolution wurde 1801
wieder ein regulärer Staatshaushalt aufgestellt, Frankreich bekam
1804 den Code civil, 1806/8 ein Handelsgesetzbuch, eine Zivil- und Strafprozessordnung,
1810 ein Strafgesetzbuch. Die ganze Verwaltung Frankreichs versuchte
Napoleon nach rechtsstaatlichen Grundsätzen zu organisieren. In
diesem Sinn bediente er sich auch des Begriffes ,liberal‘;
er proklamierte schon 1799, dass die bewahrenden, schützenden und
liberalen Ideen wieder ihre Rechte bekommen hätten. Liberale Ideen,
sagte er, umfassten alles, was die Republik verschönern könne
und sie liebenswert mache, was der Revolution einen moralischen Gehalt
gebe. Er sagte es auch für die Frankreich angeschlossenen Satellitenstaaten: „Ich
werde liberale Ideen blühen lassen, die Völker Deutschlands,
Frankreichs, Italiens und Spaniens wünschen die Gleichheit und wollen
liberale Ideen.“
Der Rechtsstaat ist der liberale Staat
Wie nun 1814, nach der militärischen Niederlage, Napoleon zum ersten
Mal abgesetzt und 1815 nach St. Helena in die endgültige Verbannung
geschickt wird, Europa auf dem Wiener Kongress in die Phase der teilweisen
Restauration vorrevolutionärer Verhältnisse tritt – oder
es wenigstens versucht –, immerhin zum Teil bis heute stabile Grenzbeziehungen
vornimmt, wird Napoleon, der doch auch ein militärischer Gewaltherrscher
wer, merkwürdigerweise zu einer Verkörperung dieser liberalen
Ideen. Es ist die Idee des gesetzlich geordneten Staates mit Rechtsgleichheit,
aufgebaut auf einer Verfassung und mit einem durch gewählte Repräsentanten
vertretenen Volk, mit Versammlungs- und Pressefreiheit ohne diskriminierte
Minderheiten, abgegrenzt auch von der Kirche, der die Aufgabe des Erziehungswesens
entzogen werden soll. Im Februar 1814, nachdem die Gesandten Österreichs
und Russlands den Schweizern nahegelegt hatten, die alte napoleonische
Mediationsverfassung von 1803 auch formell durch eine neue oder nun eben
durch neue Kantonsverfassungen zu ersetzen, war Basel wieder der erste
Stand, der sich ans Werk machte. In einem von Johann Georg Stehlin,
der neben Ochs in der Helvetik eine wichtige Rolle gespielt hatte, inspirierten
Ratschlag war ausdrücklich von der „Beibehaltung liberaler
Grundsätze zur Erhaltung des Bandes zwischen Stadt und Land“ die
Rede. Gemeint war das Bestreben, den Landbürgern der Stadt analoge
politische Repräsentationsrechte einzuräumen, auch wenn die
dann verabschiedete Verfassung gerade in diesem Punkt, dem Zug der Zeit
folgend, erheblich zurückbuchstabierte und damit ein wesentliches
Motiv zur späteren Kantonstrennung lieferte. Bürgermeister
Johann Heinrich Wieland, einer der Delegierten am Wiener Kongress,
musste mehr als einmal den Vorwurf hören, er habe seine Jakobinermütze
aus den 90er Jahren noch nicht abgelegt; sein Enkel Carl Wieland sah
das 1878 in den ,liberalen‘ Ansichten eines Mannes, der wiederum
mit Ochs in enger Verbindung gestanden hatte, begründet.
Aber die Geschichte machte noch viel überraschendere Kehrtwendungen:
Die für die Befreiung vom napoleonischen Joch antretenden preussischen
Reformer, die Freiherren vom Stein, Hardenberg, Gneisenau, Humboldt und
der Philosoph Fichte, beziehen sich auf diese liberalen Ideen und liberalen
Regierungsgrundsätze, unter die auch Toleranz, Pressefreiheit und „ungehemmte
Geistesentwicklung“ gehören. Zum Teil beziehen sie sich direkt
auf die unter dem Eindruck des Durchbruchs der Revolution 1792 niedergeschriebenen
Ideen Antoine Condorcets. Als wichtigstes Instrument zur Erneuerung des
Staates verstehen sie das Erziehungswesen. Der Geist der Liberalität
verbindet sich bei ihnen mit dem Fortschreiten zur Nationalbildung.
