Wortlager / Markus Kutter
 
     

       

Zwischen Jura, Vogesen und Schwarzwald

 

Inhaltsverzeichnis

  1.   Die erste Einheit

  2.   König gegen General

  3.   Der Papst aus dem Elsass.

  4.   Das verschwundene Fürstentum..

  5.   Brückentheorien, erster Teil

  6.   Alle Macht den Pflanzen.

  7.   Weltgeschichte en miniature.

  8.   Die Umklammerung

  9.   Hintergründe einer Klostergründung

10.   Eine Regio in der Regio.

11.   Herr Armleder

12.   Alte Basler Familie

13.   Schulreform

14.   Das Geschenk der Zuwanderer

15.   Als Basel dem Reich untreu wurde

16.   Ausblick auf den Rhein.

17.   Die Taufe Amerikas.

18.   Der Schatten des Lehrers

19.   Gesangverein.

20.   Kapitalistische Geschäfte.

21.   Bis dass der Tod uns scheidet

22.   Praktische Toleranz.

23.   Wie Goethe zu Faust kam..

24.   Schuhe als Erkennungszeichen.

25.   Ein Renaissance-Mensch.

26.   Der Blick auf die Welt

27.   Reiseunterhaltung

28.   Der Ernst des Lebens

29.   Die eidgenössische Schwester

30.   Le Bâle français

31.   Krankengut aus der Regio

32.   Hinter die Fassade verbannt

33.   Zu Unrecht vergessen.

34.   War denn immer Krieg?

35.   Das Familiendenkmal

36.   Die Brille auf der Nase.

37.   Fürstenresidenz Basel

38.   Das Schloss verschwand, der Name blieb.

39.   Der Abtransport der Habsburger

40.   Der erste Basler Deutschprofessor

41.   Die Faust im Nacken

42.   Der Landesvater

43.   Basler Kapital fürs Hinterland.

44.   Adeliges Rokoko

45.   Metternichs Verwandte.

46.   Ob der Mensch zum Fliegen gebohren sey?

47.   Schwierigkeiten beim Technologietransfer

48.   Spazierfahrten im 18. Jahrhundert

49.   Fremder Gast in einer Umbruchzeit

50.   Kreativ, kommunikativ und interdisziplinär ...

51.   Die Erfindung der Landwirtschaft

52.   Warum Mülhausen französisch wurde

53.   Ein deutscher Franzose mit Schweizer Pass

54.   Ein Reichsland verschwindet

55.   Für den Bürgermeister eine Dose mit Brillanten.

56.   Karriere-Diplomat in Basel

57.   Ein Paradies für Spione.

58.   Der Profi des Nachrichtendienstes.

59.   Aktuelle Landkarte.

60.   Ein Opfer des Zeitgeists.

61.   Staatenlos, konfessionslos und Künstler

62.   Vom Zwergstaat zum Grossherzogtum

63.   Der Architekt eines Staates

64.   Auf den Spuren der süddeutsch-schweizerischen Republik.

65.   Königreich Helvetien.

66.   Das Spitzbuben-Dreieck.

67.   Eine Traube mit vielen Beeren

68.   Abschied aus Not

69.   Pestherd Schweiz.

70.   Das Werk des alten Faust

71.   Ein Strassenname – weiter nichts?

72.   Die Unvergessene

73.   Ein Eisenbahnstandort

74.   Wer das Gas nach Basel brachte

75.   Hans im Schnokeloch

76.   Holz und Heidelbeeren

77.   Städtegründer

78.   Man kann alles, wenn man will

79.   Hölle, und dann Reklamefahrten

80.   Nun muss er schaffen, der Vater Rhein

81.   Die Mildtätigkeit des Spekulanten

82.   Der Vorgänger

1.    Die erste EinheitNach Oben

Hat das, was die Basler Regio, Dreieckland oder Dreiland heissen, eine gemeinsame Geschichte? Blosse Nachbarschaft, sozusagen Ellenbogen an Ellenbogen, reicht dazu nicht aus. Die Frage ist vielmehr, ob familiäre Bande, gleiche wirtschaftliche Grundlagen und Entwicklungen, verwandte Sprache, ähnliche soziale Strukturen und Herrschaftsverhältnisse diesem Gebiet am Oberrhein dann auch zu zusammenhängenden politischen und staatlichen Formen verhalfen. Und ab wann wir solche Gemeinsamkeiten entdecken können.

Im vierten Jahrhundert nach Christus sitzen links vom Rhein die Gallorömer, rechts davon die Alemannen. Die Bischöfe von Strassburg und Basel, von Besançon und Konstanz sind eher Konkurrenten als Partner. Das Reich der Zähringer im Breisgau entwickelt sich anders als die Reichsvogtei der Habsburger im Elsass. Mit dem Eintritt von Basel in den Bund der Eidgenossen lösen sich die Beziehungen zum elsässischen Städtebund, der sogenannten Dekapolis, und zur Markgrafschaft. Nach 1648 wird das Elsass französisch, Freiburg ist eine österreichische Stadt, der Fürstbischof von Basel fühlt sich als Reichsfürst, auch wenn er bei der französischen Krone ein Regiment unterhält. In der Revolutionszeit wird das Fürstbistum bis nach Arlesheim und Allschwil sogar ganz französisch. Nach 1815 stehen die Nationalstaaten Frankreich, Deutschland (repräsentiert durch das Grossherzogtum Baden) und Schweiz fest – bis heute, auch wenn das Elsass noch zweimal zwischen Frankreich und Deutschland hin- und hergerissen wird. Ein Dreiland im Sinn eines Staates oder gar einer Nation ist da nicht zu entdecken, auch wenn Bernhard von Sachsen-Weimar zur Zeit des Dreissigjährigen Krieges von einem oberrheinischen Fürstentum träumt. Und somit ist eine eigene Regio-Geschichte vielleicht nur ein Wunschtraum.

Wenn sie hier im Internet trotzdem, illustriert an einzelnen Ereignissen oder Personen, erzählt werden soll, ist sie für Historiker, die letzten Endes von den heutigen Nationalstaaten her denken, nichts weiter als eine Fiktion. Wer auf eine Realität pocht, und sei es eine nur unterschwellige, muss sich rechtfertigen. Rund 2000 Jahre Geschichte überblicken wir einigermassen, wenn auch mit Lücken. Und naturgemäss sind diese am Anfang die grössten. Sich eine Vorstellung vom oberrheinischen Gebiet zur Zeit der Kelten, Römer, Alemannen, Franken bis zu den merowingischen und karolingischen Herrschern zu machen, ist mühsam.

Schriftliche Zeugnisse für diese acht Jahrhunderte sind selten, manchmal fehlen sie ganz. Wo aber Geschriebenes fehlt, betreten die Archäologen die Bühne. Im Basler Stadtbuch 1991 berichtet der Kantonsarchäologe Rolf d’Aujourd’hui über die Identität der Regio vor 2000 Jahren und bezieht sich dabei vor allem auf einen längeren Beitrag von Yolanda Hecht, Peter Jud und Norbert Spichtig in der Sondernummer Archäologie der Schweiz von 1991. Und siehe da: Nach dieser jüngsten Forschungsübersicht kann von einer gewissen Einheit des Gebietes, das wir heute als die oberrheinische Regio betrachten und als deren Bewohner antike Schriftsteller die Rauracher oder Rauriker nennen, durchaus die Rede sein. Es ist ein Volk oder vielleicht nur ein Stamm, der als Nachbarvölker die Sequaner und die Helvetier kennt. Zeitlich sind wir in der sogenannten Latène-Zeit, also der jüngeren Eisenzeit, aber eher an deren Ende, nämlich in der Mitte des zweiten Jahrhunderts vor Christus. Da taucht so etwas wie ein Dreiland erstmals auf.

Seine Ausdehnung ergibt sich nach den Fundstellen. Die nördlichsten liegen im badischen Kreis Emmendingen sowie im Elsass bei Wettolsheim, die südlichsten bei Balsthal und Courroux im Kanton Jura, die östlichsten bei Kirchzarten und bei Erlinsbach, Kanton Aargau, sowie bei Oltingen, die westlichsten bei Dannemarie und Friesen im Sundgau. Das Gebiet hat also eine Länge von rund 100 Kilometern in südlicher Richtung, eine Breite von um die 50 Kilometer in ost-westlicher Richtung. In den Worten der Archäologen: Es ist eine geschlossene Siedlungszone, es ist die archäologisch greifbare Regio vor rund 2200 Jahren. Jean-Daniel Schoepflin, der im 18. Jahrhundert in der Nachfolge des Beatus Rhenanus den Beginn der Geschichte am Oberrhein nachzeichnen wollte, wäre begeistert gewesen.

Bei den jetzt festliegenden Fundstellen handelt es sich um Siedlungen und mögliche Siedlungen, um Befestigungen, Münzen und ganze Münzdepots, um Gräber und Gräberfelder. Ihre Erfassung auf einer Karte zeigt die Schwerpunkte im ganzen Siedlungsraum: am Kaiserstuhl und in den Freiburger Bucht, zwischen den Vogesen auf der Höhe von Breisach und entlang der Ill bis in den Sundgau; am Rheinknie, im Delsberger Becken, bei Sissach und im Fricktal verdichten sich die Fundstellen. Die heutigen Agglomerationen sind schon vorgezeichnet. Vorgezeichnet sind auch die Wege, vor allem im Elsass, nämlich die drei parallel laufenden Nord-Südrouten von Basel aus dem Rhein entlang, seitlich zur Ill und am Fuss der Vogesen.

Die hier angesiedelten Kelten kannten die Eisengewinnung und –verarbeitung. Sie hatten ihre eigenen keramische Technik, bauten mächtige Brennöfen. Handel trieben sie mit Italien, von wo Amphoren mit Wein importiert wurden, aber auch italienische Gläser oder Bronzegeschirr. Sie kannten bereits die Geldwirtschaft, ihre Münzen, die italische Vorbilder nachahmten, zirkulierten auch über die Stammesgrenzen hinaus. Sie waren Meister in der Verarbeitung von Steinen, etwa für Mühlen, mit denen sie Handel trieben; ihre Toten bestatteten sie in der Erde.

Waren sie auch politisch ein einheitliches Volk? Die Arbeit von Hecht, Jud und Spichtig formulierte es mit der geratenen Vorsicht: „Nach aussen tritt die Gemeinschaft als politische Einheit auf, nach innen konstituiert sie sich unter anderem als Rechtsgemeinschaft, Kultgemeinschaft, vielleicht auch Trachtengemeinschaft. (...) In unserem Fall scheint vor allem das zusammenhängende Siedlungsgebiet für eine ethnisch einheitliche Bevölkerung zu sprechen.“ Und somit hatten sie gewiss auch eine gemeinsame Geschichte, nur kenne wir die nicht.

Basel, wenn man wieder auf die Karte blickt, sitzt ziemlich genau im Zentrum des ganzen Gebietes. Die auf dem Areal der früheren Sandoz ausgegrabenen Funde könnten auf die grösste Siedlung im ganzen Raum von rund 12 Hektaren Grösse verweisen, aber auch der Münsterhügel war schon von Raurikern bewohnt. Wie verschieden die Geschichte dem Dreiland zwischen Jura, Vogesen und Schwarzwald in den folgenden 2000 Jahren auch immer mitgespielt hat – an diesem historisch-archäologisch greifbaren Anfang war sie eine Einheit links und rechts oberhalb des Rheins. Sie darf sich daran immer wieder erinnern.

2.    König gegen GeneralNach Oben

Der berühmteste militärische Rechenschaftsbericht der Weltgeschichte nennt sich „De bello Gallico“ von Gaius Iulius Caesar, handelt also vom Gallischen Krieg. Mit den Galliern, französisch den Gaulois, sind die keltischen Stämme des heutigen Frankreichs gemeint. Im ersten Buch, Kapitel 31, tritt ein germanischer König namens Ariovist auf, der sich im Gebiet der Sequaner, dem fruchtbarsten in ganz Gallien, eingenistet hat. Caesar gibt wieder, was ein Sprecher der Gallier sagt:

„Nachdem Ariovist jedoch einmal die Gallier in der Schlacht bei Magetobriga geschlagen habe, regiere er selbstherrlich und grausam... Er sei ein jähzorniger und unberechenbarer Barbar, sie könnten die Art seiner Herrschaft nicht länger ertragen.“ So sprach der Haeduer Diviciacus und sagte auch, dass die Gallier befürchten müssten, aus ihrem angestammten Gebiet vertrieben zu werden, weil immer mehr Germanen über den Rhein kämen. „Das Land der Germanen sei nämlich mit dem der Gallier überhaupt nicht zu vergleichen, ebensowenig wie die gallische Lebensweise mit der germanischen.“

Der Teil von Gallien, um den es hier geht, ist das Elsass, der Sundgau bis gegen Besançon, es ist das heutige Dreiland auf der linksrheinischen Seite. Es war für die Germanen eine Art von gelobtem Land, durch seine Fruchtbarkeit und Lieblichkeit ein Traumziel.

Caesars Bericht, wohl der frühste über den Oberrhein, setzt uns 2000 Jahre später in einige Verlegenheit im Hinblick auf die Geografie und die politischen Nachrichten. Wo liegt Magetobriga – ein Dorf, ein Fluchtort, eine Stadt? Wo hat der Germanenkönig Ariovist die linksrheinischen Kelten so geschlagen, dass er sich in der Folge als eine Art Schutzkönig in ihrem Gebiet niederlassen und sie sich tributpflichtig machen konnte? Dann haben wir Mühe mit den zahlreichen Stammesnamen, die Caesar aufzählt. Bekannt sind die Helvetier, die im schweizerischen Mittelland sassen, die Rauriker, die sich als ihre Vettern südwestlich der Basler Rheinkrümmung angesiedelt hatten. Die Sequaner wohnten wohl von Besançon her bis ins mittlere Elsass. Weiter nördlich schlossen sich die Triboker an, während die Haeduer, mit den Sequanern tief zerstritten, wahrscheinlich im Tal der Saône zu finden waren.

Eigentliche Grenzen in unserem Sinn sind zwischen diesen Völkern schwer auszumachen, es handelt sich um ineinander verzahnte Stammesgebiete. Verkehrt wäre auch die Annahme, dass es sich da um friedlich sesshafte Urbevölkerungen gehandelt hätte. Sogar die Helvetier, die Caesar nach der Schlacht von Bibracte an der Auswanderung Richtung Atlantikküste hinderte und zur Rückkehr ins Mittelland zwang, waren dort erst seit relativ kurzer Zeit, vielleicht um die 100 Jahre, angesiedelt gewesen, möglicherweise hatten sie die früheren Allobroger vertrieben.

Aber nun Ariovist, der selbstherrliche und grausame Germanenkönig, der nach Caesar von den Sequanern gegen die Haeduer zur Hilfe gerufen worden war und es sich im oberen Elsass wohl sein liess. Er war seinerseits von den aus Osten nachstossenden Germanenstämmen bedrängt, von denen er auf Kosten der Sequaner die befreundeten Haruden ansiedeln wollte. In dieser Not wandten sich die Gallier an Caesar, der als Befehlshaber des heute sündfranzösischen Galliens ein Interesse daran haben musste, dass der germanische Druck nicht ständig neue Stämme gegen seine Provinz anbranden liess. Darum hatte er ja auch den Auszug der Helvetier verhindert. In Eilmärschen führte er seine Truppen heran, um nicht nur seine Provinz, sondern auch die befreundeten Haeduer vor Ariovist zu schützen.

Caesar schickt eine Gesandtschaft zu Ariovist. Sie erhält die hochmütige Antwort: Wenn Caesar etwas von Ariovist wolle, solle er sich gefälligst zu ihm begeben. Und überhaupt – was habe Caesar in Gallien verloren? Die Forderungen Caesars lassen an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig: Keine weiteren Germanen mehr über den Rhein, Rückgabe der Geiseln, Friede mit den Haeduern. Ariovist zieht sofort nach: Er sei Sieger, auch über die Haeduer; die Römer könnten, wenn sie wollten, ruhig angreifen. Zugleich setzt er sich selber Richtung Besançon, damals Vesontio genannt, in Marsch. Caesar kommt ihm zuvor, indem er die Besatzung von Vesontio verstärkt. Seine Truppen geraten freilich in ein moralisches Tief – diese Germanen sind furchterregend und schrecklich! Caesar veranstaltet einen Offiziersrapport, setzt zu einer grossen Rede an, in der er darlegt, dass die Helvetier militärisch diesen Germanen überlegen gewesen seien, jetzt aber hätten sie, die Römer, soeben die Helvetier besiegt. Er werde auf jeden Fall mit der 10. Legion gegen Ariovist marschieren.

„Diese Rede bewirkte bei allen einen erstaunlichen Sinneswandel“ – so Caesar in seinem Bericht. Da Ariovist eine Begegnung zu Pferd verlangt, Caesar aber den gallischen Hilfsreitern misstraut, lässt er die Soldaten der 10. Legion die gallischen Pferde besteigen. Vom Pferd herab unterreden sich der germanische König und der römische General. In welcher Sprache, ist nicht gesagt. Kann Ariovist, der offiziell den Titel eines Freundes des römischen Volkes führt, lateinisch? Oder kann Caesar, dessen Privatlehrer ein hochgebildeter Kelte gewesen war, auch keltisch? Oder steht ein Übersetzer vom Keltischen ins Lateinische zur Verfügung, da Ariovist im Elsass keltisch gelernt hatte? Die Unterredung führt zu keinem Ergebnis. Ariovist versteift sich darauf, dass er von den Sequanern gerufen über den Rhein gekommen sei. Er befindet sich übrigens schon länger in Gallien als die Römer. Derweilen kommt es zwischen den Reitern Ariovists und den berittenen Legionären zu ersten Streitereien. Es wird klar, die Sache muss militärisch entschieden werden.

Der Ort, an dem Caesar im Jahr 58 vor Christus Ariovist so besiegte, dass e sich schleunigst über den Rhein retten musste, ist mit Sicherheit nicht auszumachen. Fünf Meilen (in einzelnen Handschriften 50 Meilen) habe die Distanz zum Rhein betragen. Das nördlich von Mülhausen gelegene Ochsenfeld könnte bei fünf Meilen in Frage kommen, bei 50 Meilen müsste man das Schlachtfeld eher in Richtung zur burgundischen Pforte suchen. Archäologisch konnte es bis heute nicht nachgewiesen werden.

Die für die Legionen siegreiche Schlacht – von Caesar selber in allen Einzelheiten geschildert – darf aber nicht nur als eine Konfrontation von Römern und Germanen gesehen werden. Sie war ebenso eine Auseinandersetzung zwischen verschiedenen keltischen Stämmen, teils mit Rom verbündet, teils mit germanischen Fürsten befreundet. Die Helvetier zur Rückkehr gezwungen, Ariovist geschlagen – das Jahr 58 vor Christus war für die römische Präsenz in Gallien eher strapaziös gewesen. Der Bericht schliesst: „Nachdem Caesar in einem Sommer zwei so bedeutende Kriege siegreich beendet hatte, hiess er sein Heer etwas früher, als es die Jahreszeit erforderte, in das Gebiet der Sequaner ins Winterlager abrücken.“

3.    Der Papst aus dem ElsassNach Oben

Im Jahr 2002, am 21. Juni: Grosses Fest im elsässischen Eguisheim. Gefeiert wird die 1000jährige Wiederkehr des Geburtstages des heilig gesprochenen elsässischen Papstes Leo IX., der von 1002 bis 1054 lebte, also im Alter von erst 52 Jahren starb.

Hohes Mittelalter nennen wir diese Zeit. Sie führt die abendländische Welt in den Grenzen, die 200 Jahre zuvor Karl der Grosse entworfen hatte, zu ganz verschiedenen Höhepunkten. In der Architektur löst die Romanik die ottonische Bauweise ab – nachvollziehbar, wenn man heute von St. Cyriak in Sulzburg (ottonisch) auf die andere Rheinseite zur Klosterkirche von Murbach (romanisch) wechselt. In der Literatur findet eine Wiederentdeckung der Antike statt, besonders der römischen Schriftsteller; Kaiser Otto I. will die deutsche Kaiserwürde erneut an die römische anknüpfen. Damit stellt sich zugleich die Frage, in welchem Verhältnis die bestimmenden Männer der Zeit, der von den deutschen Herzögen gewählte König und Kaiser und der vom römischen Adel gewählte Papst, zueinander stehen. Das führt zum sogenannten Investiturstreit zwischen Kaiser und Papst, bei dem es um die Ernennung und Bestätigung der Bischöfe und Erzbischöfe geht. Der Kirche wachsen durch die von Cluny im Burgund ausgehenden Reformbestrebungen neue Kräfte zu; unter dem cluniazensischen Grossabt Hugo bildet sich durch ganz Europa ein Verband von rund 3000 Abteien und Prioraten, die den Führungsanspruch von Cluny anerkennen. Der Versuch, die deutsche Kaiserwürde vererbbar zu machen, scheitert mit dem Tod des erst 21jährigen Otto III., der, wie sein Vater und Grossvater, auch Anspruch auf Italien erhebt und sogar daran denkt, Rom erneut zum Zentrum des Reiches zu machen. Das heisst, dass der jetzt deutsch-römische Kaiser zwei der drei Nachfolgestaaten Karls des Grossen an sich zu ziehen versucht. Auch das Königreich Burgund (nicht zu verwechseln mit dem französischen Herzogtum Burgund), zu dem von der Reuss an die ganze Westschweiz und Savoyen gehören, fällt wieder ans Reich, Basel bekommt die Zuneigung des Nachfolgers von Otto, Heinrich II., zu spüren. Der französische König ist weit weg; der ihm noch lange nicht ergebene normannische Adel blickt einesteils Richtung England und gründet andernteils in Italien eine weitere Herrschaft in Apulien, die sich bis nach Kalabrien, Sizilien, Benevent und Neapel erweitert, also auch bisher oströmisches und sarazenisches Gebiet an sich zieht.

Die Lebensdaten Leos IX. markieren zwei epochale Ereignisse: In seinem Geburtsjahr 1002 erlischt mit dem Tod Ottos III. das ottonische oder sächsische Kaisertum; in seinem Todesjahr 1054 erfolgt die endgültige Trennung der west- von der oströmischen Kirche.

Aber nun zu seiner Person, über die wir ungewöhnlich gut dokumentiert sind, weil Wibert, ein Archidiakon von Toul und offenbar ein Lebensgefährte Leos, dessen Geschichte auf lateinisch ausgiebig beschrieben hat. Kein Zweifel, Leo kam in Eguisheim zur Welt, eine kurze Wegstrecke westlich von Colmar. Er war fürstlichen Geblüts, sein Vater Hugo führte den Titel eines Grafen des Nordgaus, also des unteren Elsasses, und stammte von Adalrich ab, den Childerich, König von Austrasien, um 662 zum elsässischen Herzog eingesetzt hatte. Hugo war verwandt mit dem Haus der fränkischen Kaiser, da seine Tante Adelheid die Mutter Konrads II. war. Er hatte insgesamt acht Kinder, das dritte wurde auf den Namen Bruno getauft. Im Alter von knapp über fünf Jahren schickten die Eltern Bruno zu Berthold, dem Bischof von Toul in Lothringen, in die Schule, in ein Internat für Adelskinder. In den Ferien daheim soll er einmal im Schlaf von einem Tier – Wibert sagt: einer Kröte – lebensgefährlich angefallen worden sein. Bruno lebte in Toul in der kanonischen Gemeinschaft des Bischofs, wurde aber nicht Mönch. Wie sein Onkel Konrad 1024 zum deutschen König gewählt wurde, bekam er die Stelle eines königlichen Kaplans, und als 23jähriger zog er erstmals mit dem König nach Italien, um das rebellische Mailand zu unterwerfen. Dort erreichte ihn der Ruf, Nachfolger des verstorbenen Bischofs von Toul zu werden. Der noch nicht 35jährige königliche Onkel liess ihn ungern gehen.

Als Bischof von Toul sehen wir Bruno nach 1027 mit der Kirchenreform beschäftigt, die – und hier wird der Einfluss von Cluny sichtbar – zuerst eine Reform der Klöster war. Kirchenarbeit war immer auch Politik; Lothringen stellte für das Reich das westlichste Herzogtum dar, zugleich die Brücke zum französischen Königreich; südlich vom Elsass lag das von Frankreich unabhängige Königreich Burgund, das gerade jetzt, unter den fränkischen Kaisern, wieder an das Reich gezogen wurde. Der Bischof von Toul erwies sich dabei als treuer Gefolgsmann des Kaisers.

Papst wird der elsässische Grafensohn 1049 dank seines allseits anerkannten verbindlichen Charakters, auf Grund seiner erfolgreichen Reformarbeit im Bistum, wegen seiner (auf mehreren Pilgerfahrten erworbenen) Italienkenntnis, nicht zuletzt auch auf Wunsch des ihm verwandten Kaisers Heinrich III., dem Sohn Konrads. Seine Kandidatur für den römischen Stuhl wird auf dem Reichstag in Worms aufgestellt. Er will aber nicht Papst werden, wenn ihn nicht auch das Volk und der Adel von Rom wählen. Das geschieht am 2. Februar 1049, Bruno nimmt den Namen Leo IX. an.

Seine päpstliche Herrschaft beendet ein unwürdiges Zwischenspiel rivalisierender Vorgänger; er gilt als der bedeutendste deutsche Reformpapst, und zu seinem Gefolge zählt schon in Worms der aus Italien stammende Mönch Hildebrand, der 1073 als Gregor VII. König Heinrich IV. zum Gang nach Canossa zwingen wird. Leo stellt sich gegen den weit verbreiteten Ämterkauf, die sogenannte Simonie, bekämpft die zu seiner Zeit häufigen Priesterehen. Politisch gerät er in einen schwerwiegenden Konflikt mit der normannischen Herrschaft in Apulien, wo sich ein Kräftevieleck zwischen dem kaiserlichen Heer, oströmischen Herrschaften, den Sarazenen und den Normannen ergibt, welche letztere als Gegner Leos ihn in Benevent belagern und ihn dann handkehrum als Gefolgsleute nach Rom kurz vor seinem Tod zurückbegleiten. Die Mission seiner Delegierten nach Konstantinopel endet unglücklich, 1054 wird das Schisma zwischen der west- und oströmischen Kirche endgültig.

Erstaunlich aus heutiger Sicht ist die Reisetätigkeit Leos, die Pilgerfahrten nach Rom als Bischof von Toul, die Besuche als Papst im Elsass und im Reich. Was mussten das, auf Pferderücken, für beschwerliche Expeditionen gewesen sein! Was uns vom Wesen Leos überliefert ist, zeigt – nach Abzug der mittelalterlichen Verherrlichung – ein so entschiedenes wie sanftes Gemüt, einen von Mitleid bewegten, zugleich visionären Menschen, der viel von seinen eigenen Träumen redete. Er war sprachgewandt, beherrschte lateinisch, deutsch, französisch, italienisch, als Papst wollte er sich noch das Griechische aneignen. Er starb bei vollem Bewusstsein, unter Gesprächen mit seinen Vertrauten und langen Gebeten. „Herr, gewähre den Ländern, durch die Dein Diener gereist ist, reichlich Korn und Wein und Öl“, betete er auf dem Totenbett. Er war in seinem Herzen ein Elsässer geblieben.

4.    Das verschwundene FürstentumNach Oben

Hier für einmal so etwas wie ein Rätsel oder eine Quizfrage: 1000 Jahre lang gab es am Oberrhein ein Fürstentum. Das war reich, berühmt, mächtig. Verschiedene Kaiser und Könige waren ihm gewogen, beschenkten es, aber suchten auch seinen Rat. Die Territorien, die es als Eigenbesitz oder Lehen verwaltete, waren bald grösser, bald kleiner – über 1000 Jahre bleiben Herrschaftsgebiete selten konstant. Die Herren dieses Fürstentums verwalteten Besitztümer im heutigen Elsass und Sundgau, aber auch rechts vom Rhein und hatten im schweizerischen Luzern ein gewichtiges Wort mitzureden. Ihr Lebensstil war wahrhaft fürstlich, gegen Ende ihrer Herrschaft eher etwas dekadent. Ruhm erwarben sie sich in geistigen Dingen, der grosse Gelehrte Alkuin aus der Zeit Karls des Grossen wollte sich dort in seinen alten Tagen zurückziehen. In der Mitte des 9. Jahrhunderts umfasste der Bücherschatz dieses Fürstentums 300 Manuskripte, Kirchenväter so gut wie klassische Texte von Cicero, Titus Livius, Sallust, Lukrez. Das Oberhaupt der Herrschaft zählte mit den Bischöfen von Strassburg und Basel zu den Reichsfürsten. Noch im 18. Jahrhundert suchte Jean-Daniel Schoepflin, der Verfasser der grossen, lateinisch geschriebenen Geschichte des Elsasses und ein Lehrer Goethes, die fürstlichen Archive auf, um seine Quellenstudien zu treiben.

Wo lag es denn? Weniger als eine Stunde im Auto von Freiburg oder Basel entfernt. Fahren Sie nach Guebwiller und dann weiter ins Florival oder Lauchtal, zweigen Sie links ab, so kommen Sie nach Murbach. Ein paar unregelmässige alte Häuser, eine torähnliche Einfahrt – plötzlich stehen Sie zwei mächtigen romanischen Kirchentürmen von über 43 m Höhe mit stumpfen Dächern aus grau-rotem Sandstein gegenüber. Es ist die Stiftskirche von Murbach. Das Vierungsquadrat, also der zwischen den Türmen verbleibende Raum, ist so gross, dass er noch immer eine stattliche Kirche beherbergen kann. Doch wo ist das Langhaus? Es fehlt, nur das hinter der Kirche liegende Friedhofareal deutet noch an, wie gross es gewesen sein muss.

Um 726 beauftragte der elsässische Graf Eberhard den herumziehenden Bischof Pirmin mit der Gründung einer Klostergemeinschaft nach der Regel des Heiligen Benedikt in Murbach. Sie erhielt vom König die Immunität, das heisst dessen Verwaltungsbeamten hatten auf dem Territorium der Abtei nichts mehr zu suchen. Sie wurden auch von der Aufsicht des Strassburger Bischofs befreit, die Mönche konnten ihren Abt selber wählen. Die benediktinische Regel räumte der landwirtschaftlichen Arbeit eine grosse Bedeutung ein; man darf sich vorstellen, wie die Angehörigen von Murbach die dicht bewaldeten Vogesentäler rodeten und kultivierten. Die Rebe war aus römischen Zeiten schon angesiedelt.

Die Abtei wurde von ihrem Gründer reich beschenkt, im Oberelsass so gut wie im unteren Elsass, im Sundgau, aber auch in der Delsberger Gegend. Die Kirche war dem heiligen Leodegar (St. Léger) gewidmet, dem um 616 geborenen Bischof von Autun, der einen politisch bedingten Märtyrertod erlitten hatte und ein Grossonkel des Stifters Eberhard aus dem Geschlecht der Etichonen war. 775 machte der König Karl, der spätere Kaiser Karl der Grosse, aus der Abtei eine autonome, nur von der königlichen Gewalt abhängige Herrschaft; er selber führte 792 den Titel eines pastor Muracensis, war also ihr (laizistischer) Abt.

Bis nach dem Dreissigjährigen Krieg war Murbach somit geistliches Reichsland, Teil des Römischen Reiches deutscher Nation. Es wurde vom 9. bis ins 13. Jahrhundert ein Hort der Gelehrsamkeit. Aus dem 9. Jahrhundert sind althochdeutsche Übersetzungen lateinischer Hymnen bekannt, die Manuskripte liegen heute in Oxford. Alkuin, so etwas wie der aus England stammende Kulturminister Karls des Grossen, schätzte und besuchte Murbach. Im 10. Jahrhundert wurde es, wie Basel, von den Ungarn verwüstet, aber auferstand nachher, im Zug der cluniazensischen Reform, in grösserer Pracht. Aus den benediktinischen Mönchen wurden zunehmend adlige Stiftsherren. Territorial hatte sich die ursprüngliche Schenkung gewaltig erweitert, das benachbarte Tal von Saint-Amarin, die Herrschaft Delle, rechtsrheinische Besitztümer waren dazugekommen. Es waren die Herren von Murbach, die 1178 Luzern das Stadtrecht verschafften. Und unter dem Staufenkaiser Friedrich II. wurde der Murbacher Abt Reichsfürst.

So sehr damit die weltliche Macht der Fürstabtei Murbach stieg, die geistige Bedeutung ging zurück. Philippe Legin, der 1980 dieses oberrheinische Fürstentum letztmals beschrieb, sieht schon zu Beginn des 14. Jahrhunderts Anzeichen des Verfalls. Er hat politische Gründe: die Anlehnung Murbachs zuerst an die habsburgischen Kaiser, dann nach 1680 an die französische Krone. Er hat kriegerische Gründe: die schwere Beeinträchtigung der auf Rebbau und Landwirtschaft ausgerichteten Herrschaft Murbach durch die Verheerungen im Dreissigjährigen Krieg. Er hat soziale Gründe: die Forderung, dass nur mindestens über vier Generationen adlige Stiftsherren in die Abtei eintreten durften. Er hat wirtschaftliche Gründe: einzelne Fürstäbte missbrauchten Murbach als persönliche Einkommensquelle und stürzten die Herrschaft in gewaltige Schulden.

Das Ende brachte formell die Französische Revolution, auf deutsches Reichsrecht zurückgehende Feudalherrschaften wurden in der Nach vom 4. August 1789 aufgehoben. 1790 wurde Murbach Teil des Departementes Haut-Rhin. Aber den Zerfall der eigentlichen Kirche und der Klostergebäude hatten die Stiftsherren schon früher und selber ins Werk gesetzt. Das verlassene Waldtal war ihnen nämlich zu langweilig geworden, sie zogen hinab nach Guebwiller, das sie zum Städtlein ausbauten, aber auf keinen Fall demokratisch regiert wissen wollten. Fürstabt Casimir-Léger von Rathsamhausen strebte noch einmal nach der alten Pracht, er wollte die romanische Kathedrale auf barocke Weise umbauen. Somit zogen die Stiftsherren nach Guebwiller, kehrten aber nie mehr zurück, weil für den geplanten Umbau das Geld ausging. Sie blieben im Städtlein. Der letzte Fürstabt wurde François-Antoine-Benoît-Frédéric d’Andlau-Hombourg, er war bei seiner Wahl 1786 nur 25 Jahre alt. Als Vertreter des geistlichen Standes wurde er 1789 Deputierter der Etats-Généraux. Der revolutionäre Zorn der Leute aus dem Lauchtal richtete sich schon nicht mehr gegen die verlassene Stiftskirche in Murbach, sondern es wurden die Häuser der Stiftsherren in der Stadt geplündert, die Weinkeller ausgetrunken. Die letzten Stiftsherren versuchten wenigstens die Archive zu retten, ohne grossen Erfolg. Kärgliche Reste landeten im Departementsarchiv zu Colmar, der Grossteil wurde gestohlen, verschachert, unter der Hand verkauft. Eine Restauration aus dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts hat die beiden Türme der Stiftskirche von Murbach einigermassen gerettet. Sie stehen da als Zeugen einer tausendjährigen Geschichte, die seit 200 Jahren ohne Fortsetzung ist. Alle Departemente, Kantone, Länder und Nationen in der Nachbarschaft von Murbach sind jüngeren Datums und haben wenig Chancen, jemals auf 1000 Jahre kontinuierlicher Geschichte zurückblicken zu können.

5.    Brückentheorien, erster TeilNach Oben

Kaiser sind über sie geritten und gezogen, Könige und Heerführer, geistliche Herren und Flüchtlinge: über die breite Basler Brücke, wie Johann Peter Hebel sie nannte. Sie soll die erste und lange Zeit die einzige zwischen dem Bodensee und der Nordsee gewesen sein – ein Märchen. Fridolin Leuzinger hat 1989 ein einer Artikelserie die Dinge historisch zurechtgerückt: Die Basler Rheinbrücke war, regierungsrätlichen Reden zum Trotz, weder die erste noch die einzige. Ihr Erbauungsdatum kennen wir genau, es ist 1226. Aber jetzt wissen wir auch, dass schon 1207 ein Rechtsstreit zwischen einer Äbtissin von Säckingen und dem Schirmvogt von Laufenburg, einem habsburgischen Gefolgsmann, entbrannte, der sich um die dortige Brücke drehte. Also muss sie ja wohl schon vor der Basler Brücke gestanden haben. Wir müssen Abschied nehmen von einer für Basel allzu schmeichelhaften Legende, aber das soll uns nicht hindern, noch einmal die Brücken sowohl in Basel wie oberhalb und unterhalb der Stadt ins Auge zu fassen. Versuchen wir, so etwas wie eine Brückentheorie aufzustellen. Wovon gehen wir aus?

Am besten wohl von einer These. Diese könnte lauten: Jede Brücke in und um Basel entspringt einer exakten historischen, also auch ökonomischen, sozialen, militärischen und verkehrstechnischen Entwicklungsstufe, die man im geschichtlichen Zusammenhang begreifen sollte. 800 Jahre lassen sich einigermassen zuverlässig überblicken, bei weiteren 1200 Jahren ist man auf fragmentarische Überbleibsel angewiesen, weiter zurück kann man nur noch Vermutungen anstellen.

Was macht ein Mensch, der an einen Fluss kommt? Er versucht auf die andere Seite zu gelangen. Das kann schwimmend oder auf einem Floss geschehen. Und wenn er Vieh mit sich führt? (Schon eine Kuh in einen Weidling zu stellen, ist nicht gerade ein glückliches Unternehmen.) Dann sucht er eben nach Furten, das heisst nach Stellen von niedriger Wasserführung, über die man zwar mit nassen Füssen, aber doch auf eigenen Beinen schreiten kann. Nun darf man sich viele Jahrhunderte oder sogar Jahrtausende zurück, den Rhein nicht wie heute vorstellen. Er war ungebärdiger, gelegentlich bei Niedrigwasser auch sanfter. Es gab noch keine Kanäle und Staustufen. Ein trockener Spätsommer konnte den Rhein so absinken lassen, dass man ihn tatsächlich durchwaten konnte. Man kennt die entsprechenden Stellen, sie liegen bei Wallbach, Rheinfelden und Kleinhüningen, wo der Rhein nach der Enge bei Basel plötzlich breit und von Inseln durchsetzt zu werden begann. Da müssen unsere keltischen Urahnen samt ihren Tieren durchgewatet sein.

Die frühere Keltensiedlung am unteren Rand des heutigen Basel (bei der ehemaligen Sandoz) könnte etwas damit zu tun haben. Auf jeden Fall war dort der Rhein weniger tief und reissend. Er liess sich einfacher mit Fahrzeugen überqueren als in Basel selber. Flüsse waren schon früher Transportwege. Und an diesem Punkt, eben knapp unterhalb des heutigen Basel, war die Landverbindung zwischen dem Doubs und dem Rhein die kürzeste. Also war das ein idealer Platz für handeltreibende Leute. Dann kamen die Römer. Sicher bestand zu römischen Zeiten bei Kaiseraugst eine Brücke oder eine als Brücke dienende Anlage über den Rhein, das bestätigen Überreste einer rechtsrheinischen Anlage. Als der römische Grenzwall, der limes, weit nach Norden Richtung Augsburg verlegt wurde, spielte der Rheinübergang bei Kaiseraugst militärisch eine wichtige Rolle.

Der Rhein in der Basler Gegend biegt sich ab wie ein Knie. Die heutige Stadt kann man als einen viergeteilten Kuchen sehen: ein Stück rechtsrheinisch, drei Stücke linksrheinisch. Im 3. und 4. Jahrhundert tauchen rechtsrheinisch die Alemannen auf, auf der linken Seite bleiben die romanisierten Kelten, die Gallorömer. Oder wie der frühere Kantonsarchäologe Rudolf Moosbrugger sagt: Der Rhein war zum Röstigraben geworden. Das dauerte lange an; eine Zeitlang gehörte Basel zum Königreich Burgund, und noch im späten Mittelalter unterstand das Kleinbasel dem Bistum Konstanz, der Basler Bischof gehörte zur Erzdiözese Besançon, und viele Basler Bischöfe sprachen französisch. Von Brücken vernehmen wir nichts.

Im späten 12. und frühen 13. Jahrhundert entsteht eine neue Situation. Das Elsass ist habsburgisches Stammland, das sich um die auch weltlichen Herrschaften der Bischöfe von Strassburg und Basel in Richtung auf die heutige Schweiz und den Rhein aufwärts erweitern will. Die Waldstädte Rheinfelden, Säckingen, Laufenburg und Waldshut werden vorderösterreichisch. Verschiedene klösterliche Herrschaften, aber auch die sich unter dem Bischof zünftisch organisierende Stadt, sehen sich eingeengt. Darum der Streit zwischen der Äbtissin von Säckingen und dem Schirmvogt von Laufenburg: diese Rheinbrücke soll dem habsburgischen Herrschaftsstreben dienen. Die Brücke bei Rheinfelden wurde vermutlich schon 1200 gebaut, diesmal von den rechtsrheinischen Konkurrenten der Habsburger, den Zähringern. Für Säckingen darf man ebenfalls eine alte Brücke für die Jahre um 1270 annehmen.

Der Bau der Basler Brücke ist eine politische Antwort des Bischofs auf diese Situation. Er konnte sie nicht allein finanzieren, die weiteren Geldgeber waren der Abt von St. Blasien und der Prior von Bürgeln. Auch das hat seine politische Logik. Verkehr und Handel sollten nicht in das zähringische oder habsburgische Gebiet abwandern. Und was nicht weniger wichtig ist: Erst mit dieser Brücke wurde die systematische Besiedlung des Kleinbasel möglich. Es wurde eigentlich wie Manhattan angelegt – drei Parallelstrassen zum Rhein und senkrecht dazu die verbindenden Gassen. Da Basel seit dieser Zeit bis ins 18. Jahrhundert hinein die dominierende Stadt am Oberrhein war, wurde diese Vorgängerin der heutigen Mittleren Brücke bald einmal die wichtigste. Über sie kamen und gingen die Fuhren ins Wiesental und nach Süddeutschland, auf ihr zogen 1814 die gekrönten Häupter Russlands, Österreichs und Preussen auf ihrem Feldzug gegen das napoleonische Frankreich in Basel ein.

Aber diese dem Handel dienende, die herrschaftliche Stellung Basels markierende und den süddeutsch-schweizerischen Verkehr aufnehmende Brücke hatte seit dem Ende des 17. Jahrhunderts Konkurrenz bekommen. Mit dem Bau der Festung Hüningen wuchs im Frankreich der Könige Ludwig XIV., XV. und XVI. die Lust, auch am rechten Ufer des Rheins Fuss zu fassen. Von Hüningen aus wurde zuerst auf die sogenannte Schusterinsel und dann zeitweise bis auf das markgräfliche Ufer eine Brücke geschlagen, meistens eine schwimmende, gelegentlich wohl auch eine solide Holzkonstruktion. Ihr Zweck war militärischer Natur, gewiss diente sie auch zivilen Zwecken. Für die Basler, die zwar einen Teil der Schusterinsel mit Kleinhüningen ihr eigen nannten, war sie doch eher exterritorial. Und man sah sie nicht gerne, weil von ihr aus ja der ganze Schiffsverkehr durch die Franzosen kontrolliert werden konnte. Sie bekam den Spottnamen einer Brille auf der Nase der Basler.

Also lautet der Brückentheorie erster Teil: Keltische Furten, römische Militärbrücken, zähringisch-habsburgische Verbindungsbrücken, eine als politische Antwort gemeinte Basler Brücke, eine französischen Kriegszielen dienende Behelfsbrücke. Jede einzelne hat ihre historische Logik.

6.    Alle Macht den PflanzenNach Oben

Seit den Studententagen hatten wir uns kaum mehr gesprochen, waren uns – selten genug – nur gelegentlich begegnet. Aber jetzt, als ich über den Basler Münsterplatz ging, stand er mit zurückgeworfenem Kopf vor der Münsterfassade und blickte steif in die Höhe. Was starrst du so? Ich treibe Botanik, sagte er, siehst du die grossen Rosen unterhalb der Brüstung? Tatsächlich. Und was sind es für Rosen? Riesige, sagte ich, und gefüllte. Sicher keine einheimische Rose, sagte er, eher eine orientalische. Eine centifolia, also eine hundertblättrige. Ich habe 68 dieser Rosen gezählt, jede hat wohl einen halben Meter Durchmesser. Man darf sich vorstellen, dass die aus dem vorderen Orient heimgekehrten Kreuzritter die Kunde, vielleicht sogar Exemplare, dieser Rose mit nach Hause brachten. Und jetzt zieren sie die Münsterfassade. Das Münster ist ja eigentlich eine Marienkirche, und Rosen sind der Maria zugeordnet.

Das war der Anfang eines längeren Gespräches, bei dem ich nur der nehmende Teil war. In der Romanik (Rundbogen, sagte der Lehrer) wimmelt es neben verschlungenen Ornamenten von Tieren, Fabelwesen, typisierten Menschenfiguren. Eindrücklich ist eine Fahrt ins elsässische Rosheim. Da kämpfen an der Kirchenfassade Ritter, Bauern treiben den Esel, der Jude hält den Geldbeutel. Da gibt es die Sphinx mit Krallen, geflügelte Löwen, Drachen, Panther mit Echsenschwänzen. In der Gotik (Spitzbogen, sagte der Lehrer) wandelt sich die Bildersprache: aus den Menschenfiguren werden biblische Gestalten, Heilige und Apostel, die zum Teil abstrakten Ornamente verwandeln sich plötzlich in Pflanzen, unwahrscheinlich naturalistische, botanisch minutiös nachgebildete Pflanzen, die sich noch heute bestimmen lassen. Du findest Efeu, Weissdorn, Haselnuss, Hahnenfuss oder Storchenschnabel, Eichenblätter, Erdbeeren und das Blatt der Zaunrübe samt ihren gewundenen Ranken und den kleinen, giftigen Beeren – übrigens häufig und irrtümlich als Weinblatt interpretiert. Da siehst du die Hagrose und das Hundsröschen, wie sie noch heute in unseren Gärten blühen. Ich wage mal die These, dass die Gotik eine Zuwendung zur Biologie und zur Botanik bringt, vielleicht im Gefolge des Albertus Magnus, des Albert von Bollstädt (1193-1280), und des Kaisers Friedrich II., der auch Botaniker war, und unter dessen Regiment Schlettstadt zur freien Reichsstadt wurde.

St. Georg in Schlettstadt, die Marienkirchen von Freiburg und Basel sind überwältigende botanische Lektionen. Man kann sich sogar fragen, ob die gotische Kirche nicht als Ganzes eine letztlich botanische Erscheinungsform ist. Was sitzt zuoberst auf einem gotischen Turm? Eine Kreuzblume, sagt der Fremdenführer. Aber was ist die Kreuzblume botanisch? Man muss nur einmal eine solche Kreuzblume, in der Fotografie von oben aufgenommen, näher betrachten. Da sieht man eine vierblättrige Blüte mit ausgefransten Blütenblättern, den Fruchtknoten genau in der Mitte und nagelartig abstehenden Staubgefässen zwischen den Blütenblättern. Es ist die Raute, die in Italien und auf dem Balkan heimische Weinraute, ruta graveolens, deren Blätter sich eben in ein eigentliches Rautenwerk auflösen. Es ist dieselbe Pflanze, die die Italiener in die Grappaflasche stecken, das gibt dann den Erba Ruta-Schnaps. Und diese Pflanze heisst gelegentlich im Volksmund noch immer Kreuzblume. Aber es wird noch verwirrender:

An den gotischen Kirchen laufen den Kanten von Stützmauern oder Dächern entlang oft Leisten mit regelmässig verteilten Noppen, knospen- oder knollenartigen Widerhaken, man spricht dann von Krabben. Doch sie erinnern eigentlich wenig an Krebse. Es sind auch keine Krebse, sondern „Krapfen“, und das ist ein altes Wort für einen Haken, eine Kralle, eine Klaue, einen gebogenen Knauf. Das italienische Wort grappa meint ja auch eine Klammer, die französische agrafe kommt von daher. Die noch nicht geöffnete Blüte der Weinraute hat genau diese Form. Also darf man sich die gotische Kathedrale insgesamt als eine riesige Weinraute vorstellen, auf der oben die Kreuzblume blüht, die ruta graveolens, übrigens eine stark duftende Pflanze, deren Staubgefässe die Nägel im Kreuz symbolisieren könnten. Und die Kurven in den Fenstern und Deckengewölben der gotischen Kirche simulieren die Kurven, in denen die Weinraute ihre Stiele und Blätter entfaltet. Schon Karl der Grosse hat seinen Gutshofbeamten die Pflege dieser Pflanze ans Herz gelegt.

Die botanische Symbolik dieser drei Kirchen in Basel Freiburg und Schlettstadt ist in ein dicht gewobenes Netz von Bezügen eingelassen. Warum Rebenblätter und Trauben? Christus spricht vom Wein als von seinem Blut. Warum Efeu? Efeu trägt immergrüne Blätter, er ist konstant. Warum Eichen? Das Holz der Eiche fault nicht, überdauert die Zeiten. Die Kirche in Schlettstadt ist keine Marienkirche, also tritt die Rose als Schmuck zurück, ich habe nur eine gesehen, wahrscheinlich war es eher eine Pfingstrose. Überhaupt treten Rosen und Pfingstrosen gerne abwechselnd auf; die Pfingstrose ist ja diejenige Rose, die den einzigen Nachteil der echten Rose nicht hat: sie wächst ohne Dornen. In Freiburg hält die Madonna als Patronin des Münsters einen Rosenzweig in der Hand, Weinranken mischen sich mit Pfingstrosenblättern. Wer in einem homöopathischen Lehrbuch blättert, findet viele der im Kirchenschmuck nachgebildeten Pflanzen als Heilpflanzen wieder, dazu gehören die Weinraute selber, der Hopfen, der Efeu und die rätselhafte Zaunrübe, der man, obwohl sie selber giftig ist, entgiftende Wirkungen zuschreibt. Somit hilft sie auch gegen böswillige Liebestränke, wird also zur Beschützerin der Jungfräulichkeit. Und was bedeuten Storchenschnabel, Hahnenfuss, Scharbockskraut und Haselwurz? Ich habe in Freiburg am Münster einen Lastesel mit Sack gefunden, der einen Acanthus, also eine Stachelähre oder einen Stachelbärenklau, frisst. Der Acanthus ist der Schmuck der korinthischen Säulenköpfe im alten Griechenland. Da läuft  eine Traditionskette von der Antike über die Romanik bis in das spätgotische 15. Jahrhundert, wo jetzt der Pflanzenschmuck des klassischen Altertums vom romanischen Esel gefressen wird, damit die botanische Welt der Gotik aufschiessen kann. Wie wenig wissen wir über diese Dinge!

Eine nicht gemachte Hausaufgabe?, fragte ich. Vielleicht, sagte er, aber angefangen ist sie sicher, zum Beispiel im Buch „Basilea Botanica“. Aber ob sie schon als abgeschlossen gelten kann? Hans Wackernagel, botanisch so beschlagen wie zoologisch kompetent, den Baslern als langjähriger Sprecher des Zollis aus den Zeitungen und vom Lokalradio bekannt, lachte mit blinzelnden Augen. Wenn man über so unvergleichliches Anschauungsmaterial in nächster Nähe verfügt – es lohnt sich schon, mit einem botanischen Auge von Basel nach Freiburg und Schlettstadt und in noch viele Elsässer und Breisgauer Städte zu fahren. Alle Macht den Pflanzen – das war die oberrheinische Gotik.

7.    Weltgeschichte en miniatureNach Oben

Erhard Richter in Grenzach ist einer der Historiker, die gern die kleinen und manchmal die kleinsten Verhältnisse genau unter die Lupe nehmen. Die Geschichte grosser Nationen ist gewiss interessant, auch diejenige einer ganzen Region, wie wir sie am Oberrhein vorfinden, aber spannende wird sie besonders dann, wenn man an einer einzelnen Zelle das Schicksal des ganzen Organismus ablesen kann. Und so hat sich Erhard Richter über Grenzach gebeugt und erzählt dessen Geschichte, die diejenige einer 250 Jahre alten Wiedervereinigung ist.

Es ist wieder eine grenzüberschreitende Geschichte. Aber nun nicht zwischen dem südbadischen Grenzach und dem schweizerischen Basel, vielmehr steigen wir in die Vergangenheit des noch nicht schweizerischen Bistums Basel und seiner nördlichen Nachbarn zurück. Da erinnern wir uns daran, dass ursprünglich in der Basler Gegend Kelten wohnten, die sogenannten Rauracher oder Rauriker. Dann kamen die römischen Legionen, die ausziehwilligen Helvetier und Rauracher wurden bei Bibrakte militärisch aufgehalten und mussten in ihre alten Gebiete zurückkehren. Augst, eine römische Kolonie, verlor langsam an Bedeutung zu Gunsten von Basel. Um den Basler Münsterhügel bildete sich eine aus Kelten und Römern gemischte Gesellschaft. Sie sass auf der linken Rheinseite, denn auf der rechten Rheinseite erschienen um die Wende des 3. zum 4. Jahrhundert die Alemannen. Man darf sich diese beiden Kulturen, die gallorömische und alemannische, nicht nur in einem feindlichen Gegensatz vorstellen. Wir haben Zeugnisse, dass sie sich zum Teil sogar sehr gut arrangierten. Aber ein Gegensatz prägte sie: Die Gallorömer lebten gern in Städten, die nicht viel mehr als ein befestigtes Militärlager waren; die Alemannen dagegen zogen eine offene Besiedlung vor, ihre Zentren waren nur in Krisen bezogene Fluchtburgen. Der Münsterhügel von Basel war eine mit Mauer und Wall befestigte Kleinstadt; auf dem Gebiet, wo heute die Kirche von Grenzach steht, befand sich eine alemannische Ursiedlung. (Und zwischen Grenzach und dem heutigen Kleinbasel lag in der Nähe des Warteck-Areals das sagenhafte alemannische Fischerdorf Oberbasel, wiederum eine Fluchtburg. Darum sind die Strassennamen Alemannengasse, Römergasse, Burgweg und Fischerweg, geschichtlich betrachtet, zutreffend gewählt.)

Wer von Basel auf dem rechten Ufer rheinaufwärts fährt, erlebt Grenzach als eine Art Strassendorf, die beiden Dorfteile liegen links und rechts der Durchgangsstrasse. Er fährt, ohne es zu ahnen, auf einer alten politischen Grenze. Es gibt, oberhalb der Strasse, ein nördliches Grenzach, das an Riehen und Bettingen stösst, und es gibt unterhalb ein südliches, das von der Strasse bis an den Rhein reicht. Die naive Frage könnte lauten, warum eigentlich Grenzach, als Zipfel zwischen dem Rhein und den baselstädtischen Landgemeinden eingeklemmt, nicht zu Basel als eine Art Kleinbasler Vorort gehört?

Diese Frage führt in die feudalen Zeiten zurück, vor allem ins 12. und 13. Jahrhundert, als sich herausbildete, was wir als Grundherrschaften bezeichnen, also von einem Lehensherrn verliehene oder ihm unterstellte Herrschaftsrechte und -bereiche, die manchmal erblich waren, manchmal aber auch nur dem Lehensträger im Sinn eines Amtes verliehen wurden. Es war der Bischof von Basel nicht der einzige Herr, der in der oberrheinischen Ecke nach grösseren Territorien strebte. Er hatte machtvoll Konkurrenten, unter denen ein Geschlecht besonders hervorsticht. Es sind die Herren von Röteln oder Roetelen. Die Ruine des Röteler Schlosses, das 1678 im Auftrag Ludwigs XIV. vom Marquis de Frivilier zerstört wurde, war ihr Stammsitz.

Diese Herren von Röteln tauchen im 12. Jahrhundert auf, sind nach dem Zerfall der zähringischen Herrschaft nur noch dem Kaiser untertan. Luthold von Roetelnheim zieht als Basler Bischof mit dem Hohenstaufen Friedrich II. an den Reichstag nach Mainz. Der letzte Nachkomme, wiederum ein Luthold, war Domprobst zu Basel und übergab, da er kinderlos war, durch eine Schenkung seine Burgen, festen Orte, Dörfer, Häuser und Höfe samt den Bewohnern und allen Rechten an Junker Heinrich, den Markgrafen von Hachberg-Sausenberg. Das war 1315, ein Jahr später wurde Luthold im Basler Münster begraben. Somit wurden die Besitztümer der Herren von Röteln markgräflich.

Nun aber gab es aus noch älteren Zeiten eine andere Herrscherfamilie am Oberrhein, das waren die Habsburger. Ihr Besitz auf dem rechten Rheinufer bezeichneten sie als vorderösterreichische Lande. Deren Verwaltungszentrum war Rheinfelden, wo das habsburgische Wappen heute noch am Stadttor prangt. Das südliche Grenzach, vom Rhein bis an die Strasse, gehörte zum vorderösterreichischen Besitz, das nördliche gegen Riehen und Bettingen zur Markgrafschaft. Die Strasse bildete die Grenze. Die Sache kompliziert sich noch weiter, da die Markgrafen von Hachberg nach 1540 das obere Grenzach an die Herren von Bärenfels als Lehen gaben. Diese Familie war zugleich im südlichen Grenzach ein Gläubiger Österreichs, besass dort verschiedene Pfandliegenschaften. Der Markgraf Philipp von Hachberg-Sausenberg, der kinderlos war, sich dank der Schenkung auch Herr von Röteln nennen durfte, schloss 1490 einen Erbvertrag mit seinem Vetter, dem Markgrafen von Baden-Pforzheim. Er kümmerte sich schon lange nicht mehr um die oberrheinische Markgrafschaft, da ihn ganz andere Möglichkeiten in Frankreich lockten, wo er Marschall von Burgund und Gouverneur der Provence geworden war. 1503 starb er, sein Stamm erlosch. Also ging jetzt der Besitz der Herren von Bärenfels im nördlichen Grenzach in ein markgräflich baden-durlachsches Lehen über, im südlichen Grenzach blieben die Bärenfels als Darlehensgeber der Österreicher Lehensherren. 1685 aber zahlten die Österreicher ihr Darlehen zurück, was die Bärenfels nicht hinderte, auch im südlichen Grenzach weiterhin gewisse Rechte zu beanspruchen. Es gab dauernd Streit, alle möglichen Gerichte wurden in Anspruch genommen, bis endlich der baden-durlachsche Markgraf Karl August 1735 das Lehen im oberen Grenzach von den Bärenfels zurückkaufte und 1741 von Österreich auch den unteren Teil von Grenzach käuflich erwarb. Die Bärenfels nahmen das Geld und erwarben das Rote Haus bei Muttenz, das sie offenbar sehr gastfreundlich bewirtschafteten und bewohnten. Erst seit diesem Datum 1741 darf Grenzach als „wiedervereinigt“ gelten und konnte somit, wie Erhard Richter sagt, eine einheitliche und ungestörte Gemeindepolitik verfolgen.

8.    Die UmklammerungNach Oben

Und jetzt fahren wir nach Pfirt, französisch Ferrette. Vielleicht auch dem Käse zuliebe, vor allem aber, um wieder einmal den Sundgau mit seinen alten Bäumen zu erleben.

Was ist das für ein merkwürdiger Ort, in den Hügeln versteckt und aufgeteilt in die zwei Niederlassungen Pfirt und Alt-Pfirt? Man gewinnt bei einem oberflächlichen Besuch den Eindruck, dass der Teil, der sich Alt-Pfirt oder eben Vieux-Ferrette nennt, eigentlich der neuere sei, wohingegen das eigentliche Pfirt ganz mittelalterlich daherkommt, weil es sich an das Schloss – ursprünglich zwei Schlösser – anschliesst. Beginnt man in Pfirt geschichtlichen Spuren nachzugehen, so ist die Mischung von Deutsch und Welsch, von Elsass und Jura, von Frankreich und vorderösterreichisch-deutschen Elementen unübersehbar.

Das beginnt schon früh, lange vor 1291 zum Beispiel. Der Sohn des Grafen Thierry von Mömpelgard, aus der Dynastie der Grafen von Mousson und Bar, Friedrich I., der in den Urkunden des frühen 12. Jahrhunderts als Graf von Pfirt und Begründer der Dynastie auftritt, hat als erste Gattin eine Tochter Bertholds II. von Zähringen zur Frau, als zweite eine Stephanie von Eguisheim. Und sein Sohn Ludwig I., der 1188 auf einem Kreuzzug in Palästina stirbt, heiratet in erster Ehe Richilde, die Tochter eines Grafen von Habsburg. Die Grafen von Pfirt waren also von Anfang an mit den beiden grössten damaligen Herrscherhäusern am Oberrhein liiert. Und wo bleiben die Basler? Gemach, Graf Friedrich II. von Pfirt, wiederum verheiratet mit einer Tochter Bertholds IV. von Zähringen, hatte seinerseits einen Sohn namens Berthold von Pfirt, und dieser war von 1249 bis 1262 Bischof von Basel. Sein Bruder Graf Ulrich I. von Pfirt verkaufte gar die Grafschaft Pfirt an die Basler Bischöfe, freilich nur, um sie sogleich aus den Händen des Bischofs wieder als erbliches Lehen zu empfangen – es war das, wenn man so will, eine Art Finanzierung oder feudalrechtliche Hypothezisierung des Territorialbesitzes.

Seit 1271 war somit die Grafschaft Pfirt basel-bischöfliches Lehen. Auf Ulrich I. folgten sein Bruder Friedrich, dessen Sohn Ulrich II., dann Theobald, dessen Sohn, und Ulrich III., dessen Enkel. Der hatte nur zwei Töchter namens Johanna und Ursula. Ursula trat ihre Rechte an Pfirt an Johanna ab. Graf Ulrich befürchtete, dass der Basler Bischof nach seinem Tod erneut die Hand auf die Grafschaft legen würde, also verhalf er einem seiner Gewährsmänner dazu, Basler Bischof zu werden. Dieser musste nur vorher die Erbberechtigung der gräflichen Tochter anerkennen, was auch geschah. Alles hing nun davon ab, wen Johanna heiraten würde. Da tauchte Herzog Albert von Österreich, genannt der Weise, auf und heiratete die Grafentochter Johanna. So kam die Grafschaft Pfirt als ein Lehen des Basler Bischofs an das Haus Österreich, das bekanntlich in Sachen Hoheitsrechte wenig Spass verstand und was es einmal erheiratet hatte, möglichst lang behielt. Bis 1648, also dem Ende des Dreissigjährigen Krieges, konnten sich folglich die Herzoge von Österreich auch Grafen von Pfirt nennen.

Die Schweizer Geschichte auf der Schulstufe sieht in den Österreichern – vergleiche Morgarten oder Sempach und den Schwabenkrieg – noch  immer so etwas wie den natürlichen Erbfeind und vergisst gern, dass Zürich und weite Teile des heutigen Aargaus eben auch habsburgische Lande waren. In Basel ist die Erinnerung an König Rudolf von Habsburg als vormaligen Gegner und späteren Freund nie ganz erloschen, seine Gattin Anna wurde ja nebst ihrem Söhnchen im Münster begraben. Liest man die wenigen Ereignisse nach, die wir aus dem Leben des Grafen von Pfirt kennen, so gewinnt man den Eindruck, dass die ordnende Hand der Habsburger ein Segen war. Denn die Pfirter Grafen waren keine bequemen Herren. Friedrich I. gründete wohl zahlreiche Klöster, bekämpfte das Heidentum im Sundgau, aber schon sein Enkel Friedrich II. war händelsüchtig, ein Raufbold, und legte sich praktisch mit allen damaligen Gewalten an: den Herren von Mömpelgard, dem Strassburger und Basler Bischof, dem Abt von Murbach, den Habsburgern. (Sein Sohn Ludwig von ähnlichem Temperament soll ihn erschlagen haben.) Dass nach 1324 die Grafschaft österreichisch wurde, mussten die Leute in diesem von Fehden immer wieder geschüttelten Gebiet als Erleichterung empfinden, die Basler freilich auch als bedrohlich. Denn jetzt sassen die Österreicher rheinaufwärts im Fricktal und in Rheinfelden, dazu im Breisgau, hatten Herrschaftsrechte im Elsass und schlossen die Klammer um Basel herum mit dem Erwerb der Grafschaft Pfirt. Bis in die Wende vom 15. ins 16. Jahrhundert, also dem Schwabenkrieg und König Maximilian von Österreich, war die baslerische Gefühlslage gespalten in Respekt und Furcht vor dem Hause Habsburg und in Anerkennung seiner friedenstiftenden Tätigkeit.

Pfirt selber bestand zuerst aus dem heutigen Alt-Pfirt, nach dem die ersten Grafen sich nannten. Um 1100 errichtete Friedrich I. auf dem 612 Meter hohen Juraberg das Oberschloss. Sogleich siedelten sich Dienstleute und Handwerker am Berghang an. Die sogenannte Oberstadt, ursprünglich abgeschlossen durch zwei Tore, das heutige Pfirt, war eine systematische Gründung. Die Unterstadt entstand aus einem ursprünglich dem Hospiz vom Grossen St. Bernhard unterstellten kleinen Kloster; sie entwickelte sich vermutlich erst im 17. und 18. Jahrhundert. Damals aber gehörte der Sundgau schon zur französischen Krone, die ihn mit Teilen des Elsass als Lehen an Mazarin übergeben hatte. Die habsburgische Klammer war aus der Sicht der Basler wieder aufgebrochen, der Ring war gesprengt. Wie gefährlich aber die Nachbarschaft der beiden grössten kontinentaleuropäischen Mächte Habsburg und Frankreich werden konnte, zeigte sich in den 1792 ausbrechenden Kriegen zwischen dem republikanischen Frankreich und dem deutsch-österreichischen Kaiser. Die alte Eidgenossenschaft fand weder militärisch noch diplomatisch die Mittel und Wege, um in diesem Konflikt zu bestehen, und brach 1798 zusammen.

Das Wappen von Pfirt zeigt Rücken an Rücken zwei senkrecht stehende Barben – eine Erinnerung an den Fischreichtum des Sundgaus, durch den heute die Route de la Carpe frite führt. Gelegentlich ist es mit den Habsburger-Farben Rot-Weiss-Rot unterlegt. Sie erinnern daran, dass über viele Jahrhunderte Österreich der wichtigste Nachbar Basels war, der gelegentlich auch versucht hatte, Basel einzukreisen und es sich einzuverleiben.

9.    Hintergründe einer KlostergründungNach Oben

Der Bund der schweizerischen Urkantone ist besiegelt, er hat sich zum Bündnissystem der acht alten Orte erweitert. Aber Basel ist noch Bischofsstadt, Reichsstadt, ist nächster Nachbar zum Markgrafen von Hachberg-Sausenberg in Röteln, zu den Habsburgern in Rheinfelden und Ensisheim und, etwas weiter entfernt, zu den burgundischen Herzögen. Verglichen mit den Städten, die heute die Schweiz bestimmen, ist es gross; verglichen mit rheinischen Städten wie Strassburg oder Köln, ist es klein. Das Beziehungsnetz Basels geht nach Westen, Norden, Nordosten; die Eidgenossen im Süden sind weniger wichtig. Wir sind in den ersten Jahren des 15. Jahrhunderts.

Einer der reichsten Basler dieser Zeit finanziert adlige Grundherren rundum, indem er ihnen Vorschüsse gibt, dafür ganze Herrschaften als Pfand übernimmt. Er ist Pfandherr in Laufen, Delsberg, im Birseck, auf dem Wartenberg, in Badenweiler. Er kauft Bözen, die Herrschaft Hauenstein, das Amt Wehr. Er ist Herr von Zell, besitzt das Schloss Altenstein bei Schopfheim, Laufenburg untersteht ihm, er bezieht Einkünfte aus Säckingen. 1388 ist er, wahrscheinlich um die 40 Jahre alt, Basler Bürgermeister, er gehört zur städtischen Prominenz. Er wohnt am Rheinsprung, da wo heute die alte Universität steht. Wie 1401 eine ausserordentliche Vermögenssteuer erhoben wird, weist er ein Vermögen von über 10'000 Gulden aus. (Nach heutigem Geldwert wäre er millionenschwer.) Auch die Herzoge von Österreich sind seine Kunden, gegen einen Vorschuss hat er die auf einem Felskopf gelegene Stammburg der Grafen von Rheinfelden, den sogenannten Stein von Rheinfelden, zum Pfand übernommen. Sein Name ist Jakob Zibol.

Von der Welt hat er mit seinen politischen Erfolgen und seinem Geld nicht mehr viel zu erwarten, er wendet sich anderen Dingen zu. Er kommt viel herum, da sein Stand als Achtburger ihn in die Nähe des Adels rückt, seine diplomatischen Fähigkeiten sind gesucht. Als Oberstzunftmeister wird er mit einer Gesandtschaft nach Nürnberg geschickt, wo man den Baslern unter den Sehenswürdigkeiten der Stadt auch das Kartäuserkloster zeigt. Es imponiert ihm, er möchte mit den Mönchen reden. Ein Nürnberger Prior ruft sie zusammen.

Nun verbringen die Kartäuser, als Orden im 11. Jahrhundert gestiftet und seit 1170 vom Papst anerkannt, ihr Leben in der Regel schweigend und einzeln in ihren Zellen, Aussprachen finden nur an Sonn- und Feiertagen statt. Aber auf Geheiss des Priors reden die Mönche mit Jakob Zibol, und da erfährt der Basler auch, dass ihre Kartause 1380 von einem reichen Nürnberger namens Marquard Mendel gestiftet worden sei.

Zibols Entschluss ist gefasst, er will auch in Basel ein solches Kloster gründen. Dazu braucht er geistliche Hilfe. Was er noch nicht weiss: Der benachbarte Markgraf Rudolf III. von Hachberg-Sausenberg, der in Röteln residiert, hat ähnliche Pläne. Er hat sogar einen Strassburger Kartäuser namens Wynand nach Röteln kommen lassen, um sich mit ihm zu beraten. Wynand ist in der oberen Markgrafschaft zu Erkundungszwecken herumgeritten, hat aber keine passenden Örtlichkeiten gefunden. Sie waren bald zu nahe bei den Leuten, bald zu weit weg. Wynand schien es überdies, dass der Markgraf nicht ganz über die nötigen Mittel verfüge, die Existenz eines Klosters auf die Dauer zu garantieren.

Nachträglich erfährt Zibol von diesen Verhandlungen, sofort lässt er seinerseits Wynand kommen. Er hat unterdessen einen ihm gut scheinenden Platz gefunden: einen früher dem Bischof gehörenden Hof im Kleinbasel unterhalb der Theodorskirche. Mit dem Erwerb des Kleinbasels 1392 fiel er an den Rat. Wynand kommt, erkundigt sich nach dem Stand und dem Vermögen Zibols, zusammen besichtigen sie die Liegenschaft mit Baumgarten, Reben, verschiedenen Gebäuden und Scheunen. Wynand ist erfreut, das sind bessere Voraussetzungen als beim Markgrafen. Kann man die Liegenschaft kaufen? Da Zibol selber zum Rat gehört, kein Problem. Als die Ratskollegen hören, dass Zibol den Hof nicht für sich, sondern für ein Kartäuserkloster erwerben will, herrscht sogar Begeisterung. Am 12. Dezember 1401 wird man sich einig, der Preis beträgt 600 Rheinische Gulden. Sicherheitshalber holt man die Einwilligung des Probstes von St. Alban ein, der alte Rechtstitel auf diesen Hof geltend macht. Zibol zeigt sich weiter grosszügig, mit dem Einverständnis seiner Erben überschreibt er dem Kloster Einkünfte in Form von Kornlieferungen von seinen Gütern in Ötlingen. Eine alte Margarethen-Kapelle gegen den Rhein, eine Schwachstelle in der Befestigungsmauer, darf mit Zustimmung des Rates abgebrochen werden, sie liefert Steine für einen Neubau. Der Bischof von Konstanz, geistlicher Herr über Kleinbasel, ist ebenfalls einverstanden. Die Kartause wird der Heiligen Margaretha gewidmet.

Die ersten Kartäuser übersiedeln von Strassburg. Die ganze Klosteranlage ist noch reichlich primitiv, Zibol muss mehr als einmal Lebensmittel zur täglichen Verpflegung über den Rhein schaffen. Das neue Kloster gefällt dem Pfarrer zu St. Theodor gar nicht, er fürchtet Konkurrenz; das Domkapitel lässt sich sogar von Papst Bonifaz IX. 1402 bestätigen, dass der Platz für die neue Kartause unseriös, eine frühere Spiel-, Turnier-, Tanz- und Pfeiferwiese sei, wer dort ein Kloster bauen wolle, gehöre exkommuniziert. Was macht Zibol? Er zahlt noch einmal 200 Rheinische Gulden an das Domkapitel, dann geben sich die Herren zufrieden. 1407 ist der Bestand de Klosters so gesichert, dass das Mutterhaus der Kartäuser in Grenoble die förmliche Aufnahme ins Generalkapitel beschliesst. Wynand selber ist Prior in Basel geworden, 1408 beginnt der Bau der Kirche.