Den endgültigen politischen Stempel erhielt liberal in Spanien.
Dort war Napoleon 1808 einmarschiert, Karl IV. hatte zu Gunsten seines
Sohnes Ferdinand VII. demissioniert, aber die französische Intervention
führte zu einem allgemeinen Volksaufstand, einem eigentlichen Unabhängigkeitskrieg,
der bis 1814 dauerte. 1812 traten in Cádiz die Cortes, die alten
Reichsstände, zusammen und arbeiteten eine Verfassung aus, die – ein
analoger Vorgang zu den antinapoleonischen preussischen Reformen – die
Grundsätze der Französischen Revolution: Volkssouveränität,
konstitutionelle Monarchie, Gewaltentrennung, Garantie der Grundfreiheiten
und Schwerpunkt der Macht bei den Volksvertretung, verwirklichen wollte,
was ganz und gar nicht im Sinn Ferdinands VII. war. Dessen Anhänger
wurden Serviles genannt; die Anhänger dieser Verfassung dagegen
nannten sich Liberales; ‘liberal’ war somit zur politischen
Parteibezeichnung geworden. Und diese Parteibezeichnung wurde im nachrevolutionären
Europa Metternichs international, meinte von Land zu Land zwar nicht
die genau gleiche, aber doch eine ähnliche und über das grundsätzliche
Ideengut der grossen Revolution verbundene Sache.
In der sogenannten Regenerationszeit, also den ersten 15 Jahren nach
dem Wiener Kongress, treten die ersten Theoretiker des klassischen Liberalismus
auf. Für die Schweiz besonders wichtig ist Benjamin Constant (1767-1830).
Er war in Lausanne geboren, lebte lange Jahre in Deutschland, kam 1818
als Führer der Liberalen in die französische Nationalversammlung.
Seine politische Theorie wurde vor allem in die welschschweizerischen
Verfassungen übergeführt. Er war ein Anhänger des Zweikammersystems;
man darf Constant als den Verfassungstheoretiker der „richtigen
Mitte“ (juste milieu) charakterisieren. Als Rechte des Einzelnen
will er garantiert wissen: die persönliche Freiheit, die Unabhängigkeit
der Justiz und insbesondere das Recht auf Aburteilung durch vom Volk
gewählte Geschworene, die Religionsfreiheit, die Gewerbefreiheit,
die Unverletzlichkeit des Eigentums und die Pressefreiheit. Constant
versuchte auch, die Idee der Volkssouveränität von Rousseau mit den Vorzügen des englischen Parlamentarismus, den er gut kannte,
zu vereinen. Die Volkssouveränität sah er in den gewählten
Repräsentanten verkörpert, aber zugleich fürchtete er
deren Macht, sie könnten nämlich auch „Kandidaten der
Tyrannis“ sein. Darum war für ihn die Gewaltentrennung so
wichtig, er studierte dem Problem nach, wie durch einen konstitutionellen
Monarchen oder eben einen republikanische Verfassung der Machtdrang der
gewählten Volksvertreter gebremst werden könne.
Wirtschaftlicher Liberalismus
Damit sind wir entschieden ins 19. Jahrhundert, eben in die Zeit gerutscht,
da in Basel Peter Ochs, ein Anhänger der Revolution und ein Bewunderer
Napoleons, sich um die „liberalen Prinzipien“ sorgte. Woher
aber kommt es denn, dass man heute unter dem Begriff ‘liberal’ häufiger
eine wirtschaftlich geprägte Gesellschaftsform versteht, vom Manchester
Liberalismus, dem ökonomischen „laisser faire“, redet,
eine liberale Partei als eine Vertreterin der freien Wirtschaft betrachtet?