Alles scheint so harmonisch, da bricht die Katastrophe ein: ein Krieg, ein mieser Kleinkrieg von hässlicher Grausamkeit zwischen den Baslern und Herzog Friedrich von Österreich. Zibol ist auch Burgherr in Rheinfelden, als solcher den Habsburgern verpflichtet, zugleich ist er Basler Amtsträger. Zu wem hält Rheinfelden? Zu keinem von beiden, aber die Zibols sind unaufmerksam, die Rheinfelder überrumpeln die Burg, nehmen einen jungen Zibol gefangen. Darauf kerkern die Basler den österreichischer Sympathien verdächtigen Vater mit den anderen Söhnen ein. Die Sache kompliziert sich weiter, da die burgundische Schwägerin Friedrichs ebenfalls Ansprüche auf Rheinfelden erhebt, es wird ein Dreieckskrieg zwischen Basel, Friedrich und Katharina von Burgund. Fast bis zum Tod hätten sie Zibol im Gefängnis gebracht, schreibt der Chronist der Kartause. Jetzt geht es ans gute Geld, Zibol wird nicht nur seiner Ämter entsetzt, sondern mit 12'000 Gulden gebüsst, eine enorme Summe. Er ist ein gebrochener Mann. Er lebt noch, als der Markgraf als Vermittler den Streit beilegt, sogar ein Bündnis zwischen den Baslern und Katharina zeichnet sich ab. Dann stirbt er 1414. Doch die Kartause ist gesichert. Die einzelnen Mönchszellen sind gestiftete vom Gründer und seinem Sohn Burkhard, dessen Gattin Agnes von Eptingen, von Isabella von Portugal, der Mutter Karls des Kühnen, und von verschiedenen Klerikern aus Basel, Mülhausen und Hessen. Die Zellen sind heute abgerissen, nur das Haus des Priors und die Kirche stehen noch, sie bilden zusammen den Komplex des Basler Waisenhauses.

10.    Eine Regio in der RegioNach Oben

In unserem Selbstverständnis ist das Dreiland am Oberrhein dadurch charakterisiert, dass über die Grenzen der Nationalstaaten Frankreich, Deutschland, Schweiz hinweg allerhand nachbarschaftliche Gemeinsamkeiten, aber auch die Landschaft – der Oberrhein mit seinem Auslauf nach dem Sundgau und Jura – ein zusammenhängendes Gebiet erkennen lassen. Es hat, mehr im Kleinen als im Grossen, eine gemeinsame Geschichte, einen ähnlichen Lebensstil, verwandte Architektur; es hat aber auch Gegensätze, mit denen schon frühere Generationen fertig werden mussten: zwischen Fürsten, Bürgern und Bauern, zwischen Katholiken und Protestanten, zwischen Deutsch und Welsch. Das Dreiland ist als ein Randgebiet abhängig von ungleich grösseren Mächten. Es fühlt aber ebenso die Verlockung, unabhängig von diesen grösseren Mächten seine Dinge selber zu regeln – gelegentlich auf eine Weise, die diesen grösseren Mächten nicht recht gefällt. Das Gefühl der relativen Kleinheit und zugleich der Andersartigkeit bricht immer wieder durch; es schafft sogar eine gewisse innere Übereinstimmung, die dazu führt, dass der Jurassier und der Elsässer, der Markgräfler und der Basler sich besser verstehen als Schweizer, Deutsche und Franzosen.

In diesem von den Baslern Regio getauften Gebiet, so klein es im Verhältnis zu Deutschland, Frankreich und der Schweiz ist, gibt es noch einmal Miniaturregionen, die – wie Fraktale auf einem Computer – das Bild der gegenseitigen Verzahnung im Kleinen reproduzieren. Wer von den heutigen Schweizern und Franzosen hat sich schon gefragt, warum der Pruntruter Zipfel mit der Ajoie so merkwürdig und ein wenig wie eine Blase in Richtung Frankreich ausgestülpt ist? Warum folgt seine Grenze nicht dem Doubs, der, von Pontarlier kommend, nördlich von La Chaux-de-Fonds eine Zeitlang tatsächlich die heutige Landesgrenze bildet, dann aber wie ein Haarnadel in das schweizerische Gebiet hineinsticht, bei St. Ursanne einen Bogen macht, um wieder Richtung Frankreich zu entschwinden? Diese auf der Hand liegende Frage führt sofort in die Geschichte, eine Geschichte so alt wie diejenige der unterdessen 700jährigen Eidgenossenschaft, und wenn man will noch einiges älter.

Die Luftlinie von der Krümmung des Doubs bei St. Ursanne bis nach Basel liegt unter 40 Kilometern. Von der Antike bis ins Mittelalter war der Warentransport zu Wasser der leistungsfähigste und bequemste. Wollte man also Güter vom Doubs auf den Rhein, der hauptsächlichsten Verkehrsader Mitteleuropas, weiterspedieren, musste man diese Distanz auf dem Landweg überwinden. Nachgewiesen ist, dass solche Verbindungen schon zu Beginn unserer Zeitrechnung existierten. Die Niederlassung keltischer Händler bei Basel und die Bedeutung des gallorömischen Kembs hängen mit dieser Verbindung Doubs-Rhein zusammen.

Die heute noch fühlbare Geschichte beginnt wenige Jahre vor dem Bund der ersten Urkantone und zwar genau im Jahr 1283. Und wieder einmal hatte Rudolf von Habsburg, ein eigentlicher Vater des Dreilandes, seine Hände im Spiel. Er gab der Stadt Pruntrut, im Herrschaftsbereich des Basler Bischofs gelegen, verbriefte städtische Freiheitsrechte, die er eben auch als eine Art Dank und Kompliment an den Bischof deklarierte. Er machte sich die Sache einfach: statt diese Rechte im einzelnen aufzuzählen, verwies er schlicht auf den fünf Jahre älteren Freiheitsbrief für Colmar.

30 Kilometer nordwestlich von Pruntrut aber lag eine andere Stadt, die dem Grafen Renaud von Burgund und seiner Frau Guillemette gehörte, nämlich Montbéliard, auf deutsch Mömpelgard. Und da diese beiden Städtlein seit jeher in einer Art Konkurrenzverhältnis gestanden hatten, blieb dem Grafen von Montbéliard nichts anderes übrig als gleichzuziehen: er bestätigte – aber nicht wie Rudolf auf lateinisch, sondern auf französisch – den Bürgern von Montbéliard ihre städtischen Rechte.

Damit waren die Steine gesetzt. Am südwestlichen Ende der Regio bildete sich eine Miniaturregio, die insofern spannend ist, als man sich hier in der alten Übergangszone vom deutsch-alemannischen in den französisch-burgundischen Raum befindet – das eigentliche Elsass war ja noch deutschsprachig. Zwei Mächte standen sich gegenüber, Mächte im regionalen Massstab wohlverstanden: der Graf von Mömpelgard und der Basler Fürstbischof, in der Ajoie um Pruntrut herum ein weltlicher Herr. Dank einer Frau wurde dieser Gegensatz auch im grösseren Rahmen spannend. Im Alter von nur neun Jahren wurde 1397 Henriette de Montfaucon, die Erbin der Grafschaft, mit dem 10jährigen Eberhard dem Jüngeren von Württemberg verlobt. Sie heirateten, Eberhard starb früh, Henriette regierte das Land mit weiteren linksrheinischen Herrschaften im Elsass und musste es dann ihren Söhnen abtreten. So kam die Grafschaft Mömpelgard in württembergischen Besitz – und blieb es bis zur Französischen Revolution.

Das hatte Folgen zum Beispiel während der Kirchenreformation. Ulrich von Württemberg sorgte dafür, dass die Grafschaft Mömpelgard lutheranisch wurde; der aus der Stadt vertriebene Fürstbischof von Basel setzte alle Kräfte ein, die Ajoie beim alten Glauben zu halten. Zwischen 1575 und 1608 standen sich zwei Landesherren gegenüber, die in mehr als einer Beziehung vergleichbar sind: hochgebildete, humanistisch interessierte, bau- und reformfreudige Herrscher mit grossen Perspektiven. Dass zum Beispiel das Fürstbistum Basel überhaupt zur Schweiz zählen konnte, geht auf den Vertrag des Fürstbischofs Jakob Christof Blarer von Wartensee zurück, der mit den katholischen Orten 1578 eine Allianz schloss. Dass die Grafschaft Mömpelgard in den französischen Religionskriegen zahlreichen Hugenotten, die calvinistisch und nicht lutheranisch gesinnt waren, Unterschlupf bot und von ihren kommerziellen Talenten profitierte, geht auf die Politik Friedrichs von Württemberg zurück, der über die Grafschaft enge Kontakte zu den französischen Königen Heinrich III. und Heinrich IV. hatte. In der Miniaturregio am Rand der Regio spiegelt sich noch einmal europäisches Schicksal, zu dem auch die gegenseitigen grausamen Verheerungen durch eine immer wieder angemietete Soldateska gehörten.

André Antoine Bernard de Jeuzines, der Bernard de Saintes genannt wurde, ein kleiner dürrer Mann, der nie lachte, stellte um 1791 in Montbéliard die Guilloutine auf und sorgte mit seinen Gesinnungsgenossen dafür, dass die 300 Jahre alte württembergische Grafschaft Teil der Französischen Republik wurde. Das Fürstbistum Basel überlebte auch nicht, 1815 wurde der jurassische Teil zum Kanton Bern geschlagen, und es brauchte noch einmal mehr als 159 Jahre, bis die Ajoie mit dem Hauptort Porrentruy in den neuen Kanton Jura überging.

11.    Herr ArmlederNach Oben

Der Name Armleder tönt irgendwie vertraut. Man schmeckt ihm auch sein Alter an. Sind die Armleder Elsässer, Süddeutsche oder Schweizer? Und wieso tönt dieser Name so geschichtlich?

Jetzt schlage ich bei Hellmut G. Haasis nach, der bei rororo drei Bände mit dem Titel „Spuren der Besiegten“ publiziert hat. Und finde dort im ersten Band Nachrichten – keine schönen – über einen König Armleder. Sogar seinen richtigen Namen weiss Haasis: Es handelt sich um einen Ritter Arnold von Uissigheim, einer Stadt hoch über der Tauber südwestlich von Würzburg. In der dortigen Kirche ist er begraben, noch erkennt man den beschädigten Grabstein, wie ihn Klaus Arnold 1974 beschrieb:

„Die strengen, ja finsteren Züge des mächtigen, von dichtem, gelocktem Haar umrahmten Hauptes ziehen zuerst den Blick auf sich. Es ist ein jugendliches, bartloses Antlitz über einem betont breiten Hals, auf dem die Klinge eines Schwertes aufliegt. Gehalten wird dieses von einer kleineren, auf der Umrahmung sitzenden Gestalt, deren Oberkörper und Kopf verloren sind. (...) Die Scheide zur Rechten des Mannes ist leer, um anzudeuten, dass es sein eigenes Schwert ist, das ihm den Tod bringt. Seine Hände sind nicht, wie man erwarten könnte, gefaltet; vielmehr übereinandergelegt mit erkennbaren Resten von Fesseln. Den Schutz der Unterarme bildet – noch niemand hat es als bemerkenswert überliefert – Armleder.“

Da ist der Ausdruck gefallen: Armleder, wie wir sie noch heute von sehr englisch anmutenden Sportjacken kennen. Aber hier wurden sie an Stelle von metallenen Armschienen verwendet, offenbar von Leuten, die das Geld nicht hatten, sich eine richtige Rüstung mit Armschienen aus Metall anzuschaffen, nämlich von Bauern. Und der Anführer dieser Bauern wurde dann eben zu einem „König Armleder“, auch wenn er eigentlich ein Ritter war.

Wie kommen die Bauern zum Ritter und umgekehrt? Da muss man schon in die Wirtschaftsgeschichte des 14. Jahrhunderts steigen, wie Hellmut G. Haasis sie uns erklärt. Um 1336-1339 sind wir in einer Zeit, da die Geldwirtschaft den alten Tausch von Gütern und Leistungen zu verdrängen beginnt. Die Ritter auf dem Land geraten in Bedrängnis, weil sie von den Zinsgütern Naturalien und Renten nur in gleichbleibender Höhe beziehen, die sich ausbreitende Geldwirtschaft aber die Preise steigen lässt. Der Bauer war schon verschuldet, jetzt musste sich auch der Ritter verschulden. Gläubiger waren in beiden Fällen häufig jüdische Geld- und Pfandverleiher, die in den Städten als sogenannte „Kammerknechte“ unter dem Schutz des Kaisers standen. Aber dieser Schutz war dürftig, bald begannen Territorialherren und Grossgrundbesitzer ebenfalls gegen die Zinslasten aufzubegehren. Und der Kaiser, der seinerseits in Geldnöten steckte, liess sich den Judenschutz, für den er den sogenannten Judenpfennig als Kopfsteuer erhob, von Städten abkaufen, die auf ein funktionierendes Kreditwesen angewiesen waren.

Das ergab eine unheilvolle Konstellation für die Juden, die nach allen Seiten eben auch als Kreditbanken funktionierten. Papst Benedikt XII. trat die lauernde Lawine los, indem er den völlig verschuldeten Würzburger Bischof von allen den Geldverleihern geleisteten Eiden löste, desgleichen die Bürger von Würzburg von ihren Bürgschaftspflichten befreite. Zugleich drohte er an, den Umgang mit Juden in Zukunft durch Kirchenstrafen zu ahnden.

Jetzt begannen 1336 wahrhaft grässliche Judenverfolgungen, die bald über das fränkische Gebiet hinausgriffen. Die ältesten, auf deutsch geschriebene Chronik aus Colmar vermerkt sie und sagt auch, dass die Juden in Niederfranken von einem erschlagen wurden, der sich König Armleder nannte, denn mit Armleder waren er und seine Gesellen bewaffnet. Ein sonst nicht bekannter Nikolaus meldet an seinen Herrn, einen in Avignon weilenden Trierer Notar, dieselbe Kunde und nennt Zahlen: 1500 Juden wurden ermordet, der genannte König Armleder wurde vom Trierer Bischof, von Rittern, Adligen und Städten und also nicht nur von den Juden gefürchtet. Dem schon genannten Klaus Arnold gelang 1974 der Nachweis, dass es sich bei diesem selbsternannten König um den Ritter Arnold von Uissigheim handelte, dessen Grab er dann beschrieb.

Die fatale Allianz zwischen verschuldeten Bauern und verarmten Mitgliedern des niederen Adels flammte auch 1337 wieder auf, griff 1338 in die Bistümer Strassburg und Basel hinüber. Von Zabern bis Belfort, Delle und Pfirt wurde gemordet, am 25. Januar 1338 zum Beispiel in Rufach. Die Nachfolge des bereits gerichteten Ritter Arnolds traten andere elsässische Ritter an, die Adligen von Dorlisheim und ein Gastwirt namens Johannes Zimperlin von Andlau. Auch sie nannten sich jetzt Armleder. Schutz fanden die Juden nur in den Städten, weil die städtische Bürgerschaft auf das Finanzwesen der Geldverleiher angewiesen war und die städtischen Magistraten die Juden als Steuerzahler schätzten. Kaiser Ludwig IV. etwa verpfändete als Schutzherr der Juden alle jüdischen Güter in Colmar um 4000 Pfund Heller, das heisst genau um die Summe, mit der er bei den Colmarern in der Kreide stand. So kam es denn auch dazu, dass solche Bauernheere unter adliger Führung gewisse Städte recht eigentlich belagerten, am besten sind wir im Fall von Colmar dokumentiert.

Eine historische Beurteilung der Armlederbewegung ist auch heute noch schwierig. Denn diese wirtschaftlich bedingte Bauernrevolte ist zu schrecklich mit Judenverfolgungen belastet, als dass man in ihr einen Freiheitskampf der Bauern sehen könnte, sozusagen einen Vorläufer der späteren Bauernkriege. Die Städte ihrerseits kannten Judenverfolgungen, so etwa Basel im Jahr 1349. Als aber die Stadt 1356 vom Erdbeben heimgesucht wurde, gab es Leute, die dieses Unglück als Strafe für den Judenmord betrachteten. Umgekehrt erzählte man sich noch bis ins 18. Jahrhundert, dass das Grab des ersten Königs Armleder wundertätig gewesen sei.

Der Name Armleder hat es in sich.

12.    Alte Basler FamilieNach Oben

Christian Bertin, ein junger Historiker in Basel, hat sich auf die Spuren von Friederike Auguste Sophie, Fürstin von Anhalt-Zerbst, geborene Prinzessin von Anhalt-Bernburg, gesetzt, die von 1745 bis 1827 lebte. 1764 kam sie, einer Laune ihres Gatten Friedrich August von Anhalt-Zerbst folgend (oder besser: ausgeliefert) nach Basel, wo sie in der Neuen Vorstadt und im Sommer auf Grossgundeldingen Wohnsitz nahm. Ihr Bruder war der Gatte der russischen Zarin Katharina – also brachte die Fürstin in das verträumte Basel auch einen Hauch der ganz grossen Welt. Ihr Mann fiel in Basel durch grobschlächtige Scherze und eigentliche Possen auf, verschwand bald in Richtung nach verschiedenen europäischen Kasernenhöfen. Sie aber blieb bis 1793, also fast 30 Jahre, in der Stadt und führte so etwas wie einen literarischen Salon und private Hofstaat. Peter Ochs, der Rat- und spätere Stadtschreiber, war vor Ausbruch der Französischen Revolution dort ihr Gast. Sie war befreundet mit dem damaligen Bürgermeister Peter Burckhardt – einer ihrer Briefe an dessen Gattin ist auf dem Staatsarchiv erhalten geblieben. In ihm finde sich auch eine Hofdame der Fürstin erwähnt, denn sie schreibt von „ma Berenfels“, offenbar einem Fräulein von Bärenfels, die der Fürstin als Gesellschafterin diente.

Wer war dieses Fräulein von Bärenfels? Vielleicht sollte man zuerst fragen, was es überhaupt mit dieser Familie von Bärenfels auf sich hatte. Da trifft man auf eine Namen, der in der Basler Geschichte – und in der Geschichte des Dreilandes – eine erhebliche Rolle spielte, und zwar während Jahrhunderten. Die Stammtafel derer von Bärenfels beginnt mit einem Ritter Albert, nachgewiesen von 1259-1265, der sich noch Vogt von Branbach (wohl Brombach?) nannte, und endet mit Johann Ludwig als dem letzten Nachkommen männlichen Geschlechts, gestorben 1839, sowie der Pfarrfrau Friderike Wilhelmine, Gattin des Hans Rudolf Thurneysen, gestorben 1846. Ihre Schwester Susanna Magdalena, die von 1750 bis 1837 lebte, war niemand anders als die Hofdame der Fürstin von Anhalt-Zerbst.

Dass ein Geschlecht in der männlichen Linie sechs Jahrhunderte lang in der gleichen Region nachweisbar ist und immer wieder politische Funktionen ausübte, ist alles andere als alltäglich, war das auch für frühere Zeiten nicht. Man hat es hier mit einer im besten Sinn alten Basler Familie zu tun, freilich einer adligen, die schon die Neugierde des ersten Stadthistorikers Christian Wurstisen weckte. Er vermerkt in seiner „Bassler Chronick“ insgesamt neun Ritter von Berenfels, darunter fünf Basler Bürgermeister im 14. und 15. Jahrhundert, und dann auch die bei Sempach 1386 auf österreichischer Seite gefallenen Brüder und Vettern Lütold, Arnold und Adelberg von Berenfels.

Die Bärenfels waren Ritter, das heisst Adlige, und wenn man die Ehepartner sowohl in der männlichen wie weiblichen Linie nachschaut, stellt man fest, dass sie sich durchaus standesgemäss zu verheiraten trachteten. Ihre Frauen oder Männer fanden sie bei den von Eptingen, Münch von Münchenstein, von Ramstein, Truchsess von Rheinfelden, von Blumeneck, von Schönau, von Fleckenstein, von Offenburg, von Hallwyl. Sichtbar wird ein dichtes Netz von adligen Familien zwischen der baslerischen Bürgerschaft, dem Fürstbischof und den mächtigeren Herren wie den Markgrafen, Habsburgern oder Burgundern am Oberrhein. Manchmal fragt man sich, warum der Basler Bischof oder eben auch die in Zünften organisierte Stadt nicht eine viel expansivere Territorialpolitik betrieben haben. Sie konnten es nicht, weil der Ring dieser Adelsfamilien rund um die Stadt familiär und territorial, aber auch militärisch eng und klug geknüpft war, und weil diese adligen Ritter bald dem Bischof, bald der Bürgerschaft, bald aber auch den grösseren Herren wie den österreichischen Erzherzögen zudienten.

Markus Lutz, der unermüdliche geschichtsforschende Pfarrer auf der Landschaft nach der Französischen Revolution, meint, dass die Familie Bärenfels sogar schon um 920 in Basel ansässig war. Johans der Vogt von Brambach wird 1305 als Joh. I. von Berenuels ein Ritter genannt, 1309 wird von ihm als „Joh. De Beyrenvelz, miles gerens negotia episcopatus Basil“ gesprochen, also führte er als ritterlicher Gefolgsmann die Geschäfte des Bistums. Arnold oder Erni III., 1414 als Domherr von Basel nachgewiesen, wird 1437 abermals mit der Herrschaft Bärenfels belehnt. Das ist ein Besitztum samt Burg (heute ein Ruinenrest) zwischen Grellingen und Aesch. Seine Söhne Johans IV. und Lütold III. nennen sich Herren zu Arisdorf und Hägenheim, der letztere 1491 auch Herr zu Grenzach. Gegen Ende des 16. Jahrhunderts, mit Melchior I. (1563-1634) und Leopold II. (1573-1624) trennt sich die Familie in den sogenannten Grenzacher Stollen und den Hägenheimer Stollen. Bei weiteren Nachkommen findet sich auch der Titel eines Herrn von Burgfelden. Aesch, Arisdorf, Hegenheim, Burgfelden, Grenzach – da sieht man geradezu geografisch, wie der Ring beschaffen war, in dem eine solche Basler Adelsfamilie um die Stadt herum sass. Sie residierte auch in der Stadt selber. Ein Bärenfelserhof stand früher am Petersgraben, ein anderer Bärenfelserhof steht noch heute an der Ecke Martinsgasse/Stapfelberg. Das sogenannte Iselin-Zimmer im Historischen Museum stammt aus diesem Bärenfelserhof.

In der Geschichte des Dorfes Schönenbuch von Christian Adolf Müller tauchen Mitglieder der Familie Bärenfels im 16. und 17. Jahrhundert immer wieder auf. Von Friedrich II. von Bärenfels (1674-1737) wissen wir, dass er die Herrschaft Grenzach 1735 an den Markgrafen Karl August verkaufte – besser gesagt: der Markgraf zog dieses Lehen, das den nördlichen Teil des Dorfes Grenzach betraf, gegen Rückerstattung der Pfandsumme wieder an sich. Das Schloss von Hegenheim war lange Jahre so etwas wie der Stammsitz des einen Familienzweiges; ein Hannibal von Bärenfels verkaufte der jüdischen Gemeinde von Hegenheim einen Acker auf dem heute noch der über 300 Jahre alte jüdische Friedhof liegt.

Wenn man sich fragt, wie in früheren Zeiten solche über Generationen wirkende Familien von den Zeitgenossen empfunden wurden, fehlen einem die Vergleichsmassstäbe. Unsere heutigen Familienstrukturen sind sehr anders und kurzlebiger geworden; das neue Eherecht und das Erwerbsleben haben mit patriarchalischen Sippen aufgeräumt. Vielleicht muss man einfach den Blickpunkt etwas verlagern, dann findet man den grossen Firmen ähnliche, die Jahrzehnte und Jahrhunderte überdauernde Mächte. Es tönt vielleicht merkwürdig, aber könnte doch zutreffen: Eine Familie von Bärenfels hat man vor 500 Jahren vielleicht so empfunden, wie wir heute eine über 100 Jahre alte Bank oder eine schon über 200 Jahre alte Chemieunternehmung empfinden. Man muss mit ihr rechnen, man kann ihr zudienen, und einiges vom privaten Wohlergehen hängt eben auch vom Schicksal einer solchen Unternehmung ab. Johann Ludwig von Bärenfels übrigens, der Bruder der Anfang erwähnten Hofdame, führte den offiziellen Titel eines Hofmarschalls der Fürstin von Anhalt-Zerbst. Er starb kinderlos 1839, das Uhrwerk der Basler Adelsgeschichte war abgelaufen.

13.    SchulreformNach Oben

Schlettstadt, im nördlichen Grenzbereich des Dreilandes gelegen, macht den Eindruck einer Stadt, an der die sogenannt modernen Zeiten gnädig vorbeigeeilt sind. Baulich und künstlerisch ist viel Schönes übriggeblieben, hier haben sich die Jahrhunderte oft glücklich verheiratet. Die ganze Stadtanlage, in der Struktur intakt, ist geradezu ein Prototyp der oberelsässischen Städte. Die Basler, Mülhauser und Freiburger können in Schlettstadt nachschauen, wie es bei ihnen auch einmal ausgesehen haben muss, was sie also alles verloren haben durch Kriegsunglück oder eigenen Unverstand. St. Fides (eine romanische Kirche mit später dazugebauten Türmen) und St. Georg (ein Werk der Gotik) dominieren die Stadt; diese beiden Kirchen sind nur einen Steinwurf voneinander entfernt. Was haben sich diese Städte zwischen dem 12. Und 15. Jahrhundert doch alles geleistet – und St. Georg schaut sich im Innern an wie der Zwillingsbruder des Basler Münsters.

Und jetzt tauchen wir in die Schulgeschichte. Zwischen den beiden grossen Zentren Strassburg und Basel, beide von Bischöfen und deren Dienstadel bewohnt, liegt dieses Schlettstadt, eine alte Reichsstadt. Sie braucht Pfarrer und Kleriker nicht allein, um Messen zu lesen, sondern um eben auch die administrativen Geschäfte – heute würde man sagen: die Büroarbeiten – zu erledigen. Also gibt es dort eine Lateinschule, vermutlich seit dem Ende des 14. Jahrhunderts. Das Latein lernt man nicht in der Bibel und kaum der Kirchenväter wegen; Latein ist die administrative Aktensprache, Latein ist zugleich, wie heute das Englische, die wissenschaftliche Weltsprache. Wenn der Schlettstädter nach Polen oder Spanien, nach England oder Italien einen Brief schreiben musste, brauchte er Latein, weil er dann sicher war, dass der Empfänger ihn verstand, und er sich mit seiner Lateinkenntnis schon ausgewiesen hatte.

Aber wie das Latein  gelehrt wurde, war – nach heutigen Vorstellungen – schrecklich. Die Handwerker-, Bauern- und Bürgerkinder mussten, ohne jede Vorkenntnis, zuerst einmal das lateinische Lehrbuch, das sie noch gar nicht verstehen konnten, absatzweise auswendig lernen. Wer es nicht schaffte, kriegte Prügel. Und dann erhielten sie grammatikalische Erklärungen wieder nicht anhand von lateinischen Originaltexten, sondern anhand von antiken bis spätmittelalterlichen Kommentaren. Es wäre so, wie wenn wir heute Englisch mit englisch geschriebenen Shakespeare-Kommentaren aus dem 17. Jahrhundert lernen müssten.

Nach 1450 werden plötzlich – nicht nur im Elsass, nicht nur in Basel, sondern in ganz Europa – Schulreformen aktuell. Warum eigentlich? Hier waltet eine Gesetzmässigkeit, die über die Mediengeschichte weit in die Kultur- und Geistesgeschichte weist: In der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts nämlich beginnt sich der Buchdruck, von Strassburg und Mainz kommend, im Rheintal und gerade auch im Dreiland auszubreiten. Wenn ich als Drucker die Technik der typografischen Vervielfältigung herausgefunden habe und mir jetzt überlege, wo ich einen Abnehmerkreis für Bücher finden könnte, liegt die Schule ganz nah – Schüler brauchen eben Schulbücher. Bis zur Erfindung des Buchdrucks musste der Lehrer das Lehrbuch diktieren; nach der Erfindung des Buchdrucks konnte er es verteilen. Die Gutenberg-Bibel ist zwar das berühmteste Druckwerk der Weltgeschichte, aber nicht ihr erstes; vorausgegangen sind ziemlich sicher Schulbücher.

In Schlettstadt kommt ein Glücksfall dazu. Junge Schlettstädter nämlich, die in Heidelberg studierten, empfahlen ihrem Magistrat als Rektor der Lateinschule einen aus Paderborn stammenden Kleriker namens Ludwig Dingenberg. Der wurde 1441 auch berufen. Sofort begannen die Schlettstädter Lateinschüler Kirchenväter und Klassiker zu lesen, Dingenberg dichtete auch selber (auf lateinisch), so etwa ein Gedicht über den Untergang Karls des Kühnen von Burgund. Der wahre Glücksfall für Schlettstadt aber bestand darin, dass nun über 80 Jahre hinweg ein verständiger, pädagogisch interessierter und wahrhaft gebildeter Rektor dem andern folgte – Crato Hofmann, Hieronymus Gebwiler, Oswald Bär, Johannes Sapidus –, und dass die Schüler ihrer Schule verbunden blieben, sich in gelehrten Gesellschaften noch in Strassburg und Basel fanden, auch als kaiserliche Beamte, Drucker, Historiker, Juristen und Kirchenreformatoren die persönlichen Kontakte behielten und sich einer gemeinsamen geistigen Disziplin verpflichtet fühlten. Jakob Wimpfeling (1450-1528) und Beatus Rhenanus (1485-1547) sind die glänzendsten Namen. Dank dem ersten verbreitete sich die neue Pädagogik in gedruckter Form durch ganz Deutschland, so dass er als der Praeceptor Germaniae, der Unterweiser Deutschlands, schon zu Lebzeiten galt. Der zweite, Rhenanus, war der wohl wichtigste Vermittler des auf das Latein gegründeten oberrheinischen Humanismus. Ohne ihn wäre Erasmus nicht nach Basel gekommen. Und so dichtete dieser damals berühmteste Autor der Welt selber das Lob von Schlettstadt: „Deine besondere Gabe ist die, dass du, Einzige Kleine, soviel Männer erzeugt, reich an Geist und Verstand.“

Und was ist geblieben? Eine Ausstrahlung, ohne die die Rolle Strassburgs und Basels als Buchdruckerstädte, die geistigen Auseinandersetzungen im Reich des Kaisers Maximilian, die Zuwendung Basels zur Eidgenossenschaft und die Kirchenreformation am Oberrhein kaum verständlich wären. Zugleich – und das ist beinahe ein Wunder – eine fast vollständig erhaltene Schulbibliothek mit 500 Jahre alten Schulheften und Akten, aufbewahrt in der Humanistenbibliothek von Schlettstadt, zusammen mit der so gut wie intakten Büchersammlung des Rhenanus. Aus diesen Beständen lässt sich ablesen, was eine Schulreform bewirken kann, wenn sie auf ein eindeutiges Lehrziel ausgerichtet ist, eine geistige Disziplin über Generationen begründet, pädagogisch verständnisvoll vorgeht und aus ihren besten Schülern von heute die Lehrer von morgen zu machen versteht.

14.    Das Geschenk der ZuwandererNach Oben

Eine natürliche Grenze ist eine solche, die die Natur in Form von Hindernissen gesetzt hat: ein stürmisches Meer oder ein wegloses Hochgebirge. Aber ein Fluss ist keine natürliche Grenze, sondern schafft sogar eine besonders intensive Nachbarschaftszone. Denn wo ein Fluss ist, gibt es auch Schiffe und Flösse, Furten und Brücken; Fischer und Schiffer wohnen auf beiden Seiten und wollen immer wieder ans andere Ufer. Der Rhein ist heute die Grenze zwischen der Schweiz und Deutschland, zwischen Deutschland und Frankreich. Er ist keine natürliche, aber eine politisch sehr praktikable Grenze. Statt eines Striches auf der Landkarte markiert ein lebendiges Gewässer die beiderseitigen Territorien. Grossbasel und Kleinbasel sind durch den Rhein weniger getrennt als vielmehr zusammengehalten.

In solchen Nachbarschaftszonen wechseln die Leute gern und oft die Seiten. Gerade Basel ist undenkbar ohne die Zuwanderer aus dem Elsass und aus Süddeutschland. Zuwanderer sind häufig unternehmenslustig und einfallsreich. Und wenn sie sich an einem Ort niederlassen, bringen sie ihre Kenntnisse und Fähigkeiten mit. Diese vererben sich weiter. Zuzüger, oft sogar Flüchtlinge und Asylsuchende, können schon in der ersten Generation wirtschaftlich blühende Gewerbe und Unternehmungen schaffen, die eine Generation später zur Zierde ihrer neuen Heimat geworden sind.

Dieser Sachverhalt steht hinter Basels Ruhm als Druckerstadt in der Wende vom 15. ins 16. Jahrhundert. Ohne süddeutsche und elsässische Zuzüger wäre Basel nie die in der Renaissance hochangesehene, mit Mainz und Venedig, Paris und Nürnberg konkurrierende Druckerstadt geworden. Der damalige Drucker war in der Regel auch der Verleger, dazu meistens auch der Herausgeber, Lektor und Korrektor des durch ihn publizierten Werkes. Die Basler Druckgeschichte ist eine Zuzügergeschichte.

Warum die Leute nach Basel kamen, ist nicht eindeutig zu beantworten. Aber es war eine Stadt, in der vor einer Generation ein Konzil abgehalten worden war. Es besass eine Universität, zählte Papierfabrikanten unter seinen Betrieben, verfügte über Goldschmiede und Stempelschneider, die auch Buchstaben herstellen konnten. Es war eine von der bischöflichen Herrschaft schon weitgehend emanzipierte Bürgerstadt, unabhängig von fürstlichen Launen. Und es verfügte über Kapital, das nach Anlagen suchte. Das war für den Buchdruck eine wichtige Voraussetzung, weil man ja, bevor sich das Buch verkaufen liess, die Lettern und das Papier, die Druckwerkzeuge und die Druckerschwärze finanzieren musste. Auch die Druckgesellen wollten im Lauf der Drucklegung bezahlt sein, die Erlöse kamen aber erst herein, nachdem das Buch fertig gedruckt und manchmal auch noch gebunden worden war. Ohne kapitalistische Vorfinanzierung war kein Buchdruck möglich.

Die ersten Drucke mit beweglichen, gegossenen Lettern stammen von Gutenberg, vielleicht aus seiner Strassburger Zeit während der Armagnaken-Kriege am Oberrhein. Nachher wird Mainz zur Wiege der Buchdruckerkunst. Aber Gutenberg überwirft sich mit dem neuen Stadtherrn und seinen eigenen Partnern, er zieht nach Eltville im Rheingau. Seine Gesellen aber verteilen sich in der Welt bis nach Italien und Frankreich. Einige kommen auch nach Basel und nehmen den Mund sogleich ziemlich voll:

„Wenn denn schon Mainz die Kunst des Druckes von Büchern entdeckt hat,

zog diesen Karren zum Schluss Basel allein aus dem Dreck.“

Die Buchstaben, in denen dieses hochmütige lateinische Distichon von Gasparinus Barzizius gesetzt sind, strafen die Behauptung der beiden Drucker Michael Wenssler und Friedrich Biel etwas Lügen, denn sowohl der Satz wie der Druck sind reichlich mangelhaft.

Hier nun tauchen die Namen der frühsten Basler Drucker auf. Die Forschung kennt deren viele. Es ist die Zeit der sogenannten Inkunabeln, also der Wiegendrucke, unter welchem Namen man die Drucke von vor 1500 versteht. Der schon genannte Michael Wenssler war Strassburger, 1462 an der Universität Basel immatrikuliert, begann wohl um 1472 mit seinem Gesellschafter Friedrich (von?) Biel zu drucken. Sein Kollege Berthold Ruppel fing möglicherweise früher an, 1468, er war einer der ursprünglichen Gesellen Gutenbergs, also wiederum ein Zuwanderer. Der dritte im Bund war Bernhard Richel, ein Elsässer, der für 1472 in Basel nachweisbar ist. Johann von Besicken, ein kleinerer Drucker seit 1480, stammte aus Besigheim bei Bottwar in Württemberg. Peter Kölliker, von dem ein Druck aus dem Jahr 1484 bekannt ist, kam aus Olten. Sein Geschäftspartner Johann Koch, genannt Meister, zog aus Feldkirch im Vorarlberg zu. Nicolaus Kessler aus Bottwar war zuerst Buchhändler und heiratete dann die Tochter von Bernhard Richel. Ludwig Hohenwang, ein Geselle Wensslers, stammte aus Augsburg. Johannes Schilling kam aus Winternheim, hatte das Druckhandwerk in Köln gelernt. Lienhart Ysenhut, Briefmaler, Kartenmacher, Schriftgiesser, erwarb schon 1468 das Bürgerrecht in Basel, war aus Heydeck zugezogen.

Dann folgen die Namen, die der Basler Buchdruckgeschichte zum Ruhmesblatt geworden sind: Jacob Wolff aus Pforzheim, Michael Furter aus Augsburg, Johann Bergmann von Olpe aus dem Sauerland, Johann Welker aus Amorbach im Odenwald, über Paris und Venedig nach Basel zugereist, der sich dann Johannes Amerbach nannte, und Johannes Froben aus Hammelburg in Unterfranken, der wichtige Verbindungen zur Kobergschen Offizin in Nürnberg mitbrachte. Und kein Basler in der ganzen Gesellschaft? Doch, bekannt ist Martin Flach, 1483 Mitglied des Rates, der aber als Drucker wenig Erfolg hatte und zuletzt sein Brot als Gremper, das heisst Kleinkaufmann, verdienen musste.

Geschichte, so ist gelegentlich zu hören, sollte nicht nur den grossen Ereignissen und den blendenden Namen nacheilen, sondern sich auch die Mühe nehmen, in die alltäglichen gewerblichen und sozialen Verhältnisse zu blicken. Das Aufkommen des Buchdrucks in Basel mit seinen Zuzügern und Bastlern, seinen handwerklichen Tricks und den persönlichen Beziehungen zwischen den Druckergesellen, seinen zunehmenden Vermögen und schlimmen Pleiten ist genau ein solches Thema. Da gibt es eine junge und ehrgeizige Universität, die sich um die Drucker eigentlich nicht kümmert; da gibt es einen stolzen, durch die Burgunderkriege selbstbewusst gewordenen Rat, der nebenbei den ersten Druckerstreik zu verhindert versuchen muss. Das offizielle Basel befindet sich auf dem Weg der Annäherung an die wilden Eidgenossen, nimmt wenig Notiz von den Freaks in seinen Kellern und von der quicklebendigen Szene, die das Ende der von Hand geschriebenen Bücher feiert. Und dennoch sind sie es, die nach 1500 das Ansehen der Stadt in der ganzen gelehrten Welt begründet haben. Eine zusammenfassende Geschichte, wie der Buchdruck nach Basel gekommen ist, fehlte bis ins 21. Jahrhundert. Erst im Jahr 2001 erschien von Pierre L. Van der Haegen „Der frühe Basler Buchdruck“. Nun können wir nachlesen, wie ökonomische, sozio-politische und informationssystematische Standortfaktoren und Rahmenbedingungen aus Basel eine Weltstadt des Buchdrucks machten.

15.    Als Basel dem Reich untreu wurdeNach Oben

Aus dem 15. Jahrhundert ist eine Aufzählung der Bistümer am Rhein bekannt. Sie geht über Konstanz, Basel und Strassburg weiter rheinabwärts. Und Basel gilt da – aus heutiger Sicht überraschend – als das lustigste Bistum. Also nicht das geizigste, nicht das frömmste, nicht das konservativste. Enea Slivio Piccolomini, der Konzilsschreiber aus der Zeit um 1440, sagt sogar, die Basler seien dem Bacchus und der Venus zugetan gewesen, also tüchtige Trinker und fröhliche Liebhaber.

Ein wichtiger Einschnitt im Basler Selbstverständnis ist der Beitritt zum Bund der Eidgenossen, 1501, wie wir das gelernt haben und von Zeit zu Zeit feiern müssen. Für uns ist ein nicht-eidgenössisches Basel, zum Beispiel ein baden-württembergisches oder französisches Basel, schlechterdings nicht vorstellbar – um Himmelswillen, wo kämen wir da hin, oder wo wären wir da hingekommen. Nur ist das unsere heutige Sicht. Vor bald 500 Jahren sah die Sache anders aus.

Mit 1474 war die burgundische Bedrohung des Sundgaus und Elsasses vorbei, die Eidgenossen hatten Karl den Kühnen geschlagen und erschlagen. Die Eidgenossenschaft bekam politisches Gewicht, auch in ihrem Verhältnis zum deutschen Kaiserreich – hintenherum vom französischen König sorgfältig gehätschelt. Basel steckte in einer Zwickmühle. Es war ja Reichsstadt, so wie Colmar oder Schlettstadt, aber das Haus Habsburg, jetzt eben das kaiserliche Haus, das unter Kaiser Maximilian die Eidgenossenschaft als Teil des Reiches noch lange nicht abgeschrieben hatte, war Basels unmittelbarer Nachbar. Das Elsass, der Sundgau, die Waldstädte Rheinfelden, Laufenburg, Säckingen, Waldshut und Teile des Breisgaus waren vorderösterreichische Lande. Basel hatte in diesem Gebiet, sei es der Bischof, sei es die Stadt, zahlreiche Besitztümer, bezog reichlich Zinsen und Abgaben. Militärisch hatten die Basler erlebt, welch soliden Rückhalt die Eidgenossen bieten konnten; wirtschaftlich und diplomatisch musste Basel darauf bedacht sein, mit der habsburgischen Herrschaft und somit dem kaiserlichen Haus in einem vernünftigen Frieden zu leben.

Was Maximilian erstrebte: ein Bündnissystem zwischen elsässischen und schwäbischen Städten, unter Einbezug der Eidgenossen und anderer Reichsfürsten, natürlich auch des Hauses Habsburg selber, kam nicht zustande. Im Gegenteil, der sogenannte Schwabenkrieg brach aus, besiegelt mit der entscheidenden Schlacht in der Nähe von Dornach. Die Eidgenossen begannen sich von Habsburg und somit aus dem Reichsverband zu lösen. Für Basel war die Kernfrage gestellt: Reichsstadt oder eidgenössische Stadt? 1501 wählte es die zweite Alternative.

Wo den Basler Schulkindern noch lokale Geschichte gelehrt wird, erzählt man ihnen vom Jubel , der in Basel herrschte: dass man jetzt eine alte Spinnerin zur Bewachung der Stadttore einsetzen konnte, weil die Verhältnisse so sicher geworden waren. Aber man erzählt nichts davon, dass damit die alten Verbindungen zu den elsässischen und breisgauischen Städten, zu den Rheinladen überhaupt, plötzlich sehr dünn wurden. Dass Basels Bedeutung als Reichsstadt drastisch sank, dass viele Leute in der tonangebenden Schicht, die in grösseren Verhältnissen dachten, entsetzt waren.

Da gab es einen Professor für römisches und kanonisches Recht an der Universität, verheiratet mit der Tochter eines Basler Zunftmeisters und Messerschmieds. Er war Sohn eines Strassburger Ratsherren und Gastwirts, geboren 1457, seit seinem 18. Lebensjahr in Basel ansässig. Dozent an der Universität wurde er 1484, hielt neben seinen juristischen Lektionen auch Vorlesungen über Poetik. Im gefiel ein eidgenössisches Basel überhaupt nicht. Er sah Basel den rheinischen Städten zugeordnet – es führten ja auch die Basler Handelswege rheinabwärts. Er schätzte die Rolle der Basler Juristen im Reichsverbund und in den kaiserlichen Ämtern. Das eidgenössische Wesen schien ihm zu derb, zu hemdsärmlig; er wusste als diplomatisch erfahrener Mann, dass die Abgrenzung der Eidgenossen zum Kaiserreich auch etwas mit den französischen Soldgeldern zu tun hatte. Der französische König wollte für seine oberitalienischen Kriegszüge schlicht die Söhne der Sieger von Grandson und Murten einkaufen. Als er somit feststellen musste, dass kein Kraut gegen die eidgenössische Begeisterung in Basel mehr gewachsen war, packte dieser Mann im Alter von 43 Jahren seine Siebensachen und zog im Herbst 1500 zurück in die Vaterstadt Strassburg.

Wie gesagt, dichtete er auch. Lateinisch in der Regel, gelegentlich auch deutsch. Er schrieb 1494 sogar einen Bestseller seiner Zeit: das bis zu Goethes „Werther“* auflagenstärkste Buch der deutschen Literatur. Es war in Versen geschrieben. Verse schrieb er, zurückgekehrt nach Strassburg, weiterhin. Einer davon ist im Jahr 1512 den Baslern gewidmet, die für den Winter-Feldzug von 1511 in die Lombardei (das Lamparter Land) 300 Man stellen mussten:

Der stier zoch in Lamparter Land.

Do er me frost dan spisung fand.

Darumb zoch er wider heim,

Mit wenig gelt und eren cklein.

Basel, do du bist zu geselt

Dem stier, muostu, wan im gefelt,

In winter frost und hungers not

Ussziehen mit armer rott.

Freig werest du beliben, mir glaub,

On todschlag, sund und roub.

Jetz bistu angebunden dem stier an schwantz,

Nun muostu lernen den purentanz.

Das schrieb Sebastian Brant (1457-1521). Er war der Verfasser des „Narrenschiffs“, das jeden definierbaren Typ von Mensch als Narr darstellte, somit auch ein Porträt der sozialen Verhältnisse kurz vor 1500 entwarf. Der Herr Professor schrieb da, in knarrigem Deutsch, ein wahrhaftes Volksbuch.

Sebastian Brant war, soviel wir wissen, von seinem Wesen her ein konservativer Mensch. Aber zugleich war er ein lustvoll auf neue Möglichkeiten bedachter Geist. Man darf sich vorstellen, wie Sebastian Brant in den Druckoffizinen von Amerbach oder Bergmann von Olpe nach einem Illustrator für sein „Narrenschiff“ suchte und auf einen jungen Nürnberger mit flaumigem Bart traf. Dieser zeichnete ihm die Vorlagen für die Illustrationen des „Narrenschiffs“, es war niemand anders als der junge Albrecht Dürer.

Der Basler Thomas Wilhelmi nimmt sich mit der nötigen philologischen und historischen Gewissenhaftigkeit der Herausgabe von Brants gelehrtem und literarischem Werk an. Brant steht hier als eine Gelehrten- und Dichterpersönlichkeit, die an einem eidgenössischen Basel Anstoss nahm und es lieber gesehen hätte, wenn die Stadt im alten Verbund der elsässischen und süddeutschen Reichsstädte verblieben und dem Kaiser möglichst viel erfahrene Hofräte und Richter gestellt hätte. Dass die Basler dem Stier an den Schwanz gebunden einen Bauerntanz aufführen mussten, hat er Zeit seines Lebens nicht verwunden.

16.    Ausblick auf den RheinNach Oben

Kommt ein Gefährt in eine Kurve, ist die Beschleunigung am äussern Rand der Krümmung immer die grösste. Man muss nur zuschauen, wie Rennautos eine Kurve angehen. Dasselbe gilt für Flüsse: am äussern Rand einer Flussbiegung fliessen die Wasser schneller, darum sind in der Regel Flüsse dort tiefer als gegenüber. Am deutlichsten erlebt man das, wenn man in der Mitte einer Krümmung am Rand steht, und noch besser kann man das verfolgen, wenn der Standort zugleich eine gewisse Höhe über dem bewegten Fluss einnimmt.

Wo ist in Basel diese Stelle? Sicher im Grossbasel, in der Mitte der Flussbiegung und dort, wo die Häuser möglichst hoch über dem Wasser und möglichst nah an ihm stehen, so dass man Kirschensteine aus dem Fenster in die Wellen spucken könnte. Beste Adresse dafür ist wohl die Augustinergasse 1. Das Haus also, in dem Sebastian Brant zu seiner Basler Zeit wohnte.

Nun stellen Sie sich bitte vor, dass es vor rund 500 Jahren natürlich noch keine gemauerten Ufer, keinen Rheinkanal und keine Kraftwerke oder Schleusen gab, sondern dass der Rhein sich unterhalb von Basel in verschiedene Arme teilte, sogar Inseln bildete. Hoch- und Niederwasser waren extrem ausgeprägt, bei Hochwasser kam nicht nur ein wenig Schwemmholz wie heute mit, sondern es tanzten ganze Bäume in den Wellen, vermutlich auch die Kadaver ertrunkener Tiere. Der Rhein war ungewöhnlich fischreich, also fuhren Fischerboote auf ihm herum; der Rhein war ein zuverlässiger und billiger Transportweg, aus dem Schwarzwald langten somit zu Flössen zusammengebundene Baumstämme an. Reisende aus dem vorderösterreichischen Rheinfelden und gelegentlich sogar aus Zürich oder Luzern langten per Schiff bei der Schifflände an, von dort fuhren ganze Warenladungen und Passagiere im Boot rheinabwärts weiter. Vom Anfang der Augustinergasse hatte man überdies den denkbar besten Ausblick auf die damals einzige Stadtbrücke mit dem Käppelijoch, sah hinüber in die Sägereien auf der Kleinbasler Seite, wo geflösste Hölzer verarbeitet wurden und die Fischer ihre Netze auswarfen. Es war allerhand los auf dem Rhein, dessen Tempo im Vergleich zu heute viel stärker variierte. Für den Beobachter an der besagten Adresse musste das Treiben gelegentlich einen närrischen Eindruck gemacht haben.

Hier schrieb Sebastian Brant, vielleicht sogar mit Blick auf den Rhein, sein „Narrenschiff“. Dass er die ganze Menschheit in einzelnen Gruppen auf Schiffen verfrachtet begreifen wollte, hat vermutlich verschieden Wurzeln. Die Menschen hatten sich schon früher die alte Kirche (Sant Peters schyfflin) als ein Schiff auf dem Meer der Welt vorgestellt, aber auch der Antichrist fuhr auf einem, diesmal grossen Schiff durch die Fluten. Da ist eine alte Vorstellungs- und Bilderwelt am Werk, die aber – nicht zuletzt dank Brants Schöpfung – gerade jetzt von einer neuen Sicht abgelöst wird. Man hat es auch schon so verstanden: Das „Narrenschiff“ von Brant schliesst das zu Ende gehende späte Mittelalter ab, das „Lob der Thorheit“ (laus stultitiae) von Erasmus öffnet 1509 dasjenige zur Neuzeit. (Übrigens machte Erasmus 1514 bei Brant in Strassburg eine Höflichkeitsvisite.)

Menschen als närrische Passagiere sah Brant dem Strom des Lebens und der Zeit ausgeliefert. Wer ist denn ein Narr? Wer vom alten Weg des rechten Lebens, des von den Kirchenvätern vorgeschriebenen, letzten Endes asketischen Lebens, abweicht, wer über irdischen Gütern und Vergnügungen oder aus persönlichen Leidenschaften Solidarität, Nächstenliebe, Verantwortungsbewusstsein und Erbarmen vergisst und den eigenen Tod verdrängt. Damit, so Brant, sind wir letztlich alles Narren. Sich selber hat er an mehr als einer Stelle ihnen zugezählt, auf jeden Fall als Büchernarr.

Die Beziehung von Narrheit und Wasser geht noch weiter. Die Lehre von den vier Elementen, also von Erde, Wasser, Luft und Feuer, setzt die seelischen Verfassungen jedes Menschen in eine Relation zum flüssigen Element. Wahnsinn und Wasser haben miteinander zu tun; entfesselte Fluten begleiten symbolisch oder rufen real Geistesverwirrtheit hervor. Die Epilepsie wird im Mittelalter als ein inneres Kochen der Säfte des Menschen begriffen, nicht zufällig äussert sie sich durch Schaum auf den Lippen. Da die Wasser der Erde sich unter der Schwerkraft des Mondes bewegen, heisst die Epilepsie als ein Zustand der Verrücktheit auch die lunatische Krankheit. Wasser aus Quellen und Brunnen können nicht nur das Alter oder das Geschlecht verändern, nicht nur heilen oder vergiften, sie können auch Leute zur Vernunft zurückführen oder in die Verrücktheit entlassen. Die Bibel ist voll von Szenen oder Gleichnissen, in denen das Wasser eine Rolle spielt: Jesus schreitet über die Wasser, ein Sturm wird plötzlich befriedigt, der wundersame Fischzug findet im Wasser statt.

Das erfundene Land Narragonien, nach dem Brants Narrenschiff strebt, ist eine symbolisch äussert komplexe Destination, etwas zwischen Schlaraffenland und einem Ort der Verderbnis, auf jeden Fall kein seeliges Land.

Das Buch war zu seiner Zeit ein Riesenerfolg. Neuauflagen, Nachrucke, Raubdrucke, Übersetzungen (lateinisch, französisch, niederländisch, englisch) folgten einander. Brant freute und ärgerte sich darüber, wurde zu einem berühmten Autor.

Kehren wir zurück zum Ausblick aus einem Fenster der Augustinergasse 1 in Basel. Sicher ist es so, dass das Schiff, das die Narren trägt, viel weniger mit gesetzten Segeln und zielbewusst einem Kontinent, wie etwa dem soeben entdeckten Amerika, entgegen strebt; vielmehr treiben es und seine Passagiere mit dem Wasser weiter an einen unbekannten Bestimmungsort. Wo wir auf den Bildern Ruder sehen, sind es keine solchen, die für einen grösseren See oder gar fürs Meer tauglich gewesen wären, es sind nur einfache Steuerruder, wie man sie heute noch einseitig auf Weidlingen braucht. In einer vom Christoph Merian Verlag zur 500jährigen Wiederkehr der ersten Ausgabe des Narrenschiffes veröffentlichten Publikation sind alle Dokumente zum Leben Brants und alle Bezüge zu diesem einzigartigen Werk an der Wende vom 15. ins 16. Jahrhundert zusammenfassend dargestellt.

Die erste Anregung zu seinem eigenen Buch aber dürfte Sebastian Brant durch den Blick aus dem Fenster seines Hauses mitten in Basel bekommen haben: Der Rhein als der heimliche Vater eines Bestsellers um das Jahr 1500.

17.    Die Taufe AmerikasNach Oben

Stefan Zweig lebte von 1881 bis 1942. Unsere Grosseltern haben ihn gelegentlich mit glühenden Augen gelesen. Er war ein Bestseller-Autor, aber von der intelligenten Sorge. Geschichte interessierte ihn; man kann sogar sagen, dass im deutschsprachigen Raum Stefan Zweig Erhebliches für das historische Bewusstsein zwischen den beiden Weltkriegen geleistet hat.

Nach seinem Freitod erschien 1944 postum eine kleine Studie über das Vespucci-Problem, wie Zweig das selber nannte. Sie wurde mit dem Titel „Amerigo, die Geschichte eines historischen Irrtums“ im Bermann-Fischer Verlag Stockholm veröffentlicht, dem Hausverlag der deutschen, von den Nationalsozialisten verfolgten Emigranten. Die Fischer-Taschenbücher haben diesen Titel in ihr Sortiment übernommen. 1992 war es angezeigt, auf diesen Text wieder einmal zurückzugreifen, weil sich damals die Entdeckung Amerikas zum 500. Mal jährte. Und was witzig ist: Wir wissen unterdessen ein paar Einzelheiten mehr, die Zweig noch nicht bekannt waren. Man muss sich dafür allerdings in den dicken, durch Frank Hieronymus von der Universitätsbibliothek Basel ausgearbeiteten Katalog der Basler Buchillustrationen von 1500 bis 1545 eingraben.

Um was geht es? Ganz einfach darum, warum Amerika Amerika heisst. 1492 segelte Columbus westwärts unter völlig falschen Annahmen, aber sichtete dann in der Karibik Land, von dem er sich vorstellte, es könnte Japan oder vielleicht China, wenn nicht sogar Indien sein. Die Geschichte dieser Entdeckung der Neuen Welt soll uns hier nicht weiter beschäftigen, aber wohl, wie sie rezipiert wurde.

Da gab es in Strassburg einen 1482 geborenen Philologen und Schullehrer, der sich wie die meisten jungen Intellektuellen seiner Zeit lebhaft für die kursierenden Berichte über die Entdeckung der neuen Welt interessierte. Der Italiener Amerigo Vespucci hatte nach seiner dritten Reise 1501/2 in diesem Weltteil – er sprach, im Unterschied zu Columbus, ausdrücklich von einer „Neuen Welt“ – einen ausführlichen Bericht an die Adresse von Lorenzo die Medici auf italienisch verfasst, und Mathias Ringmann oder Philesius, eben der besagte Schullehrer, gab diesen Brief auf lateinisch heraus. Das war 1505. Geografische Bücher hatten Hochkonjunktur, waren ein gutes Geschäft. Freilich war es den Gebildeten der Zeit klar geworden, dass das alte ptolemänische Weltbild durch diese Neuentdeckungen in eine schiefe Lage geraten war. Vieles wollte nicht mehr stimmen, neben Europa und Afrika und Asien musste man einen vierten Weltteil zur Kenntnis nehmen.

Im März 1507 weilte Ringmann in St-Dié im lothringischen Vogesenvorland. Der Sekretär des Herzogs René II. von Lothringen, Gualtherus Ludd, hatte dort eine Druckerei eingerichtet. Im Kreis um Ludd befand sich auch Martin Waldseemüller, antikisiert Hylacomylus geheissen, der vermutlich von 1470 bis 1521 oder 1522 lebte. Zusammen mit Ringmann beschäftigte er sich mit geografisch-kartografischen Studien. 1507 publizierte er eine eigene Cosmographie bei Ludd in St-Dié. Gewidmet war sie Kaiser Maximilian; sie enthielt auch zwei Geleitgedichte Ringmanns und vor allem die Übersetzung der Berichte Vespuccis, ausgeführt durch Jean Basin de Sandacourt. Beigefügt war der Publikation aber auch eine Weltkarte, und auf dieser Weltkarte findet sich, wie auch im Text, zum ersten Mal der Name „America“. Die Neue Welt, der vierte Weltteil, war verbindlich getauft.

Man darf sich anhand der Jahresdaten das Bild dieses Vorgangs ziemlich farbig ausmalen. Nach der Rückkehr des Columbus begannen die Berichte über das unbekannte Land im Westen zu zirkulieren. Vor allem in den grossen Handelshäusern, die auf die Schifffahrt angewiesen waren, herrschte Aufregung. Plötzlich wollte jedermann diese Länder selber gesehen haben. So reiste auch Amerigo Vespucci westwärts. Eigentliche Zeitungen gab es nicht, aber – wie Stefan Zweig anschaulich schilderte – es begannen in den verschiedenen Sprachen Flugblätter zu erscheinen. Über die Handelshäuser fanden sie Aufnahme in ganz Europa. Um 1507 waren der Literat Ringmann vermutlich 25 Jahre, der Geograf Waldseemüller 37 Jahre alt. Wir haben es also mit einem sehr jungen und einem noch jungen Mann zu tun, die, assoziiert mit einem Drucker in den Vogesen, das blühende Geschäft der Strassburger und Basler Drucker mit geografischen Büchern und Karten neidvoll verfolgen. So etwas sollten wir auch machen, sagen sie. Jetzt fällt ihnen der Text von Amerigo Vespucci in die Hände. Aus ihm lernen sie, dass Columbus weder Japan noch China noch Indien entdeckt hat, sondern die noch namenlosen Kuba, Jamaica und Hispaniola. Vespucci selber ist über die Karibik hinaus bis an die mittelamerikanische Küste gefahren. Wenn das aber eine neue Welt ist, muss sie auch einen neuen Namen haben.

Ringmann und Waldseemüller haben das Problem erkannt. Aus Amerigo Vespucci wird bei Ringmann zuerst Albericus Vesputius, aber dann, zwei Jahre später, wird aus dem italienischen Amerigo ein lateinischer Americus und somit wird der neue Kontinent eben Amerika getauft. In seinen eigentlichen Umrissen bis hinauf ins heute kanadische Gebiet ist er noch unbekannt, ganz zu schweigen von seiner pazifischen Küste auf der anderen Seite.

Die Frage, wo die der Publikation beigegebenen Karten letztlich gedruckt wurden, ist mit Sicherheit nicht zu beantworten. St-Dié wird genannt, aber war diese vermutlich kleine Offizin wirklich für solche grossen Formate eingerichtet? Oder war Judd mehr Verleger als Drucker, und wurden die grafischen Teile des Werkes in Strassburg gedruckt? Die Frage bleibt offen, nicht weniger als die andere: wer nämlich diese Karte gezeichnet hat. Denn die Art und Weise, wie auf ihr Ptolemäus (als Vertreter der alten Kosmographie) und Amerigo Vespucci (als Vertreter der neuen Kosmographie) dargestellt sind, deutet auf einen bedeutenden Meister des Holzschnittes. Frank Hieronymus erwägt zwei mögliche Künstler: den Strassburger Johann Wechtelin und den in Basel wirkenden Urs Graf. Nach den biografischen Daten könnten beide in Frage kommen; aus formalen Erwägungen rückt Urs Graf in den Vordergrund.

Gesichert aber auf jeden Fall ist: Amerika wurde in St-Dié Amerika getauft. 1507 ist das entscheidende Jahr. Knapp 15 Jahre waren verflossen, seit Columbus erstmals in der Karibik gelandet war. Den Namen für den Neuen Kontinent hat Amerigo Vespucci geliefert, aber erst auf Vorschlag von Martin Waldseemüller und vielleicht auch Mathias Ringmann. Der entscheidende Satz, der schon Stefan Zweig elektrisierte, lautet übersetzt: „... welches Land, da Americus es entdeckt hat, man das amerigische, also das Land des Americus oder eben Amerika nennen darf.“ Ein kleiner Freundeskreis von neugierigen Intellektuellen um einen geschäftshungrigen Drucker hat mit Hilfe eines zugezogenen Künstlers im Dreiland dem grossen Kontinent jenseits des Atlantik den Namen gegeben – nachzulesen zum Beispiel eben bei Stefan Zweig oder Frank Hieronymus.

18.    Der Schatten des LehrersNach Oben

Auf dem Bild von Holbein tritt Bonifacius Amerbach mit der Strahlungskraft des erfolgreichen, anerkannten, seiner Sache sicheren Mannes im besten Alter auf: ein schöner, angesehener, in aller Bescheidenheit stolzer Mensch. Sein Vater Johannes war noch Zuwanderer gewesen, nach Basel verlockt durch die Aussicht, als Drucker und Verleger Karriere zu machen. Der Sohn darf sich jetzt, befreundet mit Erasmus, Holbein und Froben, dem Geschäftsnachfolger seines Vaters, als echten Sohn der Stadt betrachten. Der Glanz, der auf ihm liegt, ist nicht zu übersehen; Holbein hat ihn gespürt und gemalt. Rasur und Toilette, Kopfbedeckung und Bart, Pose und die Staffage mit der lateinischen Inschrift – alles stimmt.

Aber welche Kräfte haben diesen prächtigen Mann geformt? Sicher das Vorbild seines erfolgreichen und zugleich so tüchtigen wie gebildeten Vaters, der auch ein strenger Erzieher war. Der Amerbachsche Haushalt im Kleinbasel darf geradezu als das Muster einer durch und durch humanistischen Familie gelten, wo Bildung und Erziehung, tägliches Verhalten und geistige Disziplin, städtisches Wirken und internationale Kontakte im schönsten Einvernehmen standen. Aber nun darf man näher zuschauen und entdeckt, dass an der Ausbildung des Bonifacius Amerbach (1495-1562) noch ganz andere Leute beteiligt waren. Neben dem auf ihm ruhenden Glanz blieben sie meistens im Schatten der Erinnerung. Einer von diesen Lehrern, der erste und vielleicht auch wichtigste, ist Conrad Leontorius.

Wer ist dieser Mann? Geboren wurde er wohl um 1460 in Leonberg zwischen Pforzheim und Stuttgart. Möglicherweise war sein Familienname Töritz oder Toritz, er brauchte ihn später nicht mehr, da er sich von seinem Geburtsort Leonberg latinisiert Leontorius nannte. Um 1475 muss er in Basel gewesen sein, lernte dort Johannes Amerbach, den Vater des Bonifacius, kennen. Man darf annehmen, dass er Griechisch konnte, in Basel bei Johannes Reuchlin auch Hebräisch studierte, obwohl die Universitätsmatrikel seinen Namen nicht kennt. Nach groben Abschnitten lässt sich sein Lebensweg weiterverfolgen. 1480 wird er Zisterzienser Mönch in Maulbronn. Freundschaftliche Beziehungen zu Jakob Wimpfeling und anderen humanistischen Gelehrten des oberrheinischen Kreises sind nachweisbar. Da sind wir also mitten in der wesentlich von der Lateinschule Schlettstadt getragenen vorreformatorischen Humanistengesellschaft, die alles andere als griesgrämig war. Man feierte, dichtete, musizierte, trank Wein bis tief in die Nacht hinein. 1489 ist Leontorius Sekretär des Generalabtes Jean de Cirey in Citeaux, befindet sich also in Frankreich; 1495 ruft ihn das Mutterkloster Maulbronn wieder zurück und schickt ihn als Beichtvater in das Zisterzienserinnen-Kloster Engental bei Muttenz. Von diesem Nonnenkloster ist nichts übrig geblieben, es wurde 1525 im Bauernkrieg geplündert, 1534 nach der Reformation aufgehoben. Die Gebäude und die kleine Kirche wurden an Bauern verkauft, die die Gebäude später abrissen. 1509 hatte Leontorius gesundheitliche Probleme, er musste zu Kurzwecken in das Wildbad Hirsau reisen, es nützte ihm wenig. 1511 starb er im Kloster Engental, erst 52 Jahre alt.

Allzuviel wissen wir von der Person und dem Charakter des Leontorius nicht. Er war ein für seine Zeit hochgebildeter Mann, gab 1506 eine Bibel heraus und edierte antike Texte. Von sich selber sagte er, dass seine Veranlagung eher aufs Loben und Lieben, nicht aufs Tadeln und Neiden aus sei. Er dichtete gern bei einem Glas Wein, er schrieb vorzügliche Briefe. Vor allem war er ein grossartiger Erzieher.

1507 – Bonifacius Amerbach war zwölf Jahre alt – beschloss der Vater Amerbach, seinen jüngsten Sohn nach Muttenz in die Schule des Klosters Engental zu Leontorius zu geben. Offenbar war es eine ganze Gruppe von Knaben, die man da aus Basel ins Internat über die Birs schickte. Die Mutter, eine Bürgermeisterstochter aus Neuenburg am Rhein, vergoss heimliche Tränen. Ein Brief von Leontorius an den Vater ist erhalten geblieben. Er schrieb: „An den Knaben, die du mir anvertraut hast, ist ein reger Wetteifer zu bemerken, jeder sucht es dem andern in guten Sitten und Kenntnissen zuvorzutun. Doch auf einmal kann man einen Menschen nicht dahinbringen, wohin man möchte – das muss eben Schritt für Schritt und mit Liebe geschehen. Deshalb lasse ich dich wissen, dass dein Bonifacius auf freundliche Weise geleitet sein will und nicht durch knechtische Furcht, und das gefällt mir an einem Knaben von guter Art viel besser, als wenn man ihn, wie es deutsche Sitte ist, auf barbarische Weise mit der Rute anspornt. Wenn du also seine Handschrift nicht sofort verändert findest, so wundere dich nicht, mein lieber Amerbach; denn nur im Verlauf der Zeit erschliessen sich die Geister und gehen der Reife entgegen und – so lautet mein Wahlspruch – jeder Tag ist der Lehrer des andern.“ Und auch der Satz, mit dem Leontorius seinen Brief beendete, muss dem Vater wohlgetan haben: „Lebe wohl – und darfst dir von deinem Bonifacius Grosses versprechen.“

An Johannes Amerbach sind insgesamt 35 Briefe des Leontorius erhalten geblieben. Sie gelten auch der engen Zusammenarbeit dieser beiden Männer als Drucker und Herausgeber für theologische Texte und Quellen. Ebenfalls besitzen wir zahlreiche lateinische Gedichte aus der Feder des Leontorius.

So wird hinter der strahlenden Gestalt des Bonifacius Amerbach als feine Silhouette der süddeutsche Conrad Leontorius sichtbar, der  mit aufmerksamer Liebe die ersten Schritte des Knaben verfolgte und ihn, als er später an die Schlettstädter Lateinschule ging, mit seinen Gedanken begleitete. Einmal mehr wird deutlich, was für ein intensives persönliches und pädagogisches Beziehungsnetz zur Zeit des Eintrittes von Basel in den Bund der Eidgenossen die oberrheinische Tiefebene nach allen Seiten verknüpfte. Die Figur des Leontorius macht deutlich, dass die Sorge um die Bildung junger Menschen ältere Wurzeln hat und dass man sich vor allem im Dreieck Schlettstadt-Freiburg-Basel mit einer neuen Pädagogik befasste. Leontorius als einer ihrer Träger hätte es verdient, von der historischen Forschung genauer ins Auge gefasst zu werden; viele seiner Gedichte und Texte schlummern noch ungelesen in den Archiven.

19.    GesangvereinNach Oben

Thomas Wilhelmi hat mich zu einem Griff ins Gesangbuch der evangelisch-reformierten Kirchen der deutschsprachigen Schweiz veranlasst. Wir schlagen also auf – so sagt es jeweils der Herr Pfarrer – Lied Nummer 171 „Auf diesen Tag bedenken wir“. Gemeint ist der Tag der Himmelfahrt Christi. Aber für einmal singen wir es nicht, sondern schauen nach dem Namen des Verfassers. Johannes Zwick heisst er. Wer war Johannes Zwick? Ungefähr um 1496 soll er in Konstanz geboren sein, er starb 1542 als evangelischer Pfarrer im ostschweizerischen Bischofszell. Viel weitere Nachrichten haben wir nicht von ihm, wir wissen nur, dass er in Basel und Freiburg die Rechte studierte, in Italien zum Doktor jur. promovierte, sich nachher zur Theologie entschloss und den lutherischen Glauben annahm. Das Gesangbuch führt insgesamt sieben Lieder aus seiner Feder an; die Allgemeine Deutsche Biographie ist nicht so sicher, ob sie wirklich alle von ihm stammen.

Hatte er Kollegen? Wir schlagen auf das Lied Nummer 335, aber diesmal im Deutschen Gesangbuch „Ich dank dir lieber Herre“. Als Verfasser erscheint Johannes Kolros. Der wurde um 1487 in Kirchhofen bei Staufen geboren, immatrikulierte sich an der Unversität Freiburg. 1529 wurde im Zug der reformatorischen Schulordnung die Basler Lateinschule zu Barfüssern in die erste deutsche Volksschule für Knaben umgewandelt, Kolros wurde ihr Lehrmeister. Ihm verdanken wir ein „Handbüchlin tütscher Orthografi“, eine systematisierende Lautlehre auf hochdeutsch-schriftsprachlicher Grundlage mit Berücksichtigung alemannischer Eigentümlichkeiten. Er verfasste Theaterstücke, an Totentanzszenen anknüpfende Spiele, die das Jedermann-Thema auf die Bühne brachten und bis nach Augsburg zu zahlreichen Nachbearbeitungen führten. Auch dichtete er an Texten von Martin Luther weiter. Das Lied Nummer 205 im schweizerischen Gesangbuch „Verleih uns Frieden gnädiglich“, das dort Luther als Verfasser nennt, könnte eine Umarbeitung von Kolros darstellen. Gestorben ist er in Basel, vermutlich zwischen 1558 und 1560. Hier war er durch seine Heirat Besitzer eines eigenen Hauses am Petersberg, genannt zur Meerkatze, geworden.

Und die Elsässer? Auch die sprachen und schrieben damals noch deutsch. Das Lied Nr. 269 „Dein, dein soll sein das Herze mein“ nennt als Verfasser Leo Jud. Er ist 1482 im elsässischen Gemar geboren, 1542 in Zürich gestorben. An der Universität Basel lernt er Huldrych Zwingli kennen, mit dem er sich befreundet. Nach Erwerbung des Magistergrades wird er zuerst Pfarrer in St. Hippolyte, 1519 Zwinglis Nachfolger in Einsiedeln. 1523 zieht er nach Zürich um und wird Pfarrer zu St. Peter. Nach Zwinglis Tod arbeitet er eng mit dessen Nachfolger Bullinger zusammen, beteiligt sich an der neuen Bibelübersetzung, die als die sogenannte Zürcher Bibel in die Geschichte eingegangen ist.