Diese Art von Liberalismus hat auch ihre geschichtlichen Wurzeln, aber – man
muss das deutlich sehen – sie sind späteren Ursprungs. Da
knüpft sich so etwas wie ein zweiter und zusätzlicher Bedeutungsstrang
in das historische Geschehen. Hier wird England wichtig, die grosse Gegenmacht
Napoleons zur Zeit der Wende vom 18. ins 19. Jahrhundert, die bei der
Versammlung der Cortez in Cádiz ihre Hände vehement im Spiel
hatte. Aber diese englische Entwicklung fiel im kontinentaleuropäischen
Europa auf einen vorbereiteten Boden, nachdem zum Beispiel schon 1816
in Deutschland von den drei Prinzipien der bürgerlichen Wohlfahrt
die Rede gewesen war, nämlich Freiheit des Erwerbs (gegen die alten
Zunftordnungen und staatlichen Handelsbeschränkungen), Freiheit
der Personen (gegen ererbte Machtbefugnisse und Standesunterschiede)
und Freiheit der Meinung (gegen Zensur, Presseverbote und Beschränkungen
im akademischen Lehrauftrag). Der Wert, aber auch der Wohlstand des Bürgers
sollten gehoben werden; die Liberalen in diesem Sinn setzen sich auch
für eine gleichmässige Besteuerung aller Bürger ein.
Der ökonomisch definierte Liberalismus geht im wesentlichen auf
zwei Väter zurück. Adam Smith (1723-1790), den Verfasser des „Wealth
of Nations“, welches Buch schon Isaak Iselin in Basel rezensierte
und das die preussischen Reformer 1807 an der Universität Königsberg
zum Gegenstand einer Vorlesung machten. Der andere Vater des wirtschaftlichen
Liberalismus ist John Stuart Mill (1806-1873), dessen wichtigstes Werk „On
Liberty“ heisst. Aber auch diese liberalen Väter beriefen
sich auf französische Vorgänger, die sogenannten Ökonomisten,
von denen Jean-Claude Marie Vincent de Gournay die Formel „Laisser
faire, laisser passer“ geliefert hatte. Sie setzten sich für
den Abbau von Handelshemmnissen ein und verlangten vom Staat den Schutz
von Freiheit und Eigentum. England war das am frühsten industriell
organisierte Land der Welt, das somit auch als erstes in die Auseinandersetzung
zwischen den grossen Landbesitzern und dem auf Welthandel und auf Industrialisierung
gewerblicher Tätigkeiten erpichten Bürgertum trat. Der entscheidende
Kampf wurde zwischen den Tories, der konservativen und auf den Landadel
abgestützten Partei, und den Whigs, die sich als fortschrittliche
Partei des Bürgertums verstanden, ausgetragen. 1832 übernehmen
die Whigs die Führung, setzen ein Reformgesetz durch; 1838 gründet
der Fabrikant Richard Cobden in Manchester einen Verein zur Durchsetzung
des Freihandels, der sogenannte Manchester Liberalismus nimmt Gestalt
an. 1846 – wir sind jetzt schon im Zeitalter der Königin Viktoria – werden
die Getreidezölle abgeschafft. 1847 nennen sich die Whigs auch offiziell „Liberal
Party“.
Grundsätzlich von den kontinentaleuropäischen Entwicklungen
verschieden ist das Bestreben dieser englischen Liberalen, die Interessen
des Bürgertums mit denjenigen der Arbeiterschaft zu koordinieren,
wohingegen auf dem Kontinent und auch in der Schweiz der klassische Liberale,
bei einem im Vergleich zu England unterentwickelten Industrialisierungsgrad,
seinen aristokratischen Widersacher im konstitutionellen und seinen orthodoxen
Gegner im kirchlich-religiösen Bereich findet. Als ‘liberal’ bezeichnete
sich einer, der gegen einen Monarchen von Gottes Gnaden opponierte, weil
dieser Landesfürst seinen Landständen keine oder zu geringe
parlamentarische Rechte einräumte. Liberal war einer, der alte Standesvorrechte
und Zunftprivilegien bekämpfte und die Möglichkeiten des freien
Handels für die aufkommende Industrialisierung nützen wollte.
Liberal nannte sich, wer die Trennung von Kirche und Staat befürwortete,
in katholischen Ländern die Macht des Papstes, in reformierten Ländern
ein landeskirchliches Regiment, das sich stellenweise noch auf die Vorschriften
der Reformation berufen wollte, verneinte. Somit bekam der Terminus ,liberal‘ in
fast jedem europäischen Land eine jeweils etwas andere Bedeutung.
Der ,Liberale‘ war der Gegenspieler des preussischen Junkers,
des österreichischen Kaisers, der Jesuiten, des städtischen
Zunftregimentes, des sein Parlament verachtenden Fürsten. In diesen,
je nach der Staatszugehörigkeit anders formulierten Widersprüchen
lag die Kraft der 1848er Revolution, die zum Teil erfolgreich waren (etwa
in der Schweiz), zum Teil kurzfristig ihr Ziel erreichten (etwa in Frankreich),
aber im übrigen Europa meistens misslangen (Frankfurter Bundesversammlung).