Jud ist nicht der einzige dichtende Elsässer, wir können auch Lied Nr. 349 aufschlagen „Gib Frieden unsrer Zeit, o Herr“. Geschrieben hat es Wolfgang Fabricius Koepfel, lateinisch Capito. 1478 wurde er in Hagenau geboren, gestorben ist er 1541 in Strassburg. Er war der dritte Gatte der schon zu ihrer Zeit bekannten Wibrandis Rosenblatt. Capito besuchte nach der Grundschule in Pforzheim die Universitäten Ingolstadt und Freiburg, wo er als theologischer Lizentiat abschloss. Von 1515 bis 1516 finden wir ihn als Münsterprediger und Theologieprofessor in Basel, wo Erasmus Capitos Hebräischkenntnisse überaus schätzte. Vor seinem Umzug nach Mainz infolge einer Berufung zu einer Domprädikatur erwarb er in Basel noch schnell den Doktorgrad für kanonisches Recht, in Mainz holte er sich dann den theologischen Doktorhut. Die Abreise aus Basel per Schiff nach Mainz hatte einen kleinen Volksaufstand zur Folge. Man war den kirchlichen Würdenträgern gram, dass sie diesen Mann ziehen liessen, der so grundgelehrt und in seinem Wandel untadelig war. Und zwar reklamierten weniger die Studenten als „das Volk“, wie es in einem Brief an Zwingli zu lesen ist. Seine reformatorischen Ideen waren im erasmischen Geist gemässigt, aber er liess sich gern die Pfründen der reichen Strassburger Propstei von St. Thomas verleihen und trat trotzdem plötzlich als entschiedener Prediger der neuen Lehre in Strassburg auf. Ihm schwebte eine neue Art von Landeskirche vor, eine eigentliche Staatskirche, die in einem Landesherren zugleich die höchste geistliche und weltliche Gewalt an ihrer Spitze vereinigen würde. Vermutlich war er depressiv veranlagt, schon lange vor seinem Tod sehnte er sein Ende herbei, weil er die Hoffnung auf eine Besserung des kirchlichen Zerwürfnisses aufgegeben hatte.

Capito 1478 geboren, Jud 1482 geboren, Kolros 1487 geboren und Zwick 1496 geboren entstammten alle vier fast derselben Generation. Sind sie sich begegnet? Wir wissen es nicht, möglich wäre es schon gewesen. Für alle vier war das bestimmende geistige und sehr bald auch politische Ereignis die Reformation im oberrheinischen und schweizerischen Gebiet um 1529. Alle vier hatten eine akademische Ausbildung genossen, alle vier übten ein Predigeramt aus. Strassburg, Freiburg, Basel und Zürich stecken den Raum ab, in dem sie sich bewegten. Alle vier publizierten und verfassten Kirchenlieder. Und alle vier bedienten sich dafür ganz direkt der deutschen Sprache, die sie mit Meisterschaft handhabten. Zwick kann auch das in seiner Einfachheit grossartige Lied „All Morgen ist ganz frisch und neu“ zugeschrieben werden. (In der für 1998 geplanten Neuauflage des Kirchengesangbuches wird man das nachlesen können – samt einer bisher unterschlagenen Strophe.)

Gewiss ist Martin Luther der grosse Erwecker der deutschen Sprache mit seiner Übersetzung der Bibel, seinen Streitschriften und seinen Liedern, die sich häufig an Psalmen anlehnen. Aber seine Grösse verdunkelt gelegentlich Zeitgenossen, die ohne ihn vielleicht so nicht zur Feder gegriffen hätten, die aber, wenn sie schon schrieben, auf eine durchaus eigenständige Tradition des deutschen Ausdrucks zurückgreifen konnten. Diese war schon lebendig, bevor Luther seine Thesen anschlug und die Bibel übersetzte. Das Dreiland am Oberrhein ist in diesem Sinn auch eine Wiege deutscher Dichtkunst, zu der das Holz noch von den Bäumen der Mystiker und Minnesänger genommen werden konnte. Der gewaltige Umbruch, den die Reformation darstellte, hat hier eine so reiche Ernte an Liedern gebracht, dass man beinahe von einem Gesangverein sprechen darf.

20. Kapitalistische GeschäfteNach Oben

Es liegt schon einige Zeit zurück, dass Martin Steinmann eine Auswahl von Briefen des Buchdruckers Johannes Herbst, der sich Oporin nannte, in der „Basler Zeitschrift für Geschichte und Alterskunde“ veröffentlichte. Also wird hier nichts Neues berichtet, sondern es werden seit langem bekannte Texte einfach wieder einmal aus der Schublade gezogen.

Johannes Oporin lebte von 1507 bis 1568, wurde also rund 61 Jahre alt. 1535 begann er sich mit drei Partnern als Verleger zu betätigen, geistesgeschichtlich gesehen übrigens äusserst erfolgreich, da diese Gesellschaft die „Institutio“ von Johannes Calvin herausgab. Die Buchdruckkunst war damals bereits gegen 100 Jahre alt, hatte also ihre technischen und organisatorischen Kinderkrankheiten hinter sich. Modern gesagt: Setzer und Drucker, Redaktoren und Korrektoren kannten schon ihr Anforderungsprofil. Die ersten Basler Drucker waren zwischen 1468 und 1472 aufgetaucht. Die grosse Zeit des Basler Buchdrucks begann nach 1485, die klassische Zeit folgte im 16. Jahrhundert bis zur Reformation 1529. Die Drucktätigkeit Oporins fällt also in die vierte Druckergeneration, wo sich die Branche schon weitgehend strukturiert hatte, das Zusammenspiel von Buchdruckern, Buchbindern und Buchhändlern funktionierte und eben auch der Markt mit seinen Preisen und Margen diktierte, mit dem Zwang zur Neuheit und – modern gesagt – segmentierten Zielgruppen wie den Gelehrten, Schulen, reformierten und altgläubigen Lesern. Es gab das internationale Geschäft, es gab Konkurrenz und nach der Reformation eben auch obrigkeitliche Zensur.

Die von Martin Steinmann ausgewählten Oporin-Briefe sind im wesentlichen Geschäftsbriefe, sagen wenig über das grosse und kleine Weltgeschehen oder über Oporins familiären Verhältnisse aus. Aber sie erlauben gerade deshalb einen Blick über die Schulter eines Verlags- und Druckherren dieser Zeit. Sie zeigen den Unternehmer. Die Brieffreunde Oporins sitzen in Zürich, Frankfurt, Regensburg, Marburg, Magdeburg, Esslingen, Wittenberg, Augsburg, Wismar, Strassburg, Orléans, Paris und Mailand. Sie definieren damit so etwas wie den nachbarschaftlichen Raum, in dem ein Basler Drucker dieser Zeit wirkte. Spannend wird diese Geschäftskorrespondenz, wenn man sich vergegenwärtigt, dass der Buchdruck seinem Wesen nach nicht nur ein noch immer modernes, sondern eben auch – etwa im Vergleich zur Textilwirtschaft oder zum Weinhandel – ein sehr andersartiges Geschäft war. Er kannte aufeinander folgende Verarbeitungsstufen, brauchte Zwischenlager, Transporte und ein Verteilsystem. Und er musste finanziert werden, wobei man daran denken darf, dass es noch keine normalen Kredite bei Geschäftsbanken gab, so dass Oporin mehr als einmal seine privaten Silberbecher zu verpfänden hatte.

Da gab es zum Beispiel das Problem des Endverkaufspreises. Wenn der Verleger und Drucker das gedruckte Buch an einen Leser zum gleichen Preis wie an einen Buchhändler verkaufte – wovon hätte dann ein Buchhändler leben sollen? Was aber konnte der Drucker-Verleger einem Direktkunden sagen, wenn dieser das Buch zurückbrachte, nachdem er gemerkt hatte, dass Oporin es ihm teurer als dem Buchhändler verkaufen wollte? Ein Ausweg bestand darin, dass man als Verleger eben selber eine Buchhandlung führte und also Direktkäufer nur über die Buchhandlung bediente. Das tat auch Oporin. Gebundene Preise aber kannte man noch  nicht.

Sorgen machten die Arbeitskräfte. Oporin spricht da von der familia typographica, die er von der häuslichen Familie (familia domestica) unterscheidet. Lehrlinge musste er, wie das bei anderen Handwerkern der Brauch war, in die Hausgemeinschaft aufnehmen. Wer setzen lernen wollte, musste sich zuerst als Korrektor bewähren. 1536 war der Arbeitsmarkt für Drucker günstig; Oporin sagte, wenn man eine volle Belegschaft haben wolle, „findt man wol all tag den oder ein andren“. 1541 lässt er noch bei fremden Druckern drucken, betätigt sich also nur als Verleger. Aber er seufzt über flüchtige Arbeit, dass oft der beste Satz beim Ausdrucken von den Druckern durcheinandergebracht werde. Er könne doch nicht ständig neben der Presse stehen. Ende der 40er Jahre aber ist er selber stolzer Besitzer einer eigenen Druckerei mit nicht weniger als sechs Pressen. Doch schon 1557 spielt er wieder mit dem Gedanken, seinen ganzen Betrieb zu verkaufen, da ihn die „endlosen Scherereien und die Unzuverlässigkeit der Arbeitskräfte“ belasten würden.

Das damalige bogenweise Drucken stellt man sich gern als einen handwerklich gemütlichen Prozess vor. Aber Oporins Briefe belehren uns eines besseren. Er weiss sich von Konkurrenten umstellt, andere lauern und wollen nicht dulden, dass ihnen jemand zuvorkommt. Ein Korrespondent schreibt Oporin Anfang Mai, dass schon im Sommer ein bestimmtes Werk vorliegen sollte, also bleiben dem Drucker für ein ganzes Buch nur wenige Wochen. Die Frankfurter Buchmesse war schon damals ein zwingender Termin, der Verleger war auf Aktualität erpicht, Oporin bekennt sich zu seiner „Gier nach Neuigkeiten“.

1567, also ein Jahr vor seinem Tod, dachte Oporin wieder einmal an den Verkauf seiner Firma und entwarf einen eigentlichen Verkaufsvertrag. Aus ihm lässt sich ablesen, aus welchen Teilen ein damaliges Druck- und Verlagsgeschäft bestand. Es waren Haus und Hofstatt, die Druckerei selber mit allem Werkzeug, sechs Pressen, Mobiliar, die Satzschriften und das Bücherlager sowohl im Haus wie bei den Buchhändlern. Dazu kamen die Illustrationen, in Holz oder Kupfer geschnitten. Im Vertrag eingeschlossen waren auch die Verbindungen zu Autoren und Händlern; Oporin verpflichtete sich, zukünftige Kontakte an seinen Vertragspartner weiterzugeben. Nur zwei Bücher wollte er von diesem Vertrag ausnehmen: die Anatomie von Vesal und das besonders aufwendig illustrierte Werk von Johannes Basilius Herold mit den pfalzgräflichen Stammtafeln.

Ein die ganze Briefauswahl durchdringendes Thema sind die Schulden Oporins. Heute würden wir sagen, dass das die notwendigen Fremdkredite waren. Wie er nach dem Tod seiner zweiten Frau die Witwe Faustina Iselin, die Schwester des Basilius Amerbach, heiratet, legt er seinem Schwager Basilius in aller Ausführlichkeit seine Vermögensverhältnisse dar. Wir sind also in der Lage, das Eigen- und Fremdkapital eines Unternehmers dieser Zeit zu beurteilen. Drucken war nicht möglich ohne Vorfinanzierung, ohne Lagerhaltung in Schriften, Papier, Materialien, ohne Gerätepark und zu aktivierende Lagerbestände an Endprodukten, dazu kamen die laufenden Lohn- und Geräte-, Transport- und Fremdlagerkosten, kamen immaterielle Werte wie Urheberrechte (Privilegien genannt), Verbindungen und Goodwill.

Was eigentlich ist Kapitalismus? All diese Dinge unternehmerisch in ein System zu bringen, sie kalkulierbar zu machen, Kosten auf einzelne Endprodukte umzulegen und dafür sowohl eigenes wie fremdes, also verzinsbares Kapital einzusetzen. Ich denke, die Wirtschaftswissenschaftler, die sich mit der Entstehung des Kapitalismus beschäftigen, sollten wieder einmal einen Blick in die Briefe Oporins werfen.

21.    Bis dass der Tod uns scheidetNach Oben

Für die Menschen des 16. Jahrhunderts bedeutete diese alte Wendung im Eheversprechen sicher nicht, dass man nun für Jahre und Jahrzehnte ein Paar bilde, das die silberne, goldene und diamantene, vielleicht sogar eiserne Hochzeit erleben würde, sondern das war so etwas wie eine einfache Wette auf die nächsten paar Jahre, wobei die Ehegatten annehmen mussten, dass schon in Bälde ein Teil nicht mehr unter den Lebenden weilen würde. Denn die Leute starben früh und plötzlich; ein 50jähriger Mann war ein alter Mann, eine 70jährige Frau war eine ehrwürdige Muhme. Zweite, dritte oder vierte Ehen, sogar mit neuen Kindern, waren keine Seltenheit; ein zweifacher Witwer konnte eine dreifache Witwe heiraten. Das hiess auch, dass Kinder häufig mit Stiefeltern, manchmal sogar beiden, aufwuchsen, und dass sich in den Familien bunte Verwandtschaftsgrade immer neuer Art ergaben. Heute nennt man sie Patchwork-Familien. Und weil das Dreiland von Säckingen über Basel nach Freiburg und auf der elsässischen Seite bis nach Strassburg ein selbstverständlicher Lebensraum und eine alltägliche Nachbarschaft war, konnten sich solche beweglichen Familien auch geografisch mischen.

1504 war der Wallfahrtsort Eichsel auf dem östlichen Dinkelberg in vieler Leute Mund, weil damals der päpstliche Kardinallegat Raymundus Peraudi die Heiligkeit der Kunegundis, Mechtundis und Wibrandis bestätigte. Als somit der Schultheiss von Säckingen, Hans Rosenblatt, eine Tochter bekam, liess er sie auf den Namen Wibrandis taufen. Die Mutter Magdalena war eine Baslerin, eine geborene Strub aus einer Gerberfamilie. Da sich der Vater lieber in kaiserlichen Kriegsdiensten herumtrieb, zog die Mutter nach Basel zurück. Die Tochter Wibrandis heiratete mit 20 Jahren in Basel Ludwig Keller, einen Magister der Freien Künste. Zwei Jahre später – ein Töchterlein, das ebenfalls Wibrandis hiess, war schon geboren – wurde die 22jährige Mutter zum ersten mal Witwe, da Ludwig Keller plötzlich starb.

Der bisher unvermählte Geistliche Johannes Oekolampad, seit 1522 in Basel als Pfarrer zu St. Martin anwesend, beschäftige sich intensiv mit der Frage der Ehelosigkeit von Priestern. Er disputierte, selber unverheiratet, auch öffentlich darüber. Doch dann schien ihm die Zeit gekommen, für seine ganz persönliche Situation die Konsequenzen zu ziehen. Sollte er heiraten? Als 1528 seine Mutter, die ihm den Haushalt besorgt hatte, starb, schritt er zur Tat und heiratete die verwitwete Wibrandis Keller, geborene Rosenblatt. Sie war 24, er war 46 Jahre alt. Erasmus und Bonifacius Amerbach konnten sich ein paar spöttische Bemerkungen über diesen Altersunterschied nicht verkneifen, aber Oekolampad schrieb an Farel, er könne sich nichts besseres wünschen. Wibrandis lernte plötzlich die von umfangreichen Korrespondenzen und zahlreichen Besuchen getragene Bewegung der oberrheinischen und schweizerischen Reformation kennen, sie versorgte die Familie des Strassburger Reformators Butzer mit Schweizer Käse. Nach dem Sieg der Reformation wurde Oekolampad oberster Pfarrer am Münster und bezog das Hasengässlein (auf dem Areal des früheren Rittergasse-Schulhauses), wo aus Zürich Zwingli zu Besuch kam. Drei Kinder, ein Knabe und zwei Mädchen, entsprossen der Ehe. Dann aber brach der Zweite Kappeler Krieg aus, Zwingli fiel auf dem Schlachtfeld, Oekolampad erkrankte an einem Geschwür, und 1531 war Wibrandis wieder Witwe.

Eine weitere Todesmeldung kam, während Oekolampad noch auf dem Krankenbett lag: der geborene Elsässer und Strassburger Wolfgang Koepfel, der sich Capito nannte, hatte seine Frau Agnes Röttel verloren. Seine Freunde mussten für den unpraktischen, leicht zur Schwermut neigenden Gelehrten etwas tun; auf dem Korrespondenzweg einigte man sich, dass eine Vermählung mit Wibrandis, unterdessen mit der reformatorischen Welt vertraut, angezeigt wäre. Sie heirateten 1532, Wibrandis war 28 Jahre alt, Capito zählte 54 Jahre. Wibrandis zog um nach Strassburg. Sie wurde wieder Mutter, gleich fünffach, zwei Knaben und drei Mädchen kamen zur Welt.

1541 war ein schlimmes Pestjahr am Oberrhein. In Strassburg, Colmar, Rheinfelden und Basel starben die Leute massenweise, in Basel etwa der Bürgermeister Jakob Meyer und der Universitätsrektor Simon Grynäus. Auch im Hause Capitos ging der Tod um, Eusebius Oekolampad sowie Dorothea und Wolfgang Christoph Capito starben, und schliesslich erlag auch der Vater Capito der Pest. Die 37jährige Wibrandis war wieder Witwe geworden.

Im Haus des andern Reformators von Strassburg, Martin Butzer, ging die Pest ebenfalls um. Die pestkranke Gattin Butzers liess die soeben verwitwete Wibrandis noch an ihr Krankenlager rufen und flehte sie an, nach ihrem voraussehbaren Tod Gattin ihres Mannes zu werden. 1542 war es soweit, die verwitwete Keller, Oekolampad, Capito und geborene Rosenblatt Wibrandis heiratete Martin Butzer. Er war 64, sie war 38 Jahre alt. Noch einmal wurde sie Mutter, 1543 eines Knaben, genannt Martin, und 1545 eines Mädchens mit dem Namen Elisabeth.

Infolge des sogenannten Augsburger Interims von 1548 gerieten die reformierten Städte in Bedrängnis, Butzer siedelte nach England über, liess vorerst die Familie in Strassburg zurück. Wahrscheinlich 1549 zog Wibrandis mit einem Teil der Familie und aus Angst vor der englischen Küche mit einigen Lebensmitteln versehen nach, kehrte dann 1550 nach Strassburg zurück, um weiteren Hausrat nach England zu bringen. Das gelang ihr, wenn auch nur mit Schwierigkeiten. Als sie aber 1551 wieder in Cambridge war, starb ihr Mann Martin Butzer dort.

Wibrandis war einmal mehr Witwe – was sollte sie in England bleiben? Also kam sie zurück, diesmal nach Basel. Das letzte Dokument, das wir von ihr besitzen, ist ein mütterlich besorgter Brief an ihren Sohn Johann Simon Capito. Er soll weniger trinken und spielen, sich vor schlechter Gesellschaft hüten, er sei ein Tunichtgut und niemand gäbe einen Heller für ihn. Das Schreiben fruchtete wenig, 1567 galt der junge Capito als verschollen und seine Halbschwester Aletheia Oekolampad trat sein Erbe an. Einmal mehr kam die Pest an den Oberrhein, im August 1564 wütete sie in Basel so stark, dass man Massengräber aufwerfen musste. Am 1. November starb auch Wibrandis, wurde aber nicht ins Massengrab gelegt, sondern neben ihrem zweiten Gatten Oekolampad im Basler Kreuzgang bestattet.

Durch ihre zahlreichen Nachkommen ist sie eine Ahnfrau vieler Basler Familien geworden, eine liebliche Rose, wie in einem ihr gewidmeten Gedicht zu lesen ist, von der es in der Schweiz und im elsässischen Land kaum eine schönere gab. Sie war 60 Jahre alt geworden und hatte vier Ehen überlebt, bis der Tod sie selber holte.

22.    Praktische ToleranzNach Oben

Erasmus, das wussten die Basler, Freiburger und Schlettstädter schon im 16. Jahrhundert, wollte in der Kirchenreformation weder den alten Glauben mit all seinen Missständen verteidigen noch einfach den neuen evangelischen Glauben mit seinen zum Teil rigorosen Forderungen und Konsequenzen annehmen. Er liess sich nicht nötigen, und so wurde er in der Erinnerung der Leute zu einer Symbolfigur für Toleranz. Man darf sie aber keinesfalls als eine Toleranz des blossen Gewährenlassens verstehen. Die Reformation, verkörpert in den Schriften Martin Luthers, hatte viele Aspekte und nicht nur theologische. Sie ging auf eine alte revolutionäre Wurzel zurück, wie das die Bauernkriege zeigen, die den Zorn Luthers erregten. Sie war daneben Ausdruck eines wachsenden Behauptungswillens, wie ihn vor allem die Zunftstädte bewiesen. Ein Rat, der sich von seinem geistlichen Herren emanzipieren wollte, war schnell einmal auch aus politischem Kalkül reformatorisch gesinnt.

Das reformierte Lager war aber nicht einheitlich. Nicht nur theologische, sondern eben auch politische Verschiedenheiten spiegelten sich in den Auseinandersetzungen. Es gab Lutheraner und später Melanchthonianer, genannt nach Luthers Nachfolger Melanchthon; es gab auf dem Gebiet der heutigen Deutschschweiz Zwinglianer und auf dem der Welschschweiz sowie Frankreichs Calvinisten. Theologisch unterschieden sie sich in der Lehre vom Abendmahl und in ihrer Einstellung zur Rechtfertigung durch den Glauben sowie zur Prädestinationslehre. Um den Ausgleich zwischen diesen Gruppen wurde heftig gerungen, man versuchte einheitliche Regelungen zu treffen, mit wenig Erfolg. Zwischen den verschiedenen Lagern gab es eine Unzahl kleinerer Fraktionen, manchmal sogar nur isolierte Figuren, die bald in der einen, bald in der anderen Lehrmeinung differierten und von den Möglichkeiten des Buchdrucks so heftigen Gebrauch machten, dass einzelne Räte die Zensur einführen mussten. Glaubensflüchtlinge, die aus altgläubigen Gebieten nach der Schweiz kamen, heizten den theologischen Disput mit ihren individuellen Meinungen weiter an. Auch der Rat von Basel hatte alle Hände voll zu tun, um richtungsweisend und schlichtend und manchmal befehlend einzugreifen. Von der erasmischen Toleranz blieb wenig übrig. Aber sein geistiges Erbe in Basel bewirkte, dass hier neben der offiziellen Politik bei vielen Leuten ein grosses Verständnis für religiöse Aussenseiter erhalten blieb.

Einer von ihnen war der Rechtskonsulent, Professor der Jurisprudenz, Universitätsrektor und Stadtsyndikus Basilius Amerbach, der Enkel eines der grossen eingewanderten Basler Drucker. Als Verwalter des materiellen Erbes des Erasmus fühlte er sich der erasmischen Toleranz besonders verpflichtet, von seinem Vater und Grossvater her verfügte er über ausgezeichnete Verbindungen zur gelehrten Welt seiner Zeit, und für Glaubensflüchtlinge aus diesen Kreisen war er, wie man heute sagen würde, eine erstklassige Adresse.

Wir sind im Jahr 1567, Basilius Amerbach ist 34 Jahre alt, die Basler Kirchenreform liegt schon fast 40 Jahre zurück. Basilius hat ein schweres Schicksal hinter sich, seine Gattin und sein Söhnchen sind soeben gestorben. Seine Pflichten nimmt er gewissenhaft, er führt in seinen Geschäften eine mustergültige Ordnung, von der die Forschung noch heute profitiert. Da taucht von England kommend eine dieser typischen Renaissance-Figuren mit dem Titel eines Marchese d’Oria namens Giovanni Bernardino Bonifacio auf, ein extravaganter und steinreicher italienischer Glaubensflüchtling, mit dem Amerbach schon brieflich in Verbindung stand. Um den 20. Juli 1567 sehen sie sich zum ersten Mal in Basel von Angesicht zu Angesicht. Der Marchese d’Oria erhofft von Amerbach, dass er ihm eine Bleibe finde. Amerbach kann den Dorfpfarrer von Lörrach, Theophil Grynaeus, dazu bewegen, Bonifacio aufzunehmen. Lörrach ist konfessionell ein ziemlich neuralgischer Punkt: die benachbarten vorderösterreichischen Lande sind katholisch, Württemberg ist lutheranisch, Strassburg ist reformiert, die Markgrafschaft will lutheranisch werden, Basel is zwar reformiert, hat aber einen Anistes namens Sulzer, der zu den Lutheranern tendiert. Es herrscht ein eigentliches konfessionelles Gezerre, und der Marchese d’Oria mit seinen abermals anderen Überzeugungen passt überhaupt nicht in diese Konstellation.

In den dreiviertel Jahren, da er in Lörrach weilt, schreibt er an Amerbach mindestens 65 Briefe, praktisch also jeden zweiten Tag ein Schreiben. (Manfred Edwin Welti schildert das in seinem 1976 erschienen Buch über Bonifacio.) Der reiche Italiener, dessen wichtigstes Gepäck Bücher sind, bombardiert Amerbach mit immer ausgefalleneren Bücherwünschen. Daneben muss Amerbach die Post des Bonifacio weiterleiten, bezahlt die Rechnungen des Marchese für Porti, Lebensmittel und Kleiderstoffe, ja sogar die Dienstbotengehälter und Trinkgelder muss er für den Italiener auslegen, verwaltete dafür aber dessen Barvermögen. Dazu kommen noch Beratungen in sehr persönlichen Dingen. Schon zehn Jahre vorher war Bonifacio einmal durch Basel gereist und war damals durch seine drei dunkelhäutigen Dienerinnen, wahrscheinlich Nordafrikanerinnen, aufgefallen. Dienerinnen ist zu schön gesagt, vorher waren sie in Neapel Sklavinnen, die sich der Italiener hielt, übrigens ganz in Züchten. In der Zwischenzeit hatte er die eine in Venedig verloren, die andere war ihm in Polen davongelaufen, nur die dritte war noch bei ihm. Sie hiess Tisiphone und begann jetzt Krach zu schlagen, verfiel in eigentliche Tobsuchtsanfälle. Der Marchese war ausser sich, Amerbach sollte helfen. Auch der Pfarrer Grynaeus hatte beschwichtigend einzugreifen. Tisiphone könne ja eigentlich in seine Küche kommen und mit seiner Frau zusammensitzen, aber das wollte Bonifacio auf keinen Fall. Ein weiteres Geschäft für Amerbach bestand darin, dass er Bonifacio einen neuen Wohnort suchen sollte. In Frankreich entwickelten sich die Dinge konfessionell ungünstig, Amerbach fand ein Landgut im solothurnischen Gebiet. Aber da meinte der Marchese, die Solothurner seien ihm zu katholisch. Schliesslich wusste Amerbach keinen Rat mehr, Bonifacio beschloss, wieder auf die Reise zu gehen. An Amerbach erging der Auftrag, ein Fuhrwerk und ein Rheinschiff zu organisieren, er musste Bonifacio sogar die Nägel zum Verschliessen der Buchbehälter besorgen. Schliesslich brach er endgültig auf, übernachtete noch einmal bei Amerbach und bestieg dann den Weidling nach Strassburg.

Man kann sich denken, dass Amerbach ein Stein vom Herzen fiel. Man darf sich fragen, weshalb der schon mehr als genug beschäftigte Amerbach sich das alles gefallen liess. Welti meint: weil er den hohen Stand dieses Flüchtlings schätzte, seinen Glauben achtete, weil der Basler für den Italiener auch als Vermögensverwalter tätig sein konnte, weil ihm ein Mann mit so umfassender Bildung und erstaunlichen Buchkenntnissen imponierte und er ihn über alle persönlichen Extravaganzen hinaus wohl auch mochte. Und wir dürfen vermuten, dass die erasmische Toleranz-Lektion auch in solchen Alltagsdingen bei Amerbach nachwirkte: auch Käuze soll man tolerieren.

23.    Wie Goethe zu Faust kamNach Oben

Goethe war geborener Frankfurter, studierte in Strassburg und Leipzig, übersiedelte dann nach Weimar. An seinem Faust hat er so gut wie das ganze Leben gearbeitet; es gibt den Urfaust, Faust I und Faust II. Aber woher hat er die Figur und ihre Attribute wie etwa den schwarzen Hund? Gab es einen Dr. Faust, und liegt er wirklich in unserer nächsten Umgebung, nämlich im südbadischen Staufen, begraben? Mit solchen Fragen beschäftigt sich die Faust-Forschung seit langem und liefert immer wieder kleine Steinchen zu einem langsam zusammenwachsenden Bild.

Martin Jösel von der Volkshochschule Hochrhein in Grenzach-Wyhlen und Volkshochschuldozent in Basel ist einer dieser Faust-Forscher und hat in der Zeitschrift „Markgräfler Land“ (Heft II, 1991) ein paar weitere Steinchen herbeigeschafft. Ein historischer Faust darf mit Sicherheit angenommen werden, seine Lebensdaten könnten bei 1480-1540 liegen.

Goethes Kenntnisse gehen indirekt auf ein in Frankfurt im 16. Jahrhundert gedrucktes Buch zurück, die „Historia von D. Johann Fausten, dem weitbeschreyten Zauberer und Schwarzkünstler“, herausgegeben von Johann Spies, Frankfurt 1587. Nun lautet die naheliegende Frage: Und woher hatte Johann Spies diese Geschichte über Dr. Faust?

Da rückt plötzlich Basel ins Gesichtsfeld. Denn ein Basler war zu Beginn des Jahrhunderts gelegentlicher Gast in Frankfurt. Zugleich war er ein Mann, der die Möglichkeiten des Publizierens, die der noch junge oder sagen wir: jugendliche Buchdruck anbot, in vollen Zügen auskostete. Es handelt sich um Johannes Gast, vermutlich um 1500 geboren, der 1519 in Frankfurt geweilt hatte. Gast, von dem rund 28 Drucke erhalten sind, war seit der Einführung der Reformation bis zu seinem Tod Diakon zu St. Martin. In seinen „Sermones convivales“ (also eigentlich Gast-Gesprächen) berichtete er Interessantes, Pikantes, Unterhaltendes und Erbauliches. Deren zweiter Band von 1548 war dem Frankfurter Bürgermeister Konrad Humprecht gewidmet, und diesen Humprecht hatte Gast schon als Student wiederum in Basel kennengelernt.

Gast schrieb aber nicht nur für die Druckpresse, sondern führte auch Tagebuch. Das Original ging verloren, aber Abschriften blieben erhalten. Sie zeigen Gast als einen kirchlich frommen und sturen, daneben freilich zum Lästern und Schimpfen aufgelegten Mann. Wenn man nun sowohl die gedruckten Gast-Gespräche wie das Tagebuch durchforscht, was Martin Jösel gewissenhaft getan hat, stösst man auf verschiedene Stellen über den sagenhaften Dr. Faust. Zum einen sind es Geschichten über Faust, wie er etwa ein Kloster verhexte, in dem er schlecht bewirtet wurde. Die zweite Geschichte in den Gast-Gesprächen ist aufregender, weil sie mit dem wie selbstverständlich hingeschriebenen Satz beginnt: „Als ich zu Basel mit Faust im Oberen Collegium speiste...“, was die Faust-Forschung zum Teil wörtlich nahm, also als einen Beweis für einen Basler Aufenthalt des Dr. Faust interpretierte. Die betreffende Stelle schliesst, aus dem lateinischen Text übersetzt, mit folgenden Worten: „Er (Dr. Faust) hatte einen Hund und ein Pferd bei sich, die, wie glaube, Teufel waren, da sie alles verrichten konnten. Einige sagten mir, der Hund habe zuweilen die Gestalt eines Dieners angenommen und ihm Speise gebracht. Der Elende endete auf schreckliche Weise, denn der Teufel erwürgte ihn; seine Leiche lag auf der Bahre immer auf dem Gesicht, obgleich man sie fünfmal umdrehte.“ Soweit sich feststellen lässt, war Gast der erste, der von Faust zu berichten wusste, dass er in Begleitung von Tieren, eines Pferdes und eines Hundes, auftrat.

Faust hatte offensichtlich Umgangsformen, die leicht Skandal erregten. Er war im damaligen Basel nicht der einzige. Ein anderer Mann, der nicht weniger Ärgernis schuf, war der zum Dozenten berufene Theophrastus Bombastus von Hohenheim, genannt Paracelsus (1493-1541). Als Arzt hatte er grosse Erfolge, heilte dem Buchdrucker Froben den kranken Fuss, erleichterte Erasmus von Rotterdam seine Gicht- und Nierenleiden. Aber man verzieht ihm nicht, dass er nichts vom Professoren-Talar wissen wollte, seine Vorlesungen auf deutsch hielt und mit fahrendem Volk sowie Studenten in den Kneipen sitzen blieb. In „Dichtung und Wahrheit“ verbindet Goethe selber die Figur des Paracelsus mit derjenigen des Dr. Faust. Paracelsus schrieb: „Aller Elementen Grund und Fundament ist Terra (...); diese hat in sich den Samen und Würckung krafft aller ding.“ Goethe lässt seinen Faust sagen: „Schau‘ alle Wirkenskraft und Samen.“ Ganze Stellen aus dem Faust-Monolog („Da steh‘ ich nun ich armer Tor, und bin so klug als wie zuvor“) kann man zum Teil fast wörtlich auf Paracelsus-Zitate zurückführen. Und mit 1527 sind wir genau in der Epoche, in der Paracelsus in Basel weilte, Johannes Gast sicher schon eifrig seine Feder führte und der legendäre Dr. Faust in der Stadt hätte verweilen können.

Im Tagebuch Gasts tritt Faust unter diesem Namen nicht weiter auf. Aber Gast erzählt Geschichten, einzelne Anekdoten und Zwischenfälle, die immer wieder thematisch die Faust-Sage anklingen lassen. Die Art und Weise, wie Basel in der von Spies herausgegeben Faust-Geschichte erwähnt wird, lässt als Informator mehr als einmal den Diakon von St. Martin vermuten. Das geht bis zu Örtlichkeiten: Die in Frankfurt gedruckte Faust-Geschichte spricht in der 2. Auflage zum Beispiel vom Gasthaus Krone, das früher bei der Schifflände stand; im Tagebuch von Gast finden sich Stellen über dieses Gasthaus, in dem wiederum grausliche Szenen passieren, die sich in die Nähe der Faust-Sage rücken lassen. Auch vom Oberen Collegium an der Augustinergasse und den dortigen Essensmöglichkeiten ist die Rede.

In ähnlicher Weise wird sogar über die Fasnacht im Tagebuch von Gast und in der Frankfurter Faust-Geschichte berichtet. Man erfährt dort, dass in Basel bereits vor der Reformation die Lustbarkeiten über den Aschermittwoch hinaus weitergeführt werden, und dass der Rat, nicht viel anders als heute, auf Vermummungen äusserst empfindlich war.

Der junge Student Johann Wolfgang Goethe, der sich in Strassburg mit dem Faust-Thema beschäftigte, trug bis in seine späten Weimarer Jahre demnach einen Fundus von Geschichten und Anekdoten um Faust im Kopf herum, zu dem wesentliches Material aus der Studierstube des Basler Pfarrers Johannes Gast zu St. Martin kam. Auf der einen Seite sind es schriftliche und gedruckte Texte, auf der anderen Seite hat Gast liebend gern mündlich berichtet, sogar ausschweifend erzählt. Unter seinen Zuhörern sass vermutlich auch der unbekannte Verfasser der nachher von Spies gedruckten Faust-Geschichte. Ob Dr. Faust wirklich in Staufen, also ungefähr 40 Kilometer von Basel weg, begraben liegt, hat der so mitteilungsfreudige Johannes Gast leider nicht vermerkt. Hätte er es getan, wäre ihm ein Ehrenplatz in der Goethe-Forschung sicher gewesen.

24.    Schuhe als ErkennungszeichenNach Oben

Es mögen 35 Jahre her sein, da sprach man plötzlich von einer Turnschuhgesellschaft. Eine bestimmte Gruppierung von Leuten kam nicht mehr in hart geschnürten und klackigen Bally-Schuhen oder weichen italienischen Slippers daher, sondern zog alte Turn- und Laufschuhe oder englische Desert-Boots aus Wildleder an. Sie mussten nicht mehr geputzt sein, Alters- und Gebrauchsspuren waren willkommen, ehemals weisse Schnürbändel waren längst grau geworden.

Die Turnschuhkinder, die Halbstarken auf leisen Sohlen, die Alternativen mit dem zwar lausigen, aber vermutlich fabelhaft bequemen Schuhwerk. Sogar das deutsche Fernsehen entdeckte die Schuhe eines Umweltministers grüner Provenienz und brachte deren Bild in die Wohnstuben. Oben keine Kravatte mehr und unten Adidas – war das die neue Politik? Die Welt ist verrückt geworden, dass jetzt auf einmal Schuhe eine politische Bedeutung annehmen.

Sie ist immer wieder auf dieselbe Weise verrückt. An den Schuhen hat man schon vor mehr als 400 Jahren Gesellschaftsschichten unterscheiden können: Der Bauer trug einen andern Schuh als der Ratsherr mit seinen Schnallenschuhen, als der Junker mit seinen Stiefeln und als der Ritter mit seinem spitzen Schuh. Der Schuh des Bauern war ein halbhoher Schuh, den man vorne oben binden musste. Wie nennt man einen solchen Schuh? Bundschuh vielleicht.

Also sagten die Bauern im Dreiland, als sie sich von Steuern und Zinsen schikaniert fühlten: Werfen wir einen Bundschuh auf! Sie nahmen ein Bettlaken und malten diesen Schuh darauf. So entstand die Fahne des Bundschuhs, und da sie sich gegenseitigen Zusammenhalt schworen, wurde der Bundschuh eben auch ein Zeichen für einen Bund. Eine durchaus revolutionäre Eidgenossenschaft, könnten wir heute sagen. Der Bundschuh flatterte heftig im Jahr 1525, also ein paar Jahre nach dem Beginn der Kirchenreformation Luthers, aber noch vor ihrer gebietsweisen Durchsetzung in Basel und in einzelnen Teilen des Elsass und Breisgaus. Die spätere Geschichte spricht von der Bundschuhbewegung als den Bauernkriegen; Luthers rabiate Stellungnahme gegen die Bauern und Thomas Münzer ist bekannt, sie spielt eine Rolle in der Abgrenzung der lutherischen Reformation gegen die von Zwingli und später Calvin beeinflusste kirchliche Erneuerung im Gebiet der heutigen Schweiz.

Christian Wurstisens Basler Chronik von 1580 will auch eine Geschichte der oberen deutschen Lande, also des Elsass und Breisgaus sein. Wurstisen schildert die Unruhen in der schweizerischen Bauernschaft seit 1513. Die Bauern forderten die Aufhebung  der Leibeigenschaft, die Abschaffung von Steuern – keinen „bösen Pfennig“ mehr –, wollten nach Gutdünken heiraten können und keine nachträglichen Erbschaftssteuern zahlen müssen. Speziell aber empörten sie sich gegen die Ratsherren, die hemmungslos französische Pensionen, eigentliche Schmiergelder, annahmen. In ihren Forderungskatalog schlichen sich auch kirchenreformatorische Postulate ein: sie wollten ihre Pfarrer selber wählen; Pfaffen, Mönche und Ordensleute sollten verschwinden, das Gut der Klöster verteilt werden. 1524 begann es im Sundgau, Elsass, Schwarzwald und Breisgau zu gären. Die Bauern zogen „mit offenen Zeichen zu Feld“, die Bundschuhflagge wehte über ihren Köpfen. Sie heuerten Söldner aus der kriegslustigen Eidgenossenschaft an; Wurstisen spricht von sechs Fähnlein zu je 500 Mann freier Knechte. Versammlungsort war Barthenheim unterhalb von Basel, da begann der eigentliche Aufstand. Ihnen, sagten die Bauern, werde „der Nagel zu hart geschlagen und zu sehr beschwäret“, im Übermut ihrer tausendfachen Gefolgschaft überfielen sie Klöster, wo sie Bücher, Zinsregister und Urbare (also Liegenschaftsverzeichnisse) zerrissen und verbrannten. Wo kein Schuldbrief mehr existiert, ist auch die Schuld dahingefallen.

Dank den Forschungen von Georges Bischoff kennen wir heute den Weg des Bundschuhs durch das Elsass ziemlich genau. Sogar einzelne Namen der Anführer wissen wir. Heinrich Wetzel von Spechbach schwingt sich zum obersten Hauptmann des sundgauischen Haufens auf. Es ist der 23. April 1525. Am 25. April sind die Bauern vor Mülhausen, am 29. wird Schönensteinbach verwüstet. Am 6. Mai besetzen sie Soultz. Dann erscheint der auf viele tausend Bauern und Kriegsknechte angewachsene Haufen vor Guebwiller. Zuerst wird verhandelt. Guebwiller, zur Herrschaft des Klosters Murbach gehörend, ist ja zum grössten Teil ebenfalls von Weinbauern bewohnt; die Einwohnerschaft ist gespalten, da diese Erhebung auch eine Befreiung von fürstäbtlichen Auflagen bedeuten könnte. Schliesslich öffnet die Stadt die Tore, Klöster und kirchliche Besitztümer werden sofort geplündert. Die Bauern wüten.

Der Zug wendet sich weiter gegen Thann. Der Fürstabt von Murbach, Georges de Masevaux, weicht der direkten Konfrontation aus, lässt geschickt verhandeln, sucht Rückendeckung einesteils bei den Baslern, andernteils bei der österreichisch-erzherzoglichen Verwaltung in Ensisheim. Ein Waffenstillstand zeichnet sich ab, aber die Verhandlungen ziehen sich hin. Unterdessen ist es Sommer geworden, die Arbeiten auf dem Feld rufen, einzelne Bauern kehren zu ihren Höfen zurück. Uffholtz und Wattwiller werden vergeblich belagert. Nicht nur die Basler, auch der Markgraf Philipp von Baden will jetzt vermitteln. Am 12. September 1525 kommt es in Offenburg zu einem Abschluss, der einer völligen Kapitulation der Bauern gleichkommt. Der Druck ist weg. Nun schlagen die weltlichen und geistlichen Herren zurück, ungezählte Bauern werden erstochen, viele summarisch hingerichtet, aufrührerische Zunftmeister abgesetzt und mit schweren Bussen belegt. Die Bundschuhfahne wird eingerollt, die Gecken – wie man ihre Gefolgsleute nannte – verlaufen sich.

Die Bewertung der Bundschuhbewegung ist für den heutigen Historiker schwierig. Zu viele Elemente vermischen sich da. Der Einfluss der Kirchenreformation ist unübersehbar, die Zerstörung von Klöstern hat ihre Parallele im Basler Bildersturm von 1529. Unter den zwölf Artikeln, die im schwäbischen Memmingen 1525 aufgestellt wurden, enthalten nicht weniger als vier kirchliche Postulate. Daneben handelt es sich aber nicht nur um einen Aufstand, sondern um eine eigentliche Revolution: Abschaffung von Sondersteuern und der Leibeigenschaft, freie Ausübung ziviler Rechte. Insofern der Bundschuh ein formeller, dazu militärisch bewaffneter Bauernbund war, war er auch eine Art Eidgenossenschaft, die eng mit den damaligen demokratischen Bewegungen im Breisgau und in Schwaben sowie in der Schweiz zusammenhing. Freilich war das vor kurzem eidgenössische gewordene Basel alles andere als demokratisch gesinnt, sondern befand sich schon auf dem Weg zu einem patrizischen Zunft- und Ratsherrenregiment.

Die damalige Turnschuhgeneration fallierte. Der kluge Fürstabt Masevaux von Murbach wurde ihr im Zusammenspiel mit der erzherzoglichen Verwaltung in Ensisheim, den Basler Ratsherren, dem Strasssburger Bischof und dem Herzog von Lothringen Meister. Die Bauernrepublik am Oberrhein blieb ein Traum – ein so schöner wie blutbefleckter.

25.    Ein Renaissance-MenschNach Oben

Unter einem Renaissance-Menschen stellt man sich pracht- und machtliebende Personen mit einem ungeheuren, manchmal bis an die Grenze des Kriminellen reichenden Lebenswillen vor. Cesare Borgia und seine Schwester Lucrezia etwa. Die Renaissance kommt zu Ende des 15. Jahrhunderts über die Alpen nach Deutschland. Man studiert nicht nur die alten lateinischen und griechischen Autoren, man beginnt auch nach antikem Vorbild zu bauen, man will den Staat als eine Art Kunstwerk begreifen, denkt der Erziehung der Jugend nach. In der Epoche, die wir Renaissance heissen, erscheinen individuell rundum ausgeformte und farbige Persönlichkeiten. Häufig schreiben sie auch. In diesem Sinn waren der französische Dichter Rabelais und sein in Basel weilender Übersetzer Fischart Renaissance-Menschen, ebenso Montaigne, der mit wachen Augen den Oberrhein besuchte, desgleichen der Basler Schulrektor Thomas Platter. Antike Bildung, Kenntnis der Literatur, eine rege gesellschaftliche oder politische Tätigkeit kennzeichneten diese Menschen. Sie standen ihrer Welt, eben dem 16. Jahrhundert, interessiert und offen, häufig auch beharrlich fragend und manchmal skeptisch gegenüber.

Gesucht ist demnach ein typischer Renaissance-Mensch im Dreiland am Oberrhein. So nannte er sich selber in seinem 1579 in Strassburg verfassten Testamt: „Lazarus von Schwendi, Ritter und Freiherr von Hohenlandsperg, Herr zu Kirchhofen, Pfandherr zu Burkheim, Dreyberg und Kaysersberg, römisch-kaiserlicher Rath und gewester Feld-Obrister zu Oberungarn“. Burkheim und Kirchhofen liegen im Breisgau, die Herrschaft Hohenlandsberg umfasste elsässische Dörfer wie Kientzheim, Sigolsheim, Teile von Ammerschwihr, Türkheim, Wintzenheim. Lazarus von Schwendi war somit ein Herr auf beiden Seiten des Rheins, und man darf gleich hinzufügen, dass er auch Burgvogt zu Breisach war.

Nun sein Leben in Stichworten: 1522 in Mittelbiberach unehelich geboren. Zwei Jahre alt ist er, da er dank Kaiser Karl V. legitimiert wird als Sohn des ledigen Ruland von Schwendi. Dieser stirbt bald, Bürgermeister und Rat von Memmingen werden Vormund und Testamentsvollstrecker. Lazarus soll studieren, er geht nach Basel, das seit 1529 reformiert ist. 1535 zieht er weiter nach Strassburg. Er lernt perfekt lateinisch und französisch; später wird er auch spanisch, ungarisch, holländisch sprechen. Aber er ist kein sehr ordentlicher Student, die Vormünder haben Kummer mit ihm, runzeln die Stirn.

Mit 23 Jahren kommt er nach Memmingen zurück. Sogleich gibt es Krach. Wegen einer etwas dubiosen Frauengeschichte kommt er für ein paar Tage ins Gefängnis, wird dann aber mündig erklärt und droht dem Rat unverzüglich einen Prozess wegen ungetreuer Vermögensverwaltung an.

Es folgt der grosse Karrieresprung: auf dem Reichstag von Regensburg tritt er 24jährig an der Seite Kaiser Karls V. auf, der an diesem intelligenten Haudegen offenbar Vergnügen findet. Er wird kaiserlicher Kommissar bei den protestantischen Reichsstädten. Er mahn zur Toleranz, aber der Krieg des Kaisers gegen den protestantischen Schmalkaldischen Bund bricht aus; Schwendi geht ins Militär, erobert Gotha. Er nimmt einen früheren Waffenbruder gefangen, das Hofgericht verurteilt diesen zum Tod. Schwendi sieht sich vom Verurteilten als Erzschelm und Bösewicht kurz vor der Hinrichtung beschimpft. Die ganze Sache belastet ihn sehr. Als kaiserlicher Kommissar ist er diplomatisch bei den protestantischen Fürsten tätig, der Kaiser erhebt ihn in den Ritterstand, macht den Dreissigjährigen zum Burgvogt von Breisach. Schwendi heiratet – unglücklich –, tritt an die Spitze eines Regiments deutscher Landsknechte. Er wird in die Niederlande abkommandiert. Kaiser Karl dankt ab und überträgt die Regierung der Niederlande seinem Sohn Philipp II., Schwendi kämpft bis 1560 gegen die Franzosen.

37jährig kauft er die Pfandherrschaft Burkheim, 41jährig die Herrschaft Hohenlandsberg im Elsass zu vollem Eigen. Er hat jetzt verschiedene Residenzen am Oberrhein: Breisach, Burkheim, die Hohenlandsburg, am liebsten wohnt er in Kientzheim, einem befestigten, mit Schloss und Stadtrechten ausgestatteten Ort. Aber mit der Geruhsamkeit ist nichts, Kaiser Ferdinand schickt Lazarus von Schwendi nach Ungarn gegen die Türken. Er erlebt das ganze Elend solcher Feldzüge am eigenen Leib, erobert schliesslich die Festung Tokay und führt 4000 Fässer Tokayer Wein an den Oberrhein. Da ist wahrscheinlich die Überlieferung entstanden, er hätte die Tokayer Rebe in unsere Gegend gebracht.

Mit 47 Jahren hat er genug vom unsteten Leben. Er ist häufiger in seinen Residenzen anzutreffen, von allen Seiten kommen diplomatische und militärische Kuriere. Er dient nun dem Kaiser Maximilian II.. Er äussert sich zum Militärwesen, zur Reichsverfassung, er tritt in immer engeren Kontakt zu den calvinistischen Niederländern. Erstaunlich ist, wie der katholische Hofrat des Kaisers zusehends von einer fast erasmischen Toleranz andern Glaubensbekenntnissen gegenüber wird. Er schreibt viel, er dichtet über sich selber, gelegentlich mit einem Anflug von Melancholie.

Mein treuer Dienst bleibt unerkannt,

Das Spiel zu Hof hat sich gewandt,

In Zeit der Noth war ich der best,

Jetzt bin ich schier geworden der letzt ...

Der Mann, der zu den Grossen seiner Zeit gehörte, gewinnt plötzlich Züge einer lächelnden Weisheit und einer selbstlosen Hingabe, wenn man sieht, wie er sich den sozialen Zuständen seiner Herrschaft zuwendet. Er gründet Spitäler, Stiftungen, setzt Lehrer ein. Er erlässt Wirtshausgesetze, kämpft gegen den Alkoholismus seiner armen Bauern. Er regelt die Anbauflächen der Rebberge, verkleinert die Ernte, hebt ihre Qualität. Er führt Märkte ein, damit die Bauern die Ware auch absetzen können. Er liest auf der einen Seite Macchiavelli und arbeitet dafür, dass Protestanten und Katholiken sich endlich verständigen – das zu einer Zeit, da gerade in Frankreich wieder die schrecklichsten Religionskriege wüten. Er kümmert sich daneben um die Ärmsten der Armen. Aus dem ungestümen Studenten, dem entschlossenen kaiserlichen Hofrat, der Kriegsgurgel und dem internationalen Diplomaten ist ein nachdenklicher Landesvater geworden. 1573 heiratet er zum zweiten Mal, diesmal glücklich. Er bezeugt seiner lieben Hausfrau, dass „sie sich ehrlich und treulich bei mir verhalt und in meiner täglich mir zufallenden Krankheiten so viel liebs, treu und guets gezeigt“. Zehn Jahre später stirbt er im Alter von 61 Jahren, geplagt von Gicht.

Das Schwendischloss im elsässischen Kientzheim steht noch. Vom Schwendischloss in Burkheim kann man nur noch die Aussenmauern sehen, das Innere haben die französisch-deutschen Kriege des 17. Jahrhunderts zerstört.

Man sollte Burkheim an einem heissen Sommertag besuchen: Laut- und bewegungslos liegt das Dorf in den riesigen Rebbergen, die Grillen zirpen, und aus den leeren Fenstern des mächtigen Baus ragen die Büsche. Man steht an einer Stelle, wo vor 400 Jahren ein grossartiger Mann den Sinn seines Lebens in den kleinen Verhältnissen gefunden hat.

16.    Der Blick auf die WeltNach Oben

Lazarus von Schwendi zum zweiten. Denn das Bild, das Leserin oder Leser von diesem Mann jetzt gewonnen haben könnten, ist unvollständig.

Man muss sich noch einmal die Zeitläufte ins Gedächnis zurückrufen, nicht nur am Oberrhein, nicht nur im Reich, sondern in ganz Europa, um den Horizont zu ermessen, vor dem diese Figur in unserer Erinnerung stehen darf. Vier Kaisern hat er gedient, Karl V., dessen Bruder Ferdinand I., dessen Sohn Maximilian II. und noch einmal dessen Sohn Rudolf II. Im Religionskrieg von 1546 gegen den Schmalkaldischen Bund war er aktiv, zur Zeit des Augsburger Religionsfriedens stand er in kaiserlichen Diensten in den Niederlanden. Der türkische Druck auf das Habsburgische Reich wich erst 1571 mit dem Sieg des Don Juan d’Austria bei Lepanto, dafür begannen 1562 die Hugenottenkriege in Frankreich, 1572 fand die für die Hugenotten blutige Bartholomäusnacht statt. 1581 sagten sich die Niederlande von Spanien los. Als kaiserlicher Rat, zuweilen geradezu als Vertrauter des obersten Reichsfürsten, sah Schwendi tiefer in die Hintergründe dieser Ereignisse, selbst dann, als er in seine kleinen oberrheinischen Herrschaften zurückgezogen schien.

Lazarus von Schwendi beginnt zu schreiben. Er tut das erstmals 1565 als aktiver Befehlshaber in Ungarn unter Maximilian II., wo er mit anderen Kriegsräten Vorschläge zur verbesserten Organisation der Armee entwirft. Schon der erste Satz dieses Gutachtens ist auf eine Weise formuliert, die so genau in das Denkschema des Lazarus von Schwendi passt, dass an seiner Autorschaft kein Zweifel bestehen kann: „Der Krieg will vor allen Dingen mit Geld und guter Ordnung durchgeführt werden. Wo Geld mangelt, da fehlt die Ordnung, und wo diese nicht ist, da kann nichts Bedeutendes geschaffen werden.“ Und nun wird Punkt für Punkt abgehandelt: die für Kriegsleute und Offiziere notwendigen Qualifikationen, die verschiedenen militärischen Funktionen, die Rolle von Proviant, Besoldung, Disziplin, die Bedeutung der Artillerie, der Festungsbauten, des Nachschubs und des Kundschafterwesens. Ein fast fanatisch nüchterner Verstand trifft sich mit dem unbedingten Willen, Überblick und Ordnung herzustellen, der Realität gerecht zu werden, zu keinem Augenblick Illusionen, guten Absichten oder emotionalen Hoffnungen anzuhängen. Es ist eine Reflexion, die in ihrer fast freundlichen Unerbittlichkeit direkt an Macchiavelli anzuknüpften scheint.

Als sich Lazarus von Schwendi im Winterquartier auf den Feldzug von 1566 gegen Süleiman II. in Ungarn vorbereitet, folgt eine weitere Denkschrift: „Lazarus von Schwendis Bedenken, was wider die Türken vorzunehmen, und wie man sich verhalten möchte“. Es spricht zuerst der Militär, macht seinen kaiserlichen Herrn darauf aufmerksam, dass die Türken als vorwiegend berittener Gegner im Unterschied zu den kaiserlichen Truppen äusserst beweglich seien: „Hingegen kann er zu und von uns kommen, schier wie er will, und lässt sich zu keiner Schlacht nöthigen, es sei dann ein gewisser Vortheil, und ist sein Thun fast dahin gerichtet, dass er uns in das Feld und in die Weite bringe“. Der Kaiser soll sich demnach auf einen Defensivkrieg mit sicheren Stützpunkten einrichten, „so gehören auch vor allen Dingen gute Leute in die Besatzungen“. Aber militärisch denken heisst auch politisch denken, der politische Rat geht dahin, „aus kaiserlichem Gemüth und Verstand desto mehr aller kaiserlichen Erzeigung und Milde gegen ihnen (das heisst den Ungarn gegenüber) befleissen und ihnen geniessen lassen“.

1571 verfasst Schwendi ein Gutachten über die Verwaltung einer ungarischen Provinz. Dann kommt 1574 von Maximilian II. die Aufforderung an Schwendi, über die inneren Zustände des Reiches, namentlich in Religionssachen, zu berichten. Die Erschlagung der Hugenotten in der Bartholomäusnacht zwei Jahre vorher hat auch am Wiener Hof Bestürzung ausgelöst. Der Auftrag ist heikel – wie soll der sich als treuen Katholiken betrachtende Schwendi am katholischen Wiener Hof über die Protestanten reden?

Das Memoire entwirft ein historisch vereinfachtes Gesamtgemälde des Reiches. Das Grundübel war der Investiturstreit zwischen Kaiser und Papst des 11. Jahrhunderts, die Reformation und Luther haben da ihre Wurzeln, der Zustand der Kirche machte sie notwendig. Der Augsburger Religionsfriede von Karl V. muss die Basis auch für die Politik Maximilians II. bleiben. Das heisst der Kaiser muss begreifen, dass er jetzt über beide, über Katholiken und Protestanten, herrscht; sinngemäss soll er seine Regierung und die Kammergerichte "mit Leuten beiderlei Religion“ bestellen. „Und dass also keine anderen Wege und keine anderen Mittel gibt, als jene, welche die Zeit selbst reif macht, an die Hand genommen werden können, als die Befriedigung der Gemüther und Gewissen und eine gleichmässige, gesammte, mit gemeiner Autorität verpflichtete und zugelassene Toleranz beider Religionen.“

Eine solche Toleranz – das Wort taucht in Memoire immer wieder auf – sei nichts Neues; Theodosius hätte sogar Heiden in seinem Reich geduldet, in der alten Kirche seien die Arianer gelitten gewesen, griechische und römische Religion hätten sich vertragen, „und in der Schweiz sind durch die Ordnung der Obrigkeit und Zulassung jetzt langer Jahre her beide Religionen neben einander ohne grössere Zerrüttung und Unfrieden gehalten worden“.

Maximilian II. war zufrieden, schickte anerkennende Worte und 10'000 Gulden an Schwendi. Hätte dessen Blick auf die Welt auch die Nachfolger Maximilians II. verpflichtet, wäre dem Reich der Dreissigjährige Krieg vielleicht erspart geblieben.

Unter Schwendis Werken, die erst nach seinem Tod gedruckt wurden, findet sich eine lateinische Abhandlung über den Türkenkrieg, ferner sein umfassender „Kriegs Discurs“, wiederum eine rein militärische Untersuchung, eigentlich ein Armee-Handbuch. Er bleibt sich selber treu: Die grosse Welt des Reiches ist so wenig wie die (kleinere) Welt einer militärischen Organisation zu begreifen, wenn man sich nicht dazu bereit findet, das Ganze nach allen seinen Teilen überblicken zu wollen und die nötige Ordnung zu schaffen – so wie er sie bei seinen Weinbauern im Elsass und am Kaiserstuhl einzurichten verstand.

27.    ReiseunterhaltungNach Oben

Im Flugzeug über den Atlantik läuft ein Film. Nach dem Essen kann ich aus einem Plastiksäckchen zwei Ohrstöpsel klauben, um auch den Ton für das Bild zu vernehmen, das sich auf der Projektionsfläche vor meinen Augen bewegt. Air-Travel-Filme könnten eine eigene Gattung darstellen. Es gibt in Basel auch Fähri-Geschichten. „Verzell das em Fährimaa“, ist ein alter Spruch; umgekehrt kann natürlich auch der Fährimaa eine Geschichte zum besten geben. Sie muss kurz sein, weil die Rheinüberquerung ja nicht lange dauert. Kurzen Geschichten hört man gerne zu, vor allem wenn sie eine Pointe haben, an die man sich erinnern kann.

Wie war das eigentlich früher, vor dem Flugzeug, vor der Eisenbahn und bevor es Stahlseile von über 200 Metern Länge gab, an die man eine Fähre hängen konnte? Gab es vor bald 500 Jahren schon so etwas wie ein Postauto, natürlich ohne Dieselmotor? Ein einigermassen regelmässiges Verkehrsmittel zum Beispiel zwischen zwei Städten, das das Publikum benützen konnte? In Strassburg wurde immer wieder Messe gehalten – wie reisten damals die Colmarer nach Strassburg, sofern sie keine eigenen Pferde besassen? Sie gingen zu Fuss oder nahmen den Rollwagen, tatsächlich eine Art Omnibus. Wer war der Betreiber solcher Rollwagen? Am ehesten ein Wirt, denn vor der Abfahrt des Rollwagens mussten sich die Fahrgäste besammeln, und da es noch keine Bahnhofuhren mit Sekundenzeiger gab, konnte bei einer um eine halbe Stunde verspäteten Abfahrt noch einiges – zur Freude des Wirtes – konsumiert werden.

Von Colmar nach Strassburg braucht die Eisenbahn heute rund 35 Minuten. Der Rollwagen von 1550 dürfte schon seine fünf oder mehr Stunden gebraucht haben. Was machen die Leute während dieser Zeit? Sie erzählen einander Geschichten. Solche Geschichten lassen sich aufschreiben, das ergibt dann eine Rollwagengeschichte; macht man ein Büchlein aus ihnen, hat man ein Rollwagenbüchlein.

Seinem alten Freund aus Colmar, dem Blumenwirt Martin Neu, widmete im Frühjahr 1555 der soeben nach Burkheim im Breisgau als Stadtschreiber übersiedelte Georg Wickram eine Geschichtensammlung mit dem Titel „Das Rollwagenbüchlein“ voll guter Schwänke und Historien, „so man in schriften und auf den rollwagen, desgleichen in scherheüseren unnd badstuben zu langweiligen zeiten erzellen mag“. In der Ausgabe von 1555 ist ein Holzschnitt zu sehen, der einen solchen Rollwagen zeigt. Zweimal zwei Pferde ziehen ihn, der Fuhrmann sitzt auf dem hinteren linken Ross. Das Gefährt ist ein seitlich offener Blachenwagen, in dem die mittleren Passagiere quer zur Fahrtrichtung, die übrigen längs zur Fahrtrichtung sitzen. Mindestens vier Passagiere lassen sich erkennen, es dürften insgesamt um die acht gewesen sein. 

Die Geschichten sind deutsch geschrieben – wie denn sonst? Nun, man hätte auch Latein erwarten können, ein grosses Vorbild war damals Erasmus, der in seinen Colloquia (zur Eingewöhnung der Schüler in das Latein als Umgangssprache) Alltagsszenen auf lateinisch geschildert hatte. Aber nun war die Zeit eine Generation weitergeschritten, mit der Kirchenreformation Luthers gewann auch die deutsche Sprache an Gewicht und wurde immer häufiger gedruckt. Wickram bekennt übrigens selber, dass er eigentlich nie richtig Latein studiert habe.

Im Rollwagenbüchlein, gewissermassen einer Eisenbahnlektüre, stehen darum keine antiken Sagen oder Heiligenlegenden oder erbauliche Predigten, im Gegenteil. Es sind derbe Szenen, manchmal rührende, oft handfeste Spässe mit gutmütigem Spott, eben unterhaltsame Kurzgeschichten aus der Mitte des 16. Jahrhunderts.

Zum Beispiel wird erzählt, wie ein Ratsherr die junge Magd, die seine Frau angestellt hat, verführt. Nun erwartet sie ein Kind. Der Ratsherr fürchtet um seinen Ruf und bittet seinen Freund, einen Arzt, um Hilfe. Der sagt, er solle sich selber schwer krank stellen und ihn dann kommen lassen. Der Arzt erscheint und erklärt der geängstigten Ehegattin auf Grund einer Urin-Diagnose, ihr Mann sei tatsächlich schwer krank, denn er erwarte ein Kind. Die Frau will das erst nicht glauben, aber der Doktor bezeichnet das Übel als lebensgefährlich. Was kann man tun? Das Rezept des Arztes: Der Mann müsse mit einem jungen Mädchen schlafen, damit das heranwachsende Kind in einen richtigen Mutterleib umziehen könne. Die Frau sagt, sie kenne kein solches Mägdlein, der Arzt weist auf die Hausangestellte hin. Diese sträubt sich zuerst, willigt schliesslich ein, falls das Kind von der Frau nachher als das eigene angenommen werde. Sie steigt also in das Bett des Ratsherrn, dem geht es sofort besser. Nach 20 Wochen bringt die Magd ein Kind zur Welt. Da die Frau über diese kurze Schwangerschaft stutzt, erklärt ihr der Arzt, dass das seine Richtigkeit habe, weil die andere halbe Schwangerschaft des Kindes ja im Bauch des Mannes stattgefunden hätte.

Das Geburtsdatum von Georg oder häufiger Jörg Wickram ist unsicher, meistens wird 1505 angegeben. Spätestens 1562 ist er nicht mehr am Leben. Er war also rund zehn Jahre jünger als sein grosses Vorbild, der Meistersinger Hans Sachs, dessen Texte er sammelte, aber einiges älter als Johann Fischart, der geniale Strassburger, der Rabelais‘ Gargantua et Pantagruel auf deutsch überarbeitete. Wickram war der uneheliche Sohn des Obristenmeisters Konrad Wickram, der ihn aber anerkannte und ihm ein kleines Vermögen sowie ein Haus in Colmar vermachte. 1546 wurde er als Bürger angenommen, brachte es jedoch, vermutlich wegen seiner unehelichen Geburt, bloss zum Amt eines Weibels. Literarisch wurde er wichtig zuerst als Theaterregisseur und –autor, da hatte er auch Kontakt mit dem Basler Theaterdichter Pamphilus Gengenbach. Ein paar Jahre lang führte er eine Singschule in Colmar, in den Akten taucht er auch als Buchhändler auf. Er nahm die protestantische Konfession an. Da Colmar beim alten Glauben blieb, zog er 1554 über den Rhein und wurde Stadtschreiber in Burkheim, unterhalb von Breisach gelegen.

Das Werk Wickrams ist besser bekannt als sein Leben. Er hat Theaterstücke, Singspiele und Romane hinterlassen. Die literarische Forschung bezeichnet ihn als einen Begründer des deutschen bürgerlichen Romans. Das Dreiland zwischen Basel, Freiburg und Strassburg ist auch thematisch seine Heimat. Auffallend ist seine Bearbeitung französischer Stoffe, er war ein geistiger Grenzgänger. Seine grossen Romane in etwas schlichter Schwarz-Weiss-Manier sind heute schwer zu lesen. Anders ist das mit dem Rollwagenbüchlein, das so frisch geblieben ist, dass es der Verlag Reclam seit 1968 in sein Sortiment aufgenommen hat. Für eine Fahrt in der Eisenbahn oder für zwei Stunden im Flugzeug ist es noch immer eine vergnügliche Lektüre.

Und wenn im Dreiland am Oberrhein heute wieder unter dem Stichwort „Rollwagen“ ein Kurzgeschichten-Wettbewerb unter deutschen, schweizerischen und französischen Autoren ausgeschrieben wird, so lebt da eine Tradition weiter, die sich auf runde 450 Jahre berufen darf.

28.    Der Ernst des LebensNach Oben

Der Mann ist knapp über 33 Jahre alt. Er sitzt im Pfarrhaus von Röteln, dem kleinen Dorf neben dem stattlichen Schloss der Markgrafen von Baden. Unser Mann wurde vom Markgrafen Karl persönlich in dieses für die ganze obere Markgrafschaft wichtige kirchliche Amt berufen, das über alle Pfarrer eine gewisse Aufsichtsfunktion auszuüben hat. Es ist der 6. Februar 1574, der Mann sitzt am Schreibtisch und will sich über sein Leben Rechenschaft geben. Er hat sich Blätter aus Papier zurechtgelegt, eine frische Feder geschnitten und schreibt.

Seit noch nicht ganz fünf Jahren ist er verheiratet mit Lavinia de Canonicis, einer aus Oberitalien stammenden Frau. Thomas Erastus, ein Theologe aus der Gegend des schweizerischen Baden,  zog sie als Pflegetochter gross und empfahl sie seinem rund 15 Jahre jüngeren Freund zur Gattin. Geheiratet hatten sie im August 1569. 1571 kam ein Sohn auf die Welt, wurde Josua getauft, starb aber noch im gleichen Jahre. 1572 folgte eine Tochter, die in Erinnerung an eine ebenfalls jung verstorbene Tochter Erastus Anna Polybia getauft wurde. Unser Schreiber weiss, wieviel er seinem älteren Freund verdankt. Weitere Töchter entsprossen der Ehe, eine Maria Isotta 1573, ein Jahr später eine Salome, eine Susanna kam 1576 zur Welt. Das aber konnte er 1574 noch gar nicht geschrieben haben, das ist ein Nachtrag aus dem Jahr 1577. Er hat also sein Heft aus dem Jahr 1574 sorgfältig zur Seite gelegt und es weitergeführt. Die gut lesbare Schrift ist die gleiche, sie schwankt nur ein wenig in der Grösse und in den Strichstärken, das hat mit der immer wieder anders geschnittenen Feder zu tun.

Es ist ein merkwürdiges Gefühl, wenn man mehr als 400 Jahre später einem eigentlich noch jungen Mann über die Schulter in seine privaten Aufzeichnungen blicken kann. Man kommt sich indiskret vor. Auf der anderen Seite hat er gewollt, dass diese Aufzeichnungen erhalten blieben, darum liegen sie ja auch auf der Universitätsbibliothek, wo Sigfried Bühler, der Hüter des Röteler Archives, Kopien machen liess. Wenn man sich in den in einem einfachen Latein geschriebenen, gelegentlich mit griechischen Zitaten und deutschen Nachträgen ergänzten Text einliest, wird ein Eindruck immer stärker: Hier schreibt ein Mann in der Lebensmitte über seine eigene Vergangenheit. Er will sich Rechenschaft geben, will das Wichtige, Entscheidende, Verbindliche festhalten, eine objektive (Zwischen-)Bilanz erstellen.

Zuerst will er wissen, woher seine Familie kommt und wer als Stammvater gelten kann. Er nennt einen Urgrossvater namens Jacobus und eine Urgrossmutter namens Anna, von denen er drei männliche Nachkommen, darunter also seinen Grossvater Johannes, kennt. Dann führt er seinen eigenen Vater namens Thomas an, dann setzt er sich selber mit seinen zahlreichen Brüdern und Schwestern in die genealogische Übersicht. Ob der Urgrossvater noch weitere Söhne und Töchter hatte, weiss er nicht, aber die Anzahl der ihm noch gegenwärtigen Personen liegt schon über 40 – es ist eine grosse Familie. Sie kommt aus Veringerdorf, in Süddeutschland nahe bei Sigmaringen gelegen. Ihr Name war Grüner, und weil es die Nachkommen des Urgrossvaters nach Basel zog, wo sie eine höhere Ausbildung bekommen konnten, nannten sie sich latinisiert (oder eben gräcisiert) Grynaeus. Das war eine Adaption des deutschen Namens Grüner, aber konnte auch einen Bewohner der Stadt Grynium bedeuten, eine aeolischen Stadt, die durch ihren Apollo-Kult bekannt war.

Unser Schreiber im Pfarrhaus von Röteln ist also Johann Jakob Grynaeus, geboren 1540, gestorben 1617. Wie er 1574 seine Notizen verfasst, versucht er auch festzuhalten, was er von den Brüdern seines Grossvaters noch weiss. Einer, wieder ein Jakob, war Schultheiss, ein vorsichtiger Mann; der andere hiess Simon. Diesem Simon, also seinem Grossonkel, widmete er ein eigenes Kapitel, voll Bewunderung für dessen Studienreisen quer durch Europa, von Buda über Wien nach Wittenberg (wo er Luther und Melanchthon begegnete) und Heidelberg nach Basel. Dort wurde er von Oekolampad, dem Basler Reformator, an die Universität berufen. Ehrfurchtsvoll zählt er Simons Freunde auf: Erasmus, Bucer, Sturm, Thomas Morus – auch der junge Lazarus von Schwendi wird erwähnt.

Auf seinen Vater Thomas (1511-1564) kommt er ausführlich zu sprechen. Drei Mal habe er mit Heinrich VIII. von England gesprochen und sei von Thomas Morus freundschaftlich empfangen worden. Wir erfahren den Namen der Mutter, die Adelheid Stöuber hiess; die Ehe seiner Eltern dauerte 31 Jahre. 1547 kam der Vater von Bern als Schullehrer nach Basel, dann berief ihn der Markgraf Karl – wie später seinen Sohn – auf die Oberpfarrstelle nach Röteln.

Aus seinem eigenen Leben nennt er Studienfreunde und akademische Lehrer. 1559 ist er Diakon in Röteln, 1563 geht er an die Universität Tübingen. Dort promoviert er, dann zieht er 1569 nach Heidelberg. Offensichtlich lebt er in nächster Nähe zu Erastus, denn plötzlich ist jetzt von seiner Heirat die Rede. Erastus kam für deren Kosten auf, und wie nun unser Johann Jakob Grynaeus davon spricht, fallen ihm auch alle andern finanziellen Verpflichtungen ein. Da wird alles haargenau nach Gulden und Talern und Kronen aufgeschrieben. Aus den Lebensaufzeichnungen des noch jungen Pfarrers wird plötzlich so etwas wie ein Testament, und die Nachträge von 1577 und 1581 gleichen immer mehr einer Vermögensbilanz.