Politisch dagegen war der Liberalismus unzweifelhaft zur stärksten
europäischen Bewegung geworden.
Die Basler Liberalen
Nachweisbar ist, dass die Bezeichnung ‘liberal’ in Basel
zwischen 1798 und 1821 eine zunehmend präzisere politische Bedeutung
erhielt. Peter Ochs schon verwendet den Ausdruck so; sein erster Biograph,
Johann Heinrich David, bedauerte 1821 in einem Rückblick auf die
Französische Revolution und ihre terreur, „dass die liberalen
Institutionen mit so schrecklichen Opfern erst erkauft wurden“.
Freilich, von einer schon als ‘liberal’ deklarierten Partei
kann im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts noch nicht die Rede sein.
Als ‘liberal’ galt eine geistige und gesellschaftliche Haltung,
die das Prinzip der Gewaltentrennung und die Gleichberechtigung aller
Bürger (aber noch nicht der Bürgerinnen) akzeptiert hatte und
die Rechtsstaatlichkeit forderte. Die Konservativen waren die Leute,
die nach 1803 und 1814 zum Teil am liebsten die vorrevolutionären
Verhältnisse wieder hergestellt hätten; die Liberalen waren
die Leute, die aus der Erbschaft der grossen Revolution und der Helvetik
einen neuen und gerechteren Staat bauen wollten.
Durch das ganze 19. Jahrhundert überlagern sich europäische,
nationale und kantonale Entwicklungen und führen zu einem ständigen
Bedeutungswandel der Begriffe. In Basel nähern sich gelegentlich
sogar die Konservativen den Liberalen an. Kantonal entscheidend sind
1814 die Wiedereinführung eines Ratsherrenregimentes mit dreizehn
Kleinräten als eigentlicher Regierung, dann die Kantonstrennung
von 1833. An ihr sind die damaligen Konservativen, insofern sie das Übergewicht
der Stadt und Zunftinteressen vertraten, die Hauptschuldigen; die liberal
gesinnten Räte sahen sich durch den Gang der Ereignisse in die Minderheit
gedrängt. 1848 war das Jahr der bürgerlichen Revolution in
Frankreich und Deutschland, Basel stand zudem unter dem Eindruck der
Revolutionsversuche in der badischen Nachbarschaft. Im europäischen
Sinn waren das ‘liberale’ Revolutionen, sie wurden im politischen
Geschehen der Stadt auf die verschiedenste Weise reflektiert. Basel hatte
sich schon früh, nicht zuletzt dank der Weitsichtigkeit konservativer
Ratsherren, zur Aufnahme liberal denkender Akademiker bereit gefunden;
Alexandre Vinet, Carl Gustav Jung, Ignaz Paul Vital Troxler verstärkten
und bereicherten das liberale Gedankengut, aber Parteien gab es vor 1833
im heutigen Sinn noch nicht.
Blickt man auf die Eidgenossenschaft im gesamten, so stellen die entscheidenden
Zäsuren der Sonderbundskrieg von 1847 und die Errichtung des Bundesstaates
von 1848 dar, der gesamtschweizerisch als ein Sieg der Liberalen gelten
darf. Doch die baslerische Regierungsform, das seit 1815 fast ehrenamtlich
geführte Ratsherrenregiment, blieb bis 1874 bestehen. In diesem
Sinn war Basel altväterischer als die meisten anderen Kantone und
wurde es durch die Kantonstrennung von 1833 noch ausgesprochener. Unter
den Ratsherren und sogar in den einzelnen Köpfen hielten sich konservative
und liberale Tendenzen etwa die Waage, dementsprechend war der Grosse
Rat als Parlament parteipolitisch noch nicht in deutliche Fraktionen
aufgeteilt. Nicht so sehr trotzdem, sondern vielleicht gerade darum konnte
er für die damalige Zeit oft erstaunlich fortschrittlich handeln.
1840 verabschiedete er zum Beispiel ein Gesetz, das dank der Initiative
liberaler Grossräte erstmals in der ganzen Welt die progressive
Besteuerung durch eine eher konservative Regierung einführte – der
Reiche soll dem Staat gegenüber absolut und prozentual mehr leisten
müssen als der Arme. Es waren auch im alten Sinn liberal gesinnte
Männer, die sich, obwohl selber Fabrikanten, aus eingewurzelter
christlicher Überzeugung gegen einen hemmungslosen Manchester Liberalismus
wehrten. So Carl Sarasin 1868: „Die Erfahrung lehrt, dass dem Industrialismus
hie und da Zügel angelegt, zu Gunsten der der Industrie dienenden
Klassen gewisse Schutzmassnahmen aufgestellt werden müssen.“ Sarasin
forderte Massnahmen gegen die Kinderarbeit, trat für die gesetzliche
Schulpflicht ein, die Regelung der Nachtarbeit, die Begrenzung der täglichen
Arbeitszeit, postulierte die Vorsorge für Kranke und Erwerbsunfähige.
Man grenzte sich gegen den Wirtschaftsliberalismus, wie er auf Seiten
des radikalen Freisinns vertreten wurde, sehr deutlich ab. Dabei waren
Konservative und die Männer, die sich in Basel als solche verstanden – Adolf
Christ, Andreas I. Heusler, Bernhard Socin – sozial nicht weniger
engagiert.
Entstehung der Basler Parteienlandschaft
In diesen Abgrenzungen der politischen Lager wird eine Besonderheit
Basels sichtbar, die für andere Städte in der deutschen Schweiz
kaum oder gar nicht zutrifft: das Nebeneinander von Liberalen und Freisinnigen,
die sich Radikale nannten und von 1919 bis 1973 diesen Namen sogar offiziell
führten. Gestärkt durch die Gründung des Bundesstaates
von 1848 und getragen von einer Einwanderungswelle grossen Ausmasses
in die sich immer stärker industrialisierende Stadt, versetzte der
Freisinn, auch er ein Kinde des Liberalismus, nach 1875 die alten Liberalen
in die Minderheit, so dass sie sich sogar den seit 1833 stark gewandelten
Konservativen wieder annäherten, mit denen sie sich in den religiösen Überzeugungen
verbunden fühlten. Eine Art moralische Trauerarbeit über die
Kantonstrennung ebnete den politischen Widerspruch aus. (Als Vorbild
eines Liberal-Konservativen darf in Zürich Johann Caspar Bluntschli
gelten, der nach dem Sonderbundskrieg von 1847 aus Kummer über den
Radikalismus die Schweiz Richtung München verliess.) Der liberale
Gottlieb Bischoff und der konservative Adolf Christ befassten sich schon
in den 60er Jahren mit der Idee der obligatorischen Krankenversicherung,
sie empfanden sich als Gesinnungsgenossen. Die Liberalen, die sich zwischen
Konservativen und Radikalen als eine Art von „juste milieu“ (im
Sinne Constants) betrachteten, verhalfen auch mit Hilfe der Konservativen
der stark anwachsenden katholischen Bevölkerungsgruppe zur politischen
Anerkennung gegen freisinnige Widerstände; die Freisinnigen ihrerseits
mussten sich gegen die aus den Arbeitervereinen heranwachsenden Sozialdemokratie
abgrenzen, nachdem sie erfahren hatten, dass die Sozialdemokratie letztendlich
sowohl wirtschaftlich wie politisch sehr andere Ziel verfolgte.
Rückblickend lässt sich sagen, dass die wesentlichen Etappen
für die noch in der Gegenwart spürbare Ausprägung der
Basler Parteienlandschaft die Abschaffung des Ratsherrenregimentes 1875,
die Durchführung von Wahlen nach dem Proporzsystem 1905 (womit die
freisinnige Vorherrschaft gebrochen wurde) und der Einzug der Sozialdemokraten
1902 in den Regierungsrat und 1917 als stärkste Fraktion in den
Grossen Rat darstellen. Bürgerliche Parteien, die sich als solche
bezeichnen, gibt es seit 1898. Die 1911 vom Freisinn abgespaltene Bürger-
und Gewerbepartei schloss sich 1957 den Liberalen an, weil ihr die Wahrung
einer Gewerbepolitik auf freiheitlicher Basis dort am besten gewährleistet
schien.