Aber eben, es ist eine Bilanz in der Mitte, nicht am Ende eines Lebens. Die eigentliche Karriere des Johann Jakob Grynaeus begann erst. 1574 wurde er Theologieprofessor an der Basler Universität, Nachfolger des lutherisch gesinnten Antistes Sulzer. Er bekämpfte sofort dessen Politik: Basel sollte schweizerisch reformiert bleiben. Dann kam eine überraschende Wende, da 1584 der Pfalzgraf Johann Casimir Grynaeus zu einer Religionsdisputation nach Heidelberg einlud – und ihn sogleich als Universitätslehrer zurückhielt. Zwischen Basel und dem Pfalzgrafen begann ein regelrechtes Gezerre um die Person dieses von den Studenten hochgeschätzten Lehrers, die Basler mussten ihre Gehaltsofferte immer höher ansetzen, bis er endlich im März 1586 zurückkam und dann auch Antistes wurde. Er organisierte die Basler Kirche neu, bekämpfte die Gegenreformation im Birseck. Er war die treibende Kraft bei der zweiten Gründung des Gymnasiums auf Burg, vermittelte im Streit der Mülhauser mit den katholischen Eidgenossen, unterstützte die Einrichtung einer französischen Gemeinde, veranlasste eine Münsterrenovation und war wohl der erste akademische Lehrer, der freiwillig und kostenlos grosse historische Vorlesungen für die akademische Jugend hielt. Schon fast erblindet predigte er über 70 Jahre alt im Münster, 1617 starb er, nachdem er seine Frau und sechs Kinder hatte beerdigen müssen.

Familie, akademische Lehrer, Freunde, Finanzen – in all diesen Dingen genaue Übersicht und Ordnung zu behalten, das war sein Ernst des Lebens.

9.    Die eidgenössische SchwesterNach Oben

1923 wurde, soviel ich sehe, kein Jubiläum gefeiert. Aber vielleicht hätte man eines feiern können: 600 Jahre Verbindung von Basel und Mülhausen. Vom Jahr 1323 ist eine Abmachung – ein Bund wäre zuviel gesagt – des Bürgermeisters und des Rats von Basel mit „unsern guten fründen“, dem Schultheissen und dem Rat von Mülhausen, überliefert. Zweck der Absprache ist die gegenseitige Anerkennung der Gerichtszuständigkeit. Basler also müssen sich, wollen sie gegen Leute von Mülhausen klagen, an Mülhausen wenden wie auch umgekehrt, ausgenommen sind nur Bürgschaftsprozesse oder Händel mit rechtlosen Personen. Praktisch hiess das, dass die Mülhauser keinen Basler und die Basler keinen Mülhauser auf ihrem Territorium arretieren durften – was vordem offenbar immer wieder passiert war.

So schreibt es ein Basler, der Stadtschreiber in Mülhausen wurde, Jakob Heinrich Petri (oder eben auch Henric-Petri), der von 1593 bis 1660 lebte und 1633 zum Bürgermeister von Mülhausen aufstieg. Und so schreibt es auch der von 1646 bis 1732 lebende Mülhauser Josua Fürstenberger, der 1675 Stadtschreiber und 1699 ebenfalls Bürgermeister wurde. Der zweite schreibt es bis ins Jahr 1617 ein wenig dem Amtsvorgänger ab. Da stösst man auf eine Merkwürdigkeit dieser frühen Zeiten: dass Stadtschreiber die Geschichte ihrer Stadt von allen Anfängen an immer wieder neu verfassten und fortführten, handschriftlich und noch nicht im Hinblick auf einen Druck. Auch der Basler Peter Ochs (1752-1821) nahm sich dergleichen vor, aber dachte, schon etwas moderner, an eine baldige Drucklegung.

Auch 1966 wurde, soweit ich mich erinnere, kein Jubiläum gefeiert. Und doch hätte man sogar noch einen besseren Anlass gehabt, nämlich 500 Jahre Bündnis zwischen Mülhausen und den Orten Bern und Solothurn. Diesmal ging es nicht bloss um Gerichtszuständigkeiten, sondern um einen militärisch bedeutsamen Pakt, der 1466 auf 25 Jahre abgeschlossen wurde. Würde jemand die Stadt Mülhausen belagern und sie vom Heiligen Römischen Reich „dringen“, also einer Lehensherrschaft unterwerfen wollen, sollten Bern und Solothurn ohne Kostenfolge für Mülhausen zu Hilfe eilen. Wäre Mülhausen sonst in eine Fehde verwickelt und bräuchte tatkräftigen Beistand, so könnte es auf seine Kosten Zuzug von Bern und Solothurn verlangen. Für Bern und Solothurn sollte die Stadt Mülhausen jederzeit zugänglich bleiben. Nur sollte Mülhausen keinen Krieg beginnen und kein Bündnis ohne Wissen von Bern und Solothurn eingehen. Drittparteien gegenüber würde man sich solidarisch verhalten, gemeinsame Beute gleichmässig teilen. Vorbehalten blieben für Bern und Solothurn die Zugehörigkeit zum Reich und der ältere eidgenössische Bund, für Mülhausen die Bündnisse mit dem Pfalzgrafen bei Rhein und den Reichsstädten im Elsass.

In der Chronik sowohl von Heinrich Petri wie von Fürstenberger findet sich in fast identischen Worten der Hinweis, dass die übrigen Orte der alten Eidgenossenschaft auf Fürbitte der Stadt Bern die Stadt Mülhausen auch in ihren Schutz aufgenommen hätten. Also stand Mülhausen von diesem Zeitpunkte an unter eidgenössischer Protektion und hatte die beiden militärisch potentesten Orte zu direkten Bundesgenossen. Basel trat erst 1501 der Eidgenossenschaft bei. Somit war Mülhausen in gewissem Sinn schon eine eidgenössische Schwesterstadt geworden, als Basel noch zwischen Habsburg und dem Reich, zwischen den oberrheinischen sowie schwäbischen Städtebünden und den Eidgenossen schwankte, im Innern darüber hinaus die Auseinandersetzung zwischen der zünftischen Stadt und dem fürstlichen Bischof führen musste. Bis zum Untergang der alten Eidgenossenschaft war und blieb Mülhausen eidgenössisch, und wenn heute in Mülhausen in nächster Nähe zum alten Rathaus noch ein Restaurant mit dem Namen Guillaume Tell steht, ist das kein touristischer Trick, sondern ein legitimes Überbleibsel einer Geschichte von mehr als 300, wenn nicht gar 450 Jahren.

Wer weiss sie noch? Fragen Sie die Mülhauser, die Berner, die Solothurner, die Basler, die Sprecher der Regio-Vereinigung in allen drei Ländern. Und wie kam es dann, dass Mülhausen so sang- und klanglos in der Französischen Republik aufging? Und was steckt dahinter, dass die Fürstenberger, die Koechlin, die Mieg, ja sogar die Fininger, alles Geschlechter aus Mülhausen, plötzlich in Basel eine Rolle spielten? Offensichtlich haben wir auch in eidgenössischen Belangen viel vergessen. Das weiss auch der Leiter der Archives municipaux in Mülhausen, Jean-Luc Eichenlaub, der einmal zusammengestellt hat, was es an historischer Literatur zum Verhältnis Basel-Mülhausen und Mülhausen-Eidgenossenschaft eigentlich gibt – und dabei auf fast aufregende Lücken gestossen ist.

Nachbarschaftlich gab es zwischen Mülhausen und Basel schon immer enge Beziehungen, auch wenn diese Städte, die heute eine halbe Stunde Autofahrt voneinander entfernt liegen, damals eine Tagesreise weit getrennt waren. In den Chroniken nicht vergessen ist die Hilfe nach dem Erdbeben von 1356: „Diesen erbärmlichen Zustand haben die Mülhauser wie billig zu Herzen gefasst, und deswegen nicht nur einige der Räthe dahin gesandt, ihr Mitleid zu bezeugen, sondern auch ansehnliche Steuern ausgetheilt und die Anordnung getroffen, dass die Bürger wöchentlich (den Zünften nach) sich nach Basel begaben, um an der Wiederaufrichtung der Häuser Hilfe zu leisten.“ Aber politisch waren Mülhausen und Basel in einer grundsätzlich andere Lage. Mülhausen war zwar seit 1275 freie Reichsstadt dank König Rudolf von Habsburg, aber musste sich durch seine ganze spätmittelalterliche Geschichte wehren gegen die habsburgische Landvogtei in Ensisheim, gegen den Übernahme-Appetit verschiedener geistlicher und weltlicher Herren, wohingegen Basel zuerst als Stadt eines mächtigen Bischofs und dann als sich langsam vom Bischof lösende Stadt eines Zunftregimentes ein anderes politisches Gewicht auf die Waage brachte. Mülhausen suchte den Anschluss an befreundete Militärmächte, das waren Solothurn und Bern; Basel suchte den mehr diplomatischen Ausgleich im ganzen Spiel der oberrheinischen Gewalten.

Auf Grund der Daten und des Bündnisses von 1466 ergibt sich die überraschende Tatsache, dass nicht Mülhausen die eidgenössische Schwesterstadt von Basel wurde, sondern dass Basel mit seinem Eintritt in den Bund 1501 auch Mitglied des einen Vertragspartners im militärischen Schutzbündnis für Mülhausen wurde. Somit drängten sich logisch zwei weitere Schritte auf: 1506 ein formelles Bündnis Basel-Mülhausen, was das Einverständnis der anderen, jetzt 13 Orte zählenden Eidgenossenschaft brauchte, und über die Jahreswende 1514/1515 – für die italienischen Feldzüge und Marignano waren Mülhauser hoch willkommen – die formelle Aufnahme von Mülhausen in die Eidgenossenschaft als zugewandter Ort. Das nächste mülhausisch-baslerische Jubiläum könnten wir 2005 und das übernächste eidgenössisch-mülhausische Jubiläum anno 2015 feiern.

30. Le Bâle françaisNach Oben

Seit bald 500 Jahren ist Basel eine Schweizer Stadt. Davor war es eine (nicht ganz so freie) Reichsstadt, weil es eine Bischofsstadt war. Vor Kaiser Heinrich II. gehörte es zum Königreich Burgund, das Bistum Basel war Teil des Erzbistums Besançon, das Kleinbasel lag in der Diözese von Konstanz – wohl eine Erinnerung an das Herzogtum Alemannien. Kaiseraugst und Martigny streiten darüber, welches von beiden der erste Bischofssitz auf dem heute schweizerischen Boden war; die Nachfolge von Kaiseraugst als Bischofssitz trat Basel an. Zu Frankreich, das heisst zur französischen Krone, gehörte Basel nie, aber sehr wohl zum fränkischen Kaiserreich.

Von einem französischen Basel kann also nicht die Rede sein. Kurz nach 1800 herrschte allerdings etwelche Beunruhigung, ob Frankreichs erster Konsul und späterer Kaiser Napoleon nicht auf die Idee kommen könnte, Basel dem Departement Haut-Rhin einzuverleiben. Militärisch wäre das kein Problem gewesen, das Birseck war ja schon französisch, nachdem es lange fürstbischöfliches Reichsland gewesen war. Darum sind im Gästebuch der Ermitage Arlesheim die Basler als „étrangers“ verzeichnet. Die für Basel gewaltige Festung Hüningen, die in französischen Augen eher ein „Fort“ war, hätte bei einer Annexion von Basel durch Frankreich die entscheidende Rolle spielen können. Darum ist die Begeisterung der Basler beim Abbruch der Festung 1815 mehr als verständlich.

Und dennoch gibt es so etwas wie ein französisches Basel. Basel lag am Ende des 17. Jahrhunderts so nahe bei Frankreich wie Genf. Es war Handelspartner der Franzosen für Seidenbänder, Florettseide, Baumwolle, Gerbstoffe und typografische Lettern. Es hatte intensive Beziehungen zu Lyon, Nantes (dem damaligen grössten französischen Hafen) und Strassburg. Es beherbergte eine reformierte französische Kirche. Es nahm schon im 15. Jahrhundert, zur Zeit des beginnenden Buchdrucks, Gelehrte französischen Herkommens auf. Aus dem südlichen Frankreich nach Deutschland reisende Beobachter kamen fast notwendigerweise durch Basel. Für französische Hugenotten war Basel mit seiner französischen Gemeinde ein Stück Frankreich im Ausland. Somit kann man sagen: Politisch gab es das französische Basel nicht, aber geistig und literarisch existierte es über viele Jahrhunderte.

Das Buch eines Franzosen, das in der Welt des 16. Jahrhunderts so wirkte (wenn auch auf einer anderen Ebene) wie „Das Kapital“ von Karl Marx im 19. Jahrhundert, nämlich die lateinisch geschriebene „Christianae Religionis Institutio“ von Johannes Calvin, wurde 1536 in Basel erstmals gedruckt. Thomas Platter, der Schulmeister auf Burg, war einer der Verleger. Von den rund 5500 Studenten zwischen 1532 und 1601 an der Universität Basel waren mehr als 450 richtige Franzosen, ohne die Elsässer, Lothringer und Savoyarden dazuzuzählen. Mehrere sind uns bekannt, so François Hotman, der spätere Rechtskonsulent, mit Felix Platter befreundet. Pierre de la Ramée oder Petrus Ramus logierte sich im früheren Domizil von Calvin in der St. Alban-Vorstadt ein und schrieb eine ausführliche lateinische Lobrede auf Basel und seine Universitätsprofessoren. Bedeutende französische Poeten des 16. Jahrhunderts studierten in Basel, so François de Malherbe (1572) und Jean de Sponde (1581), der sich dem Basler Professor Theodor Zwinger gegenüber als Alchimist bekannte. Vermutlich begegnete er in Basel auch Théodore de Bèze, dem Nachfolger Calvins. 1580 kam aus Bordeaux Michel de Montaigne vorbei, speiste mit Felix Platter, Zwinger und Hotman – und notierte alles gewissenhaft im Reisetagebuch.

Im 17. Jahrhundert waren mittelalterliche Stadtmauern militärisch überholt, man musste der aufkommenden Artillerie wegen Festungen mit flachen Schanzen anlegen. In dieser Disziplin waren Franzosen führend. Von 1622 datiert das Portrait im Basler Kunstmuseum von Agrippa d’Aubigné, der, zugleich ein renommierter Dichter, die Basler beim modernen Schanzenbau beriet.

Im 18. Jahrhundert erscheinen, angezogen vom Ruf der Mathematiker Johannes I und Johannes II Bernoulli, französische Mathematiker. Voltaire übernachtete 1758 im Hotel Drei Könige, verfasst später eine ironische Basler Predigt. 1765 bezieht Rousseau ein Zimmer dort, bedankte sich nachher bei Johannes II Bernoulli für den freundlichen Empfang. Madame Roland, eine seiner Jüngerinnen, findet Gefallen an Basel, zwar weniger an der Architektur als am tadellosen Service in den sauber eingerichteten Hotels und an der grosszügigen Gastfreundschaft von Jakob Sarasin, bei dem sie die Büste von Cagliostro bewundert.

Die Revolution schwemmt massenhaft Franzosen in die Stadt, besonders auch Emigranten. Im Juni 1789 sitzen der von Ludwig XVI. berufene Necker, Lavater, der Baron und Madame de Staël im Drei König zusammen, neugierig beobachtet aus den Nachbarhäusern. Die Ermitage Arlesheim wimmelt von französischen Besuchern bis zu ihrer Zerstörung im Jahr 1792, dort wird ein Gedenkstein für den französischen Gartendichter Delille aufgestellt. Im 19. Jahrhundert folgen sich grosse Namen der französischen Literatur gerade reihenweise: Stendhal 1821, 1838 und 1839, der Gefallen an den Markgräfler Weinen findet; Saint-Marc Girardin, der 1834 beschreibt, was vom Totentanz noch übrig blieb; Michelet 1843; Gobineau, der sich nach Inzlingen verzieht; Viollet-le-Duc 1854, der über die Münster-Restauration entsetzt ist; Théophile Gautier 1858, dem die gebratenen Forellen schmecken. Chateaubriand kommt 1826 und 1832 nach Basel, ärgert sich über einen Zöllner. Gérard de Nerval publiziert 1830 einen Artikel über den Rhein bei Basel. Victor Hugo steigt am 7. September 1839 im Storchen ab und meditiert über die törichten Jungfrauen am Münster.

Das Zweite Kaiserreich und dann die Annexion des Elsass bringen abermals einen französischen Zustrom. Ernest Renan bewundert 1878 den Bürgersinn der Stadt, während André Suarès ein ganz anderes Bild entwirft: „Harter Kopf und heisser Bauch, Basel ist eine spezielle Stadt, eine Bürger-Kapitale. Sie ist chimärisch und fett, religiös und fleischlich. (...) Sie hat den Stolz, solide und reich zu sein. Sie brüstet sich mit ihren guten Sitten und lacht im Innern über ihre Verwerflichkeit. Mit der einen Hand liest sie die Bibel, mit der anderen streichelt sie, hinter einem Vorhang von Vernunft und strenger Exegese, ihre Leidenschaften und schiebt ihr Glas zur Flasche. Basel ist eine Stadt, die auf ein Wirtshausschild „zur Mässigkeit“ trinkt.“

1968 hat Claude Pichois seine kleine Schrift „Ecrivains français à Bâle“ publiziert. Sie ist mehr als eine Sammlung von französischen Reiseberichten über Basel. Denn wenn man sie in Gedanken noch durch die wichtigen Beiträge der Welschschweizer zum städtischen Leben ergänzt, wird es bald deutlich, dass Basel, obwohl deutschsprachig, durch viele Jahrhunderte auch ein kulturelles und sogar – siehe Peter Ochs – politisches Scharnier zwischen dem deutschen und französischen Europa war.

31.    Krankengut aus der RegioNach Oben

Der elende Ausdruck „Krankengut“ ist eine moderne Erfindung. Aber er spielt in der Planung der medizinischen Versorgung eine wichtige Rolle: Wo überall finden sich die Patienten, für die von einem ärztlichen Zentrum aus gesorgt wird? Wir Heutigen haben da mehr Schwierigkeiten als die Jahrhunderte vor uns, weil wir aus politischen Grenzen auch Kassen-, Tarif-, Diplomanerkennungs-, Spital- und Verschreibungsgrenzen gemacht haben. Nicht einmal Stadt und Landschaft Basel verstehen ihre Gesundheitswesen zu koordinieren.

Aber man muss auch das andere sehen: Unsere heutige medizinische Versorgung ist so aufgebaut, dass sie allen Bevölkerungsschichten zugänglich werden kann. Nicht nur der Reiche soll sich kurieren lassen dürfen, auch der Arme muss zum Arzt gehen können. Darum ist die Medizin von heute mit den Krankenkassen und also dem Versicherungsgedanken verknüpft, und Krankenkassen ihresteils brauchen, um berechenbar zu werden, die Statistik.

Das sind Zusammenhänge, die früheren Jahrhunderten verborgen blieben. Um so aufregender ist es, einem Arzt vor rund 400 Jahren zuzuschauen, der sozusagen an beiden Enden dieser Zusammenhänge tätig war. Auf der einen Seite richtete er sich eine Praxis ein, die von Basel aus linksrheinisch bis nach Colmar, Auxelles, Montbéliard, rechtsrheinisch bis nach Breisach, Freiburg, Waldshut, auf schweizerischer Seite bis nach Pruntrut, Solothurn, Muri und Baden reichte, also sehr wohl das umfasste, was wir heute die Regio nennen. Auf der anderen Seite war er, in diesem Sinn seiner Zeit weit voraus, fasziniert von kompletten, nach einheitlichen Kriterien erfassten Daten, weshalb er die schlimme Pestepidemie von 1611 in Basel zum Anlass nahm, Haus für Haus ohne Rücksicht auf soziale oder wirtschaftliche Unterschiede nach Bewohnern, Pestinfektionen, Sterbe- und Genesungsfällen zu inventarisieren, um sich ein epidemologisches Gesamtbild dieser Seuche zu machen.

Felix Platter hiess der Mann, einziger Sohn aus der ersten Ehe des Schulleiters auf Burg, des städtischen Gymnasiums in Basel, geboren 1546, gestorben 1614. Er war ein Zeitgenosse des französischen Essayisten Michel de Montaigne, zwar drei Jahre jünger, aber in mehr als einer Beziehung ihm geistig verwandt. Der 1576 von Montaigne gewählte Leitspruch „Ich halte mich zurück“ war freilich gerade das Gegenteil von Platters Lebenshaltung, der sich in seinem Beruf, in seinen Ämtern und Geschäften zunehmend engagierte. Aber insofern waren sie wieder so etwas wie geistige Zwillinge, als sie mittels des geschriebenen Wortes herausfinden wollten, wer ein jeder von ihnen eigentlich war. Dazu schrieb Montaigne in der Einsamkeit seines Turms in der Nähe von Bordeaux seine Essais; dazu verfasste Platter in der Tradition seines Vaters ein ausführliches Tagebuch oder so etwas wie einen Lebensbericht, leider nur bis zum Alter von 31 Jahren. Zu einer Fortsetzung ist er kaum mehr gekommen, oder sie ist uns verloren gegangen, nicht aber seine Abrechnungsbücher und sein Testament.

1557, als Platter mit seiner Arztpraxis begann, zählte die Stadt höchstens 10'000 Einwohner, die von 17 Ärzten – wie der statistisch interessierte Platter festhält – betreut wurden. Also kam ein Arzt auf 588 Personen. (Heute sind es etwa 270.) Platter war sehr jung, er musste sich um Patienten bemühen. Nun profitierte er davon, dass ein Vater Thomas vom mittellosen Walliser Geissbuben zum angesehenen Gymnasiarchen herangewachsen war; die in der Stadt führende Gesellschaft stand ihm offen. Schon die ersten Patientennamen, die Platter erwähnt, Herr Ludwig von Reisach, der von Pfirt, die von Utenheim, Junker Beat Morand von Andlau, Junker Christoph Staufer und Junker Ludwig von Windegg, zeigen, neben bürgerlichen Namen, wo der frischgebackene Doktor seine Klientel suchte: in den vornehmen Kreisen in und vor allem um Basel. Der erste Ritt zu einem Patienten geschah nach Thann, wo der frühere Kostgänger beim Vater Platter, Theobald Surgand, jetzt Ratsherr und Einnehmer im Dienst der Fugger, an einer Herzinsuffizienz und Wassersucht erkrankt war. Nicht weniger als acht Mal ritt Platter zu ihm, der Patient starb dennoch. Dafür begannen die Honorare zu fliessen, Platter schrieb: „Gwan also zum anfang ziemlich gelt.“

Zugleich arbeitete Platter wissenschaftlich, etwa als anatomischer Präparator. Er bemühte sich um den Leichnam eines zum Tode verurteilten Diebes, kochte das Gerippe aus und stellte ein Skelett zusammen, das dann später die Mutter des Delinquenten besuchen kam. Traurig sagte sie, dass man ihm nicht die Erde habe gönnen mögen. 1560 weitete sich Platters Praxis weiter aus, nach Pfirt, Colmar, Freiburg, Sulzburg, Olsberg, Pruntrut. Der aus Basel vertriebene Fürstbischof Melchior von Lichtenfels lud ihn an seinen Hof und gewann ihn als ärztlichen Berater, dasselbe tat der Junker Hannibal von Bärenfels in Grenzach. Immer mehr Ortschaften aus dem ganzen oberrheinischen Dreiland tauchen in den Notizen Platters auf: Binzen, Röteln, Habsheim, Mülhausen, Guebwiller, Murbach, wo er das Vertrauen des Fürstabtes gewann. Transportmittel war ausschliesslich das eigene Pferd, oft blieb Platter mehrere Tage von Basel weg. Stolz notiert er: „Bruchten mich fast alle, so von adel zu Basel woneten.“ Er hatte es geschafft. Badische Markgrafen, Herzoge von Württemberg und Grafen von Hohenzollern waren seine Freunde geworden, luden ihn ein.

Und dabei war dieses oberrheinische und süddeutsche Kleineuropa von einem tiefen Graben zerrissen, dem konfessionellen mit Reformation und Gegenreformation und im reformierten Lager noch einmal durch lutherische, zwinglianische und calvinistische Unterschiede belastet. Was hatte ein Arzt reformierten Glaubens mit Fürstbischöfen und Fürstäbten zu schaffen?

Am 28. September 1580 kam von Plombières, nachdem er die Erstausgabe seiner Essais dem König Heinrich III. in Paris präsentiert hatte, Michel de Montaigne nach Thann, am 29. war er in Mülhausen und später in Basel, blieb bis zum 1. Oktober hier und ritt dann weiter nach Hornussen, Richtung Brugg und Baden. Der Rat bewillkommnete Montaigne mit Wein und einer langen Rede. Der Wein war sehr gut. Dann ging Montaigne in Platters Haus (heute Ecke Hebelstrasse/Petersgraben), das voll bemalt und mit französischen Ornamenten ausgestattet war. Platter zeigte ihm sein Herbarium und seine Skelette. Zudem hatte er weitere Gäste eingeladen, vermutlich Simon Grynaeus, Theodor Zwinger und sicher François Hotman, den aus Paris stammenden protestantischen Rechtskonsulenten. Montaigne und seine kleine Gesellschaft gingen dann mit Platter und Hotman essen, besprachen auch konfessionelle Probleme. Gesprochen wurde französisch, das Platter von seiner Studienzeit in Montpellier beherrschte. Montaigne fand nicht heraus, ob diese Basler nun Zwinglianer, Calvinisten und Lutheraner sein wollten, und bekam den Eindruck, dass einige noch heimlich am alten Glauben hingen. Überraschend ist das nicht, da Platter selber im Hinblick auf seine katholischen und auf der reformierten Seite wiederum konfessionell verschiedenen Patienten in solchen religiösen Dingen eine höfliche Unverbindlichkeit wahrte. Ein guter Arzt ist eben für alle da.

32.    Hinter die Fassade verbanntNach Oben

Wenn die Baslerin auf den Marktplatz geht, um das frische Sommergemüse einzukaufen, grüssen von der Rathausfassade die Wappen der alten eidgenössischen Stände, also von links nach rechts – Moment, wie viele Wappen sind es überhaupt? Die alte Eidgenossenschaft hatte acht Orte, die spätere hatte 13 Orte, aber hier sind 17 Wappen zu sehen. Das erste links aussen, das muss Biel sein; dann kommen Wallis, Graubünden, St. Gallen, Appenzell, Schaffhausen, Freiburg, Zug, Schwyz, Luzern, Zürich, Basel, Bern, Uri, Unterwalden, Glarus, Solothurn. Also sind es die Wappen der 13 alten eidgenössischen Orte, ergänzt durch die vier zugewandten Orte Biel, Wallis, Graubünden und St. Gallen. Aber das sind ja nicht alle, es fehlen die zugewandten Orte Mülhausen und Rottweil. Wer hat da, ausgerechnet am Basler Rathaus, mit heraldischen Tricks das elsässische und süddeutsche Vorfeld ausgeblendet?

Gemach, gehen wir in den Rathaushof. Da hängen noch einmal Wappen. Und siehe da: auf weissem Grund erscheint das rote Mühlrad mit den kreuzartigen Speichen von Mülhausen, in der Nähe ebenfalls der einköpfige Adler auf goldenem Grund mit einem Kreuz auf der Brust, das Wappen von Rottweil. Wo liegt Rottweil? Nordöstlich von Villingen im Schwarzwald oder auf der Luftlinie von Pforzheim nach Schaffhausen im Drittel Schaffhausen zu. Sie beide, Rottweil und Mülhausen, waren jahrhundertelang so gute Eidgenossen wie die Bündner, Walliser, Bieler und St. Galler, aber sie sind es nicht geblieben oder haben es nicht bleiben können. Das ist im Fall von Mülhausen eine gar nicht so einfache Geschichte.

Von den Bündnisverträgen zwischen Mülhausen, Bern und Solothurn (1460) war schon die Rede, desgleichen vom Bündnis Basels mit Mülhausen (1506) und der feierlichen Aufnahme Mülhausens als zugewandter Ort in die Eidgenossenschaft (1515). Aber wie ist es Mülhausen in der Eidgenossenschaft ergangen? Nicht nur gut.

Die Stadtschreiber Mülhausens im 17. Und 18. Jahrhundert, Jakob Heinrich Petri und Josua Fürstenberger, vermerken es fast pedantisch, dass Abt und Stadt St. Gallen, Graubünden und Wallis in der Ordnung der zugewandten Orte vor Mülhausen kommen, Rottweil und Biel erst nachher folgen. Man hielt viel auf protokollarische Ordnung. Nach dieser würde also Biel gerade nicht auf die Fassade des Rathauses gehören, sondern müsste Mülhausen weichen. Dass Mülhausen schon vor 1515 mit den Baslern und Eidgenossen gemeinsame Sache machte, sieht man daran, dass sein Hauptmann Martin Brüstlein mit einem Aufgebot in die Schlacht nach Pavia zog. Vom Papst Julius II. erhielten die Mülhauser ein Banner. Sie schlugen sich tapfer bei Novarra, zogen dann mit 200 Mann nach Marignano – und kamen arg dezimiert zurück. 1520 war in Mülhausen eine neue Beschwörung der eidgenössischen Bünde angesetzt, Gesandte aller Orte kamen über Basel nach Mülhausen, die Stadt durfte sich solide in die Eidgenossenschaft eingebunden fühlen. Und diese hatte den strategisch wichtigen Punkt zwischen der burgundischen Pforte und dem Elsass gewonnen. Neue Nachbarn der Eidgenossen waren jetzt die österreichischen Lande im Elsass, die Grafschaften Pfirt und Mömpelgard, die baslerischen und strassburgischen bischöflichen Lande geworden; als nächstgrössere Mächte erschienen die Freigrafschaft Burgund und das Herzogtum Lothringen, dahinter das mächtige Frankreich.

Es war die Kirchenreformation, die diese anfänglich militärische Ausweitung der Eidgenossenschaft ihrer politischen Konsolidierung beraubte. Schon 1524, also nach den Thesen Luthers, aber vor der offiziellen Reformation der Städte Zürich, Bern und Basel, schlossen sich die altgläubigen Kantone Uri, Schwyz, Unterwalden, Luzern und Zug in Beckenried zu einem eigenen Bund zusammen, und nach den eigentlichen Reformationskriegen spaltete sich die Eidgenossenschaft praktisch in zwei Lager, ein katholisches und ein protestantisches. Stützen des ersteren waren die alten fünf Orte, dazu Freiburg, die teilweise paritätischen Solothurn, Glarus und Appenzell; Träger des zweiten waren die auf Städte ausgerichteten protestantischen Orte wie Zürich, Bern, Basel, Schaffhausen, zu denen die reformierte Stadt St. Gallen und eben auch Mülhausen stiessen. Der helvetische Staatskörper, das sogenannte corpus helveticum, war eben kein Staat, sondern ein wechselndes Bündnissystem, das auch aussenpolitisch häufig gegensätzliche Verpflichtungen einging. Mülhausen, damals ausschliesslich deutschsprachig, hatte die Reformation gleichzeitig und in engstem geistigen Kontakt mit der Stadt Basel angenommen. Es gab in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts somit eigentlich zwei Eidgenossenschaften, getrennte Tagsatzungen waren häufiger als gemeinsame. Sie waren sich nicht immer freundlich gesinnt. Mülhausen erlebte 1586 die Demütigung, dass die katholischen Orte den Bund aufsagten, der Stadt den alten Bundesbrief mit abgeschnittenen Siegeln zurückgaben. Ein daraufhin ausbrechender Bürgerkrieg konnte nur dank einer Intervention der evangelischen Eidgenossen niedergeschlagen werden.

In den Mülhauser Stadtchroniken lässt sich nacherleben, wie die innerfranzösische konfessionelle Auseinandersetzung auf Mülhausen einwirkte: der Mord an den Hugenotten in der sogenannten Bartholomäusnacht, die Gründung der Liga auf der katholischen Seite mit dem Herzog von Guise, der Ruf des Königs Heinrich III. nach den protestantischen Eidgenossen, die Verbindung der katholischen Eidgenossen mit Spanien, das sich im Burgund einnistete. Es waren zugleich die Jahre, da der in Pruntrut residierende Basler Fürstbischof Jakob Christoph Blarer von Wartensee die Allianz mit den katholischen Eidgenossen suchte, das mit Bern und Zürich verbündete Genf gegen den Herzog von Savoyen kämpfte und – was heute fast ganz vergessen ist – das ebenfalls protestantische Strassburg eidgenössisch werden wollte. 1588 schloss es mit Bern und Zürich einen Bund. Im Handbuch der Schweizergeschichte von 1980 wundert sich Peter Stadler, der über dieses eher dunkle Zeitalter schreibt, darüber, dass die Beziehung von Strassburg zum Land der Eidgenossen historisch kaum bearbeitet worden ist – tatsächlich eine nicht gemachte Hausaufgabe. Dasselbe gilt für die Verbindungen Mülhausens zur Eidgenossenschaft und zur Nachbarstadt Basel.

Die Verteilung der Wappen am Basler Rathaus ist ein Dokument dafür. Auf der ursprünglichen Fassade waren nur 11 Wappen abgebildet, also die achte alten Orte, ergänzt durch Freiburg und Solothurn, dazu Basel. Beim ersten Umbau des Rathauses von 1606 bis 1611 kamen Biel, Wallis, Graubünden, St. Gallen, Appenzell und Schaffhausen dazu. Mülhausen blieb im Hinterhof. War es eine Rücksicht auf die gemeinsame Tagsatzung? Was es diplomatische Vorsicht vor dem französisch-burgundischen Einflussbereich? Wenn dereinst eine Auffrischung der Wappen am Rathaus notwendig wird, sollten wir dafür besorgt sein, dass das Mülhauser Mühlrad wieder auf die vordere Fassade gesetzt wird, wo es historisch und protokollarisch und auch ein wenig nachbarschaftlich hingehört.

33.    Zu Unrecht vergessenNach Oben

Heute ein Sprung ostwärts über die Grenzen des Dreilandes hinaus ins schwäbisch-württembergische Gebiet und an den Neckar. Da liegt die alte Reichsstadt Rottweil, deren Wappen mit einem schwarzen Adler, auf dessen Brust ein Kreuz prangt, noch im Hof des Basler Rathauses zu sehen ist. Dieses Kreuz im Rottweiler Wappen taucht nach 1521 auf und ist am ehesten als ein Passionskreuz zu verstehen, das die Rottweiler Münzen von denjenigen anderer Städte, die auch einen Adler im Wappen führten, unterscheiden half. Aber man hat es auch schon als ein Schweizerkreuz gedeutet. Das ist verständlich, denn Rottweil gehörte als zugewandter Ort zur alten Eidgenossenschaft, war demnach eine Schwesterstadt von Mülhausen.

Kann man sagen, dass, was Mülhausen für Basel, Rottweil für Schaffhausen war? In gewissem Sinn ja; die neuen, 1501 dem Bund beigetretenen Städte Basel und Schaffhausen brachten damit Bundesgenossen aus ihrem geografischen Vorfeld mit. Aber der wesentliche Unterschied liegt wohl darin, dass Mülhausen, zwischen Sundgau und Elsass gelegen, im Vorfeld der burgundischen Pforte und umgeben von habsburgischen Stammlanden, nicht weit vom Rhein und den alten Römerstrassen entfernt, strategisch eine ganz andere, gefährlichere und interessantere Schlüsselposition innehatte als das rundum ins alemannische Gebiet gebettete Rottweil. Zu den zahlreichen und gelegentlich wechselnden Städtebündnissen des 14. und 15. Jahrhunderts gehörte auch der Bund Rottweils von 1463 mit den acht alten Orten der Eidgenossenschaft, der 1477 und 1490 erneuert wurde. Im Schwabenkrieg – für die Schwaben dem Schweizerkrieg – konnte es mit Mühe neutral bleiben, aber bei den burgundischen, später den oberitalienischen Kriegen kämpften Rottweiler auf der Seite der Eidgenossen mit, bekamen wie die Mülhauser ein sogenanntes Juliusbanner vom Papst Pius Julius II. Kaum war Maximilian, der oberste Herr im Reich, der die eidgenössische Verbindung der Rottweiler mit schrägen Augen verfolgt hatte, gestorben, schloss Rottweil mit den unterdessen 13 alten Orten am 6. April 1519 einen ewigen Bund, dessen Original im Stadtarchiv von Rottweil noch erhalten ist.