Für die Liberalen typisch (und auch immer wieder beispielhaft)
ist die Besinnung auf die verfassungsrechtlichen Grundlagen der staatlichen
Gemeinschaft, die Bereitschaft zu Reformen, sofern sie geschichtlich
gewachsene und anerkannte Einrichtungen nicht gedankenlos zerstören,
Respekt vor geistigen, aber auch unternehmerischen Leistungen, Sorgfalt
in der Formulierung von Gesetzen und der Wille, den Staatshaushalt im
Gleichgewicht zu halten. Dazu gehört es, künstlerische sowie
wissenschaftliche Leistungen, persönliche Rechte und religiöse Überzeugungen
zu achten; das Bekenntnis zum eidgenössischen Staat ist stark föderalistisch
geprägt, was die Basler Liberalen mit den liberalen Parteien in
der Welschen Schweiz verbindet. Durch das ganze 19. Jahrhundert vereinigten
solche Überzeugungen Personen sehr verschiedenen Herkommens zum
politischen Wirken, das in einer gesellschaftlich überschaubaren
Stadt durch Zusammenschlüsse auf verschiedenen Ebenen das notwendige
Gewicht erhielt. Dem Regierungs- und Nationalrat Paul Speiser (1846-1935)
verdanken es die Liberalen, dass sie seit 1905 unter diesem Namen als
eigentliche Partei organisiert und in den Räten vertreten sind.
Zugleich ist Paul Speiser das Beispiel eines Liberalen, der dem Staat
auch in wirtschaftlichen Dingen eine Rolle zuerkennt, wenn das öffentliche
Wohl es verlangt. Der grosse Liegenschaftsbesitz des Kantons Basel-Stadt,
die Übernahme der Rheinsalinen durch die öffentliche Hand,
die staatlichen Strassenbahnen gehen auf seine Initiative zurück;
als Nationalrat hat er auch ein eigentliches Kriegssteuergesetz formuliert.
Seine Memoiren über sein öffentliches Wirken sind weniger ein
Handbuch als ein Exempel liberal verstandener Politik.
Die Liberalen heute
Geschichtlich betrachtet ist somit die Liberale Partei im Stadtkanton
Basel zugleich die älteste als auch revolutionären Ursprungs.
Sie nimmt gesamteuropäisches Gedankengut und gesamteuropäische
Entwicklungen auf und übersetzt sie in die politische Alltagsarbeit
eines kleinen Staatswesens. Sie bekennt sich zuerst zu einem im Rechtssinn
geordneten Staat, dessen Gesetze widerspruchslos und rational durchschaubar
sein müssen, verankert in einer vom Volk akzeptierten Verfassung.
Diese Gesetze sollen dem Wohlergehen der Bürgerinnen und Bürger
insgesamt dienen; dieses Wohlergehen ist aber umfassender zu verstehen
als die blosse Möglichkeit zum individuellen Wohlstand. Die Liberale
Partei anerkennt die sozialen Aufgaben des Staates, aber sie will auch
dafür besorgt sein, dass der staatliche Haushalt für das Parlament überschaubar
und korrigierbar bleibt. Sie ist keine Klassenpartei, sondern steht als
politische Organisation jedermann und gewiss auch jeder Frau offen, die
sich mit diesen Zielsetzungen identifizieren können. Sie befürwortet
eine möglichst umfassende soziale Verantwortung des einzelnen Bürgers,
ohne alles an den Staat delegieren zu wollen; sie sieht in der Erziehungspolitik
ein wichtiges staatliches Instrument. Sie postuliert nicht einfach „weniger
Staat“, aber sie wünscht sich einen „schlanken“ Staat,
der transparent und reformfähig ist. Sie hält am Gedanken der
Aufklärung fest: dass erst das Verständnis der Zusammenhänge
die Sorgfalt des Handelns zu bewirken vermag. Das gilt besonders für
den Umweltschutz, der erfolgreich nur durchgesetzt werden kann, wenn
die Wirtschaft selber ökologisch vorgeht, das sogar als in ihrem ökonomischen
Interessen liegend begreift. Sie zählt auf grosszügige, vorurteilsfreie
und wohlmeinende Bürgerinnen und Bürger. Insofern darf sie
die Bezeichnung ,liberal‘ noch heute beanspruchen und es
als ihre Aufgabe betrachten, dass sich in der Krise, in die Europa heute
wieder geraten könnte, die „liberalen Prinzipien als liebste
Gedanken“ nicht verflüchtigen.
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