Zwischenfrage: Wo blieben die Rottweiler und Mülhauser an den 700-Jahr-Feiern der Eidgenossenschaft? – Nach der Französischen Revolution versuchte Johann Baptist von Hofer, ein Rottweiler Vater des Vaterlandes, den alten Bund erneut zu beleben; noch auf dem Kongress von Rastatt 1797 vertrat die Schweiz die Interessen der um den Verlust ihrer Selbständigkeit bangenden Reichsstadt. 1802 aber ist Schluss, am 8. September wird Rottweil durch Württemberg okkupiert, am 23. November in Besitz genommen und am 25. Februar 1803 definitiv Württemberg zugesprochen. Die längst in voller Auflösung begriffene Helvetische Republik hatte dazu nichts mehr zu sagen. Immerhin war Rottweil von 1463 bis zu diesem Datum fast halb so lang eidgenössische gewesen, wie die Urschweiz 1991 ihren Bund feiern konnte.

Die kleineren, häufig kurzfristigen Beistandspakte zeigen deutlich, dass aus eidgenössischer Sicht das im 14. Jahrhundert zur freien Reichsstadt gewordene Rottweil für Schaffhausen, St. Gallen, Appenzell ein interessanter Partner war; in der gesamteidgenössischen Politik dagegen hat es kaum eine Rolle gespielt. Ist somit das im Basler Rathaushof aufgemalte Wappen von Rottweil nicht mehr als eine politische Anekdote? Ein Rottweiler Bürger bleibt für die Basler unvergessen. Sein Werk ruft Erinnerungen an eine Zeit wach, als Basel und mit ihm das ganze Elsass durch bedrohliche Zeiten segelte, als neben der habsburgischen Macht gleich zwei weitere Weltmächte der damaligen Zeit sichtbar wurden: die burgundischen Herzöge und der französische König. Es ist zugleich die Konzilszeit, die Armagnaken verheeren das Elsass, an die Mauer des Friedhofes bei der Basler Predigerkirche wird der Totentanz gemalt, und die Pest lässt die Konzilsherren zum Teil panisch aus der Stadt flüchten. Da taucht in Basel „Conrat Witz von Rotwiler der moler“ auf, der ein Jahr nach der Armagnakenschlacht im besten Mannesalter stirbt. Vielleicht hat er auch am Totentanz gemalt, auf jeden Fall vermitteln seine Bilder den luxuriösen Glanz der gleissenden Ritterpracht burgundischen Ursprungs aus dem Herbst des Mittelalters: blanke Rüstungen, kostbarste Gefässe, edle Textilien, Zierat und Schmuck. Es sind die burgundischen Ritter im dezenten Schimmer ihrer Prachtrüstungen, die die Rottweiler selber eine Generation später auf der Seite der Eidgenossen gegen Karl den Kühnen bei Grandson und Murten bekämpften. Rottweil macht mit beim eidgenössischen Söldnerwesen, die Stadt tritt 1521 dem Soldvertrag der Eidgenossen mit dem König von Frankreich, Franz I., bei, bezieht bis ins Jahr 1620 französische Pensionen.

Der Dreissigjährige Krieg überzieht das formell immer noch eidgenössische Rottweil mit all dem grauslichen Elend, unter dem auch das Elsass und die süddeutschen Lande im Unterschied zur behüteten Eidgenossenschaft so entsetzlich zu leiden hatten. Von 1100 Steuerpflichtigen zu Anfang des Krieges bleiben 1666 nur noch 625 übrig. Durchmärsche und Einquartierungen, Kontributionen und Ausplünderungen verheeren das Land und entvölkern die Dörfer. Rottweil bittet vergeblich um eidgenössische Hilfe, es muss sich 1633 dem Herzog von Württemberg beugen. 1643 erobert es der französische Marschall Guébriant, kurz danach fällt Rottweil in kaiserliche Hand. Nach der Einverleibung von Strassburg durch die französische Krone 1681 wird die Rottweiler Gegend wiederholt Kriegsschauplatz, im spanischen Erbfolgekrieg hält dort Prinz Eugen 1713 seine Heerschau gegen die französischen Truppen. Er setzt die Befestigungen wieder instand, Rottweil muss dazu 10'000 Jucharten Wald opfern und nicht weniger als 15''00 Eichen schlagen. Johann Baptist von Hofer kann die städtischen Angelegenheiten in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wieder einigermassen in Ordnung bringen, aber dann kommen die Revolutionskriege, französische Emigranten nisten sich in Rottweil ein, schliesslich wird die Stadt württembergisch.

Ins Bild einer jahrringartig um die alten Bünde gewachsenen Eidgenossenschaft passen die beiden zugewandten Orte Rottweil und Mülhausen nicht recht. Sie muten an wie Nebentriebe. Aber unsere Erinnerung ist alles andere als gerecht: Es waren Eidgenossen, die oft mehr Loyalität aufbrachten, als ihnen die von Soldverträgen lebende Eidgenossenschaft  zukommen liess.

34.    War denn immer Krieg?Nach Oben

Seit 1945 schweigen die Waffen im westlichen Europa. (Und wenn wir heute immer wieder Bilder von kriegerischen Auseinandersetzungen sehen, ist eines gewiss: ein Krieg in seiner modernen Version wäre für Europa das Ende von ungefähr allem.) Man muss sich auf der Skala der europäischen Geschichtsdaten gehörig herumschieben, um 50 Jahre zu finden, in denen kein Waffenlärm herrschte. Zwischen dem Ersten und Zweiten Weltkrieg lagen nur 21 Jahre; zwischen dem Deutsch-Französischen Krieg und dem Ersten Weltkrieg waren es immerhin 43 Jahre – die Zeitgenossen sagten: eine goldene Zeit. Weiter zurück gab es jedes Jahrzehnt Kriege: koloniale, nationale, revolutionäre, Napoleon, Friedrich der Grosse, Louis XIV., den Dreissigjährigen Krieg, Religionskriege, Bauernkriege, die Burgunderkriege. Zwischen Basel und Strassburg wurden durch das späte Mittelalter die zum Teil unendlich grausamen kleinen Territorialkriege mit brennenden Dörfern, vergewaltigten Frauen, abgeschlachtetem Vieh ausgetragen. 50 Jahre lang Frieden, sogar nur kalter Friede, sind – historisch gesprochen – der seltene Glücksfall.

In diesem Sinn herrschte auch im Breisgau, im Elsass und in der Basler Gegend, alle zusammengenommen, oft Krieg. Und das für die Basler bis zur Französischen Revolution friedliche 18. Jahrhundert zeigte mit der französischen Festung Hüningen vor den Toren der Stadt ein unmissverständlich kriegerisches Antlitz. (Heute haben wir Mühe, die Reste dieser Vauban-Festung bei der Durchfahrt zum Spargelessen überhaupt noch zu entdecken.) Jeder Krieg ist in seinen Verästelungen, im ganz persönlichen Leid unüberblickbar und unfassbar. Seine Zeugnissen sitzt man ratlos gegenüber. Friedensliebe und Wille zum Frieden aber tun gut daran, sie nicht zu vergessen oder zu verdrängen.

Er nannte sich German Schleifheim von Sulsfort und wurde vermutlich 1621 oder 1622 geboren in Gelnhausen, einer kleinen Reichsstadt an der Strasse von Hanau nach Fulda gelegen. Schon im Alter von 14 Jahren ist er Pferdejunge oder Offiziersbursche im kaiserlichen Heer, also auf der Seite der durch Wallenstein kommandierten Truppen. Nach dem Krieg heiratet er 1649, wird zuerst Schaffner in einem Dorf des nördlichen Schwarzwaldes, beginnt zu publizieren. 1667 tritt er in bischöflich-strassburgische Dienste und wird Schultheiss der kleinen Stadt Renchen, etwa gleich nahe bei Strassburg wie Offenburg gelegen. Da gibt er nun, noch nicht 50 Jahre alt, seinen grossen Roman heraus, genannt „Der abenteuerliche Simplizissimus“. Sein wirklicher Name lautet Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen.

Das Bühnenbild zu diesem Buch liefert der Dreissigjährige Krieg – ein deutscher und europäischer Krieg, dessen Verstrickungen, militärische Bewegungen und Koalitionen noch heute kaum entwirrbar sind. Er bringt abwechselnd die verschiedensten Teile des Reiches in Unruhe und Not – Böhmen, Thüringen, Bayern, aber auch den Oberrhein, das Elsass und den Schwarzwald. Die Schweiz bleibt ausserhalb, sieht man vom damals fürstbischöflichen Jura ab. Die europaweit verbreitete Meinung, die Schweiz hätte es besser, sei eine verschonte Insel, etabliert sich erstmals und weitet sich zur allgemeinen Vorstellung der Schweiz als eines besonders glücklichen Landes aus. Wenn wir heute vom Sonderfall Schweiz reden, so ist das die Fortsetzung eines Gespräches aus dem 17. Jahrhundert. Bei Grimmelshausen liest sich das dann so: „Die Eidgenossenschaft als das einzige Land, darin der liebe Fried noch grünte. (...) Da sah ich Leute in dem Frieden handeln und wandeln, die Ställe stunden voll Vieh, die Bauernhöf liefen voll Hühner, die Strassen wurden sicher von den Reisenden gebraucht, die Wirtshäuser sassen voll Leute, die sich lustig machten.“

Von Villingen im Schwarzwald aus ist Simplizissimus mit seinem Herzbruder nach Einsiedeln gewallfahrtet. Im Wald von Forchheim, also unterhalb von Breisach, hat Simplizissimus mit dem Strassenräuber Olivier Reisende überfallen und erschlagen. Sein Herzbruder kämpft mit bei der Verteidigung des noch von den Kaiserlichen beherrschten Breisach gegen die Weimarer und Franzosen. Als Soldat oder Marodeur versucht Simplizissimus baslerische Schiffe auszuplündern. Das vierte und fünfte Buch dieses grossen Romanes spielen im Dreiland, da muss auch der sagenhafte Mümmelsee liegen, in dem Simplizissimus in den Mittelpunkt der Erde taucht, wo alle Meere zusammenhängend verbunden sind. Als Geschenk bekommt er einen Stein, der, auf die Erde gelegt, einen Sauerbrunnen erzeugt, also ein Mineralbad, wie man sie in Südbaden und im Schwarzwald immer wieder findet.

Der Schelmenroman zeigt also unseren Raum – warum sagen das die Deutschlehrer nicht? Der Schelmenroman hat einen blutigroten historischen Hintergrund, der sich um die Tragödie des belagerten Breisach verdichtet – warum erzählten das die Geschichtslehrer nicht? Breisach war zu Beginn des Dreissigjährigen Krieges österreichisch, gehörte zum Besitz des Erzherzogs Leopold, wurde dann von Bernhard von Sachsen-Weimar erobert, wurde später die Hauptstadt des jetzt französisch gewordenen Elsass, fiel erst 1714 im Frieden von Rastatt an den österreichischen Kaiser Karl VI. zurück. Der Kampf um Breisach galt schon zu seiner Zeit als die grauslichste Episode dieses Krieges mit einer Hungersnot, die zum Kannibalismus führte. Die ständigen Verheerungen im Breisgau, Elsass, Sundgau liessen das Land veröden, Colmar und Schlettstadt waren schwedische Garnisonsstädte. Zwischen 5000 und 7000 Leute flohen nach Basel, in dem, bei einer Einwohnerschaft von unter 10'000 Seelen, unerträgliche Verhältnisse herrschen mussten. Vermutlich waren sogar die Pestepidemien von 1610/11 und 1629 insofern hilfreich, als ihretwegen wenigstens genug Wohnraum zur Verfügung stand, Basel also Flüchtlinge in einer Höhe von mehr als der halben Einwohnerschaft aufnehmen konnte. War denn immer Krieg? Nein, aber ein Friede von einem halben Jahrhundert war – und ist – ein fast unvorstellbar gnädiges Geschenk.

35.    Das FamiliendenkmalNach Oben

Wo Geschichten zur Geschichte werden, erinnert man sich immer auch an einzelne Personen, Männer und Frauen. Und wo man sich an Personen erinnert, die den Glanz, die Konflikte oder die Tragik einer Epoche besonders deutlich verkörpert, ist man verlockt, der betreffenden Person ein Denkmal zu errichten. Es gibt Denkmal-intensive Zeiten – die ersten zwei Drittel des 18. Jahrhunderts etwa, die Standbilder von zahllosen Fürsten und Feldherren und Königen aufgestellt haben, oder das letzte Drittel des 19. Jahrhunderts, wo kaum eine deutsche Stadt auf ihr Bismarck-Denkmal verzichten mochte.

Das Dreiland am Oberrhein, das politisch kaum je, aber nachbarschaftlich sehr wohl eine Einheit war, hat es da naturgemäss schwieriger, es hat keine Königinnen, Fürsten und Generale im Sinn von Reichsgründern mit Standbildern zu ehren. Bernhard von Sachsen-Weimar (1604-1639) zum Beispiel, der aus dem Elsass, dem Breisgau, der Rheinfelder und der Delsberger Gegend ein Fürstentum zimmern wollte, reüssierte nicht. Man müsste schon Denkmäler für geistige Fürsten aufrichten, für Erasmus etwa, der sich in Basel, in Freiburg, in Strassburg und in Schlettstadt zuhause fühlte, oder für den im Breisgau geborenen, in Basel ausgebildeten und in Strassburg wirkenden Jean Daniel Schoepflin, den Geschichtsschreiber des Elsasses und der Markgrafschaft. Aber für die Könige des Geistes geben die Republiken von heute kein Geld aus.

Freilich ist unser Gedächtnis kurz, wir denken in Jahrzehnten, wenn es hoch kommt in Jahrhunderten. Wie aber, wenn es um ein Jahrtausend geht? Da taucht aus dem Schatten der Geschichte im 10. Jahrhundert ein Graf namens Pirihtilo auf, dessen Sohn und Enkel Birchtilo und dann Bezelin heissen. Schon der nächste Nachkomme wird historisch fassbarer, er trägt jetzt den Namen Bertold. Wir finden ihn um 1060 an der Seite des Gegenkönigs Rudolf von Rheinfelden, des Herzogs von Schwaben, im Jahr 1073 im Gefolge des Kaiser Heinrichs IV. in Italien. Es ist Bertold von Zähringen, genannt nach einer Burg im gleichnamigen nordöstlichen Stadtteil von Freiburg. In die Geschichte geht er als Bertold I. ein, den eigentlichen Begründer eines Herrscherhauses, das während mehr als 100 Jahren über den Breisgau, den Thurgau, Lenzburg, die Reichsvogtei Zürich, aber auch Teile von Burgund, später sogar der Provence und vor allem der heutigen Westschweiz gebot. Es ist eine herzogliche Familie, die den Titel merkwürdigerweise vom Herzogtum Kärnten führte, dessen Herrschaft sie aber nie antrat. Ihr heute lebendigster Ruhm besteht darin, dass dieses Haus durch Konrad 1120 die Stadt Freiburg im Breisgau, durch Bertold IV. die Stadt Freiburg im Uechtland (um 1157) und durch Bertold V. 1191 die Stadt Bern gründete. Am 18. Februar 1218 starb Bertold V. ohne direkte Erben, seine Besitztümer gingen an seine Schwäger die Grafen von Kiburg und von Urach.

Würden die Schweizer von heute in ihrer Geschichte nach einem fürstlichen Haus suchen, so böte sich keine Familie schöner an als die der Zähringer, dieser imposant geschlossenen Sippe, wo der Sohn dem Vater regelmässig (und einmal dem Bruder) in der Würde folgte. Sie schlugen auch die Brücke über den Röstigraben, Schaffhauser, Zürcher, Berner Oberländer, Walliser und Genfer hatten denselben Herrn. Aber eben, das war lange vor 1291. Und die Schweizer hätten dann ein Fürstenhaus, auf das sich auch Teile des heutigen Burgunds und die Breisgauer berufen könnten, und dem sich die späteren Markgrafen von Baden als zugehörig betrachteten. So aber ist, mit Ausnahme von Burgdorf, Bern und Freiburg (im Uechtland), die schweizerische Erinnerung an die Zähringer dünn geworden.

Also fahren wir wieder einmal Richtung Freiburg (diesmal im Breisgau) und nehmen den Weg ins Glottertal. An seinem Ende liegt am Rand einer Hochebene St. Peter, eine mächtige Barockkirche aus dem ersten Drittel des 18. Jahrhunderts mit einem kleinen Dorf gleichen Namens. Dem fast städtisch anmutenden, wie aus einem Baukasten konzipierten Dorfplatz gegenüber führt ein Torbogen in den Vorhof zum einstigen Kloster (heute ein Priesterseminar), linker Hand erscheint die Kirche als eine steile Fassade aus rotem Sandstein, durchzogen von waagrechten Risaliten. Durch die Tür ins Innere: ein heller Raum mit tanzenden Tonnengewölben, viel Weiss, Deckengemälde in pastosen Tönen, golden schimmernde Altäre, auf der Empore im Rücken die mächtige Orgel. Aber dann, vor jeder Säule, auf denen die Langhausjoche ruhen, auf vorspringende Piedestale gesetzt, einzelne Figuren, umflattert von wehenden Mänteln, mit weit ausholenden Gebärden, in den Händen Schwerter oder Szepter oder Schriftrollen. Sie sind ganz in Weiss, muten an wie aus Porzellan, aber ein Saum oder ein blinkendes Schwert ist plötzlich goldig oder silbrig ausgeschmückt. Sie sind lebensgross, ausgespannt in dramatische Gesten, mit wallenden Bärten und gespreizten Fingern: die Herzoge von Zähringen, zwischen 1728 und 1731 gestaltet durch einen jungen Bildhauser namens Josef Anton Feichtmayer.

Es ist eines der merkwürdigsten Familiendenkmäler, vermutlich der Welt. Zum einen ist es praktisch komplett, keiner der Herzoge in der Reihe fehlt. Viele wurden sogar hier begraben, zum Teil unter dramatischen Umständen. Auch Hermann, der älteste Sohn Bertolds I., Graf des Breisgaus und Markgraf von Verona, gestorben 1074, findet sich. Er ging ins Kloster von Cluny und gilt als ein Stammvater der späteren Grossherzoge von Baden. Das Denkmal hat einen politischen Charakter, Hans-Otto Mühleisen sagt es in seinem 1984 neu aufgelegten Kunstführer: „Die Zähringer stehen hier mit deutlich politischer Absicht als Stützen der von ihnen im Mittelalter dem Kloster gewährten Rechte und gegen die Ansprüche des Wiener Kaiserhauses, das eben diese einschränkten wollte.“ Also die Zähringer im Gegensatz zu den Habsburgern! Phantastisch ist zudem die Vorstellung, dass dieses Denkmal mehr als 500 Jahre nach dem Aussterben der Zähringer errichtet wurde, da hat sich die historische Erinnerung einen riesigen Sprung geleistet.

Die Schweizer haben 1991 700 Jahre Eidgenossenschaft gefeiert. Der Bund von 1291 hat mit neun Zehnteln des heutigen Gebietes der Schweiz gar nichts zu tun. Wenn wir aber 1000 Jahre Schweiz feiern wollten, so gäbe es ein herzogliches Haus, das vor 1000 Jahren von Genf bis Schaffhausen, vom Wallis bis über Basel hinaus in der heutigen Schweiz herrschte und residierte, Deutsch und Welsch zusammenführte uns sogar die jetzige Hauptstadt der Schweiz gründete. Vielleicht ist wirklich unsere geschichtliche Erinnerung völlig falsch gewickelt, und es dürften die Schweizer ihre wirkliche Wiege im Dreiland am Oberrhein suchen.

36.    Die Brille auf der NaseNach Oben

Im Mai 1679 plante ihre Allerchristlichste Majestät, der französische König Ludwig XIV., eine Reise von Calais bis nach Dôle in der Freigrafschaft Burgund. Durch den Frieden von Nimwegen hatte er ja von den Niederlanden bis in das früher spanische Gebiet der Freigrafschaft die französischen Grenzen abgerundet, auch das Elsass hatte ihm mit seinen zehn Reichsstädten den Treueeid leisten müssen. Ihm fehlte nur noch Strassburg. Dumm war lediglich, dass der Kurfürst von Brandenburg diesem europäischen Friedensschluss noch nicht beitreten wollte, also verschob der König seine Reise und schickte an seiner Stelle den Minister Louvois auf die Fahrt. Und dieser schrieb dann an den Festungsbauer Vauban, dass der König das definitiv in seinen Besitz übergegangene Hüningen unterhalb von Basel zu befestigen wünsche.

Eine Bedrohung der Basler und Schweizer? Louvois dachte nicht offensiv, sondern defensiv. Er wollte nicht, dass österreichische Truppen, von Rheinfelden kommend, an Basel vorbei über Hüningen Richtung burgundische Pforte vordringen könnten. In seinen Instruktionen stand sogar ausdrücklich zu lesen, dass man diese Festung, die bis jetzt nur aus einer Erdschanze bestanden hatte, nicht gegen die Schweizer baue, mit denen der König auf keinen Fall einen Konflikt riskieren wolle. Hüningen war vielmehr ein strategischer Punkt zwischen Frankreich und dem im Breisgau sowie Fricktal präsenten Österreich; 1633 hatten kaiserliche Truppen dort schon eine Schanze aufgeworfen. Ein wenig gedachten die Franzosen die Basler aber doch zu ärgern, ein französischer Intendant des Elsasses namens Colbert schrieb, dass Stadt und Kanton Basel dank einer solchen Festung etwas sanfter und gemässigter würden, als sie sich gelegentlich aufzuführen pflegten.

Vauban hatte Terminschwierigkeiten; Louvois war am 10. Juni 1679 allein in Hüningen angekommen, wo er die bestehenden militärischen Anlagen besichtigte. Diese waren in einem üblen Zustand. Am 14. August war dann auch Vauban in Hüningen anwesend und untersuchte mit seinem Ingenieur Tarade die ganze Gegend. Zuerst war von einer gewissen Garnison von nur 700 Mann die Rede gewesen, jetzt sprach Vauban plötzlich von 2500 Mann Infanterie und 500 Reitern. Zwei Standorte standen zur Diskussion, Vauban entschied sich für den näher am Rhein gelegenen. Denn es sollte die Festung den Schiffsverkehr von Basel aus beherrschen können. Und warum nicht sozusagen in einem Streich auch die sogenannte Schusterinsel und das rechte Rheinufer in das Festungswerk einbeziehen? Der französische König müsste lediglich bereit sein, dem Markgrafen von Baden das entsprechende Stück Land gegenüber abzukaufen. Und mit den Baslern würde man insofern fertig, als man ihnen reiche Geschäfte für den Bau, den Unterhalt und die Verpflegung in Aussicht stellte. Ende Oktober war die Festung schon im Bau, der Marquis de Puyzieux war zu ihrem Gouverneur bestimmt worden. Basler Händler und Handwerker wurden fleissige Zulieferanten, der Basler Rat bat nur darum, dass das in aller Stille geschehen möge. Denn was da entstand, sah für die Stadt am Rand der Eidgenossenschaft ziemlich bedrohlich aus. In den Augen Vaubans war Hüningen zwar nur eine kleine Festung; für die an die Ausmasse des Spalentors gewohnten Basler aber war die Fortifikation mit ihren bis zu acht Meter hohen Wällen ein Monstrum.

Am 26. August 1681 konnte man die Festung einweihen. Am 8. Oktober war seine Allerchristlichste Majestät Ludwig XIV. in Ensisheim, wo er den Deputierten sämtlicher Kantone huldreich die Hand reichte. Zwei Tage später war er höchstpersönlich in Hüningen, inspizierte alles, und wiederum wünschten ihm die eidgenössischen Gesandten Glück. (Der Basler Stadtschreiber Peter Ochs notierte aus den Akten die Geldgeschenke und hielt unerbittlich fest, wer sie in die eigene Tasche steckte und wer sie den Armen oder an die Schüler auf Burg weitergab.)

Aus diesem Austausch von Komplimenten darf man freilich nicht schliessen, dass die Schweizer den Bau der Festung Hüningen einfach hingenommen hätten. Die Tagsatzung und der Vorort Zürich versuchten alles nur Menschenmögliche, dieses Vorhaben diplomatisch zu verhindern, erstaunlicherweise von Basel nur schwach unterstützt. Denn für Basel – sagen wir es krass – war diese militärische Anlage zwar bedrohlich wie für keinen andern Ort, aber zugleich war sie ein hübsches Geschäft. Die Festung, die der König besucht hatte, war nur ein Anfang; zwischen 1684 und 1687 kam die Rheinbrücke auf die Schusterinsel dazu, von der der obere Zipfel zu Basel gehörte, und dann folgte der Schritt von der Schusterinsel, die früher Frauenwörth, dann Kälberinsel geheissen hatte, auf das rechte Rheinufer und also auf markgräfliches Gebiet. Diesmal reagierte auch Basel empfindlicher, denn diese Ausdehnung der Festung auf beide Seiten kam tatsächlich, um in der Sprache des bayrischen Gesandten bei der Tagsatzung zu reden, dem Aufsetzen einer Brille auf die Basler Nase gleich. Frankreich konnte nun den Schiffsverkehr von den Waldstädten über Basel rheinabwärts nach Belieben kontrollieren. Aber der Markgraf von Baden selber protestierte kaum, und auch der Reichstag in Regensburg fand sich zu keiner einheitlichen Aktion gegen den französischen König zusammen.

In den Vorstellungen der französischen Intendanten für das Elsass und des Gouverneurs hätte sich Hüningen innerhalb der Festung mit einem eigenen Leben füllen sollen. Es war ja eine neue Ortschaft, das alte Hüningen hatte mitsamt seinen zum Teil den Baslern gehörenden Häusern abgerissen werden müssen. Und die alten Hüninger waren weiter aussen neu angesiedelt worden, in einem Neudorf, wie der Name sagte. Aber 1684 gab es in Hüningen erst zwölf Bürgerhäuser. Der offiziell eingerichtete Markt kam nie richtig in Schwung, weil die Bauern den Basler Markt unendlich attraktiver fanden. Zudem zeigte sich jetzt, dass die Soldaten in der Festung von der Grenznähe auf ihre Weise zu profitieren begannen: Deserteure schlüpften nach Basel, wo man ihnen „Unterschlauff“ gab, das heisst sie vor der Obrigkeit verbarg.

Im Krieg zwischen Ludwig XIV. und dem Reich von 1688-1698 blieb Hüningen militärisch weitgehend verschont. Das Festungsstädtchen nahm eine bescheidene Entwicklung, 1697 wohnten rund 500 Personen in Hüningen, jetzt auf gegen 80 kleine Häuser verteilt. Aber es waren arme Leute, „de miserables gens pour la pluspart“. Frankreich war, im Unterschied zur Zeit vor zehn Jahren, militärisch in arge Bedrängnis geraten, der Friede von Ryswick zwischen der französischen Krone und dem Kaiser und Reich enthielt als eine Bestimmung den Abbruch des Vorwerks auf dem rechten Rheinufer. Die stille Hoffnung der Basler, die ganze Festung abreissen zu können, erfüllte sich nicht; der Brille fehlte zwar, von Basel aus gesehen, der rechte Bügel, aber sie blieb auf der Nase sitzen. So blieb es durch das ganze 18. Jahrhundert und bis zum Zusammenbruch des napoleonischen Kaiserreiches, aber das ist eine andere Geschichte.

Guillaume Platt, ein junger Historiker aus Hüningen, hat die Akten so sorgfältig zusammengetragen, und Lucien Kiechel hat ein so gut dokumentiertes Buch darüber verfasst, dass man für einmal von einer wohlgemachten Hausaufgabe sprechen darf.

37.    Fürstenresidenz BaselNach Oben

Welches Fürstenhaus residierte über Jahrhunderte nicht nur in Basel, sondern regierte sein Fürstentum in Krisenzeiten gelegentlich von Basel aus? Es sind die badischen Markgrafen. Markgräflerland, Markgräflerwein, Markgräflerreben und Leute aus der Markgrafschaft – sie gehörten in früheren Epochen enger und intimer zu Basel, als es die Zeit seit den beiden Weltkriegen des 20. Jahrhunderts vermuten lässt. Jacob Burckhardt, der bekannteste Basler Professor, spazierte noch zu Fuss zum Hirschen in Lörrach oder zur Krone in Grenzach, und die badischen Grossherzoge gefielen ihm besser als Bismarck.

Für die obere Markgrafschaft, die alte Hachberg-Sausenbergische Herrschaft mit der Landvogtei Röteln, war Basel seit jeher „die Stadt“, ein selbstverständliches Zentrum, mit dem man sich politisch, wirtschaftlich und auch familiär zu verbinden trachtete. Das beginnt früh. Die Tochter des Walter III. von Klingen, des Gründers des Klingentalklosters, namens Clara verheiratete sich zur Zeit Rudolfs von Habsburg, also in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts, mit einem Markgrafen. Ihr Grab im Klingentalkloster kennen wir noch von Zeichnungen Emanuel Büchels aus dem 18. Jahrhundert. Feststeht auf jeden Fall, dass 1376 und 1379 der Markgraf, wahrscheinlich Rudolf III., verheiratet mit der Erbtochter der Herrschaft von Röteln, in der Basler Augustinergasse, damals Spiegelgasse genannt, zwei Häuser kaufte (Nr. 17 und 19). Es war mehr als ein Pied-à-terre für den Markgrafen; hier sassen noch im 15. Jahrhundert die Richter des Markgrafen zu Gericht, um Klagen zu beurteilen, die die Stadtbürger gegen Markgräfler vorbrachten. Sebastian Brant, ebenfalls ein Bewohner dieser Gasse, hatte kurz vor 1499 dieses Amt inne. 1522 verkaufte Markgraf Ernst diese beiden Liegenschaften an die Artistenfakultät der Universität. Das war der erste Markgräflerhof in Basel, auch wenn er heute den (späteren) Namen „Augustinerhof“ führt.

Der zweite Markgräflerhof in Basel geht auf den Markgrafen Friedrich V. zurück, der 1639 – wir sind in den schlimmen Zeiten des Dreissigjährigen Krieges – die heutigen Liegenschaften Rheinsprung 24 und Martinsgasse 9-15 kaufte. Er erwarb sie von den Edlen von Hagenbach, verkaufte sie aber schon 1686 an die Handelsleute Hans Georg und Peter Ochs weiter, weil er zuviel Ärger mit alten Pfandbriefen hatte. Dafür behielten diese Häuser den Namen „Alter Markgräflerhof“.

Es gab noch einen weiteren Grund für diese kurze Besitzdauer. Denn unterdessen hatten die Basler Pläne der Markgrafen eine andere und wesentlich grössere Dimension angenommen. Der Dreissigjährige Krieg und die Einverleibung des Elsasses in Frankreich mochten es dem Markgrafen Friedrich V. von Baden-Durlach ratsam erscheinen lassen, in Basel über Liegenschaften verfügen zu können, die in Notzeiten geeignet waren, nicht nur die Familie, sondern auch einen Teil der Verwaltung aufzunehmen. Er kaufte 1648 in der Neuen Vorstadt (heute Hebelstrasse) den Bärenfelser- und Eptingerhof, sein Sohn Friedrich Magnus arrondierte den Besitz 1692 durch den Kauf des Brandtmüllerhofes. Damit waren die Markgrafen zu einem der grössten Grundbesitzer im Geviert Neue Vorstadt-Petersgraben-Lottergasse (heute Spitalstrasse) geworden und verfügten über ausgedehnte Gärten, wahrscheinlich sogar mit Reben. Gab es gar einen linksrheinischen Basler Markgräflerwein?

„Burgvogtei“ ist in Basel ein noch immer herumgeisternder Liegenschaftsname, er wird am ehesten mit der Arbeiterbewegung in Verbindung gebracht. Aber er stammt aus ganz anderen Zusammenhängen. Im Niederländischen Krieg von Louis XIV. war 1678 das Rötler Schloss zerstört worden, das dort residierende Oberamt hatte seinen Sitz nach Lörrach verlegen müssen. Zehn Jahre später begann der Pfälzische Erbfolgekrieg, und wieder wütete französisches Militär in Baden. Man musste auch für die eigentliche Verwaltung einen Ausweichort im sicheren Basel suchen. An der Rebgasse war der frühere Hof des Klosters Wettingen zu kaufen, im Auftrag der markgräflichen Regierung erwarb ihn 1686 der badische Rat und Landvogt Reinhard von Gemmingen zur Verfügung der Burgvogtei Röteln. Sie blieb in deren Besitz bis ins Jahr 1798, da die Burgvogtei in das Eigentum eines Basler Eisenhändlers und Gerichtsherrn überging.

Runde 100 Jahre vorher, nämlich 1688 sehen wir den Einzug des Markgrafen Friedrich Magnus mit seiner Gattin Augusta Maria, geborene Holstein-Gottorp, samt Kindern auf der Flucht vor französischem Militär in die neu erworbenen Liegenschaften an der Neuen Vorstadt. 1697 fanden im zünftisch-bürgerlichen Basel wahrhaft fürstliche Festlichkeiten statt: Erbprinz Karl Wilhelm von Baden heiratete Magdalena Wilhelmine von Württemberg, und Eberhard Ludwig von Württemberg heiratete Johanna Elisabeth von Baden – eine Doppelhochzeit zweier Geschwisterpaare. Aber kurz bevor der Vater, Markgraf Friedrich Magnus, nach dem Frieden von Rijswijk ganz offiziell aus dem Basler Exil wieder in seine badischen Länder zurückkehren wollte, brannten seine Basler Häuser in der Nacht vom 23. auf den 24. Februar 1698 nieder, er musste im Nachthemd ins benachbarte Petersstift flüchten.

Friedrich Magnus schritt sofort zur Tat: An Stelle der alten Höfe sollte ein eigentlicher Schlossbau entstehen. Es waren Hüninger Fachleute, Bauunternehmer Augé und Ingenieur Risse, die mit den ersten Arbeiten beauftragt wurden. (Der Bau der Festung Hüningen hatte ein erhebliches bautechnisches Know-how an diesen Platz gezogen.) Baumaterialien kamen zum Teil aus der Markgrafschaft, für die spätere Bauführung und den Innenausbau kamen auch Basler zum Zug. Der Markgraf drückte aufs Tempo, Anfang 1705 konnte er erstmals im neuen markgräflichen Palais Zimmer beziehen. Als eigentlicher Architekt kann der Hüninger Unternehmer Augé nicht bezeichnet werden, da die Pläne mit wenigen Abweichungen einer Publikation des französischen Architekten Augustin Charles Daviler entnommen sind.

Friedrich Magnus konnte sich seines Besitzes nicht lange freuen, er starb 1709; dafür residierte sein Nachfolger Karl Wilhelm gern und oft in Basel. Er benützte den Palast im dubiosen Sinn auch als Absteige – 1720 führte er „drei Kutschen Weibervolk mit sich, welches sich sehr skandalös benahm“. Er arrondierte weiter und baute im Westen eine zusätzlichen Flügel an; fürstliche Verwandte auf der Durchreise waren gern gesehene Gäste. Er war der letzte Markgraf, der auf diese Weise in Basel Hof hielt. Sein Enkel und Nachfolger Karl Friedrich übernachtete zwar noch dort, aber vorher musste der als Schlossverwalter fungierende Rat Herbster die skandalösen Porträts, an denen sich Karl Wilhelm verlustiert hatte, abhängen. Archivbestände, Bücher und Kunstgegenstände wurden im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts sukzessive nach Karlsruhe überführt; in den Revolutionskriegen musste das grosse Haus für militärische Einquartierungen herhalten. Endlich übernahm in der napoleonischen Zeit, nämlich 1807, die Stadt Basel das Gebäude für wenig Geld und richtete es für die Zwecke des Bürgerspitals her.

Wenn das heutige Kantonsspital seine Patienten, Schwestern, Pfleger und Ärzte mit einem ungewöhnlich schönen Garten verwöhnen kann, dankt es das der Grosszügigkeit und Weitsicht des badischen Markgrafen.

38.    Das Schloss verschwand, der Name blieb.Nach Oben

Dörfer, deren Namen auf –ingen enden, sind – darüber ist man sich einige – alemannischen Ursprungs. Sie gehen somit bis in die erste Hälfte des ersten Jahrtausends zurück. Am Oberrhein gegen Basel zu finden wir –ingen-Dörfer auf beiden Seiten des Rheins: Hüningen, Häsingen, Zaessingen, Koetzingen auf dem linken Ufer, Tüllingen, Ötlingen, Haltingen, Efringen, Eimeldingen etc. auf der rechten Seite. Sind sie ein Zeichen dafür, dass die Alemannen dieses Gebiet von Anfang an als eine Übergangszone verstanden und besiedelten?

Sollte also auch das Basel unmittelbar benachbarte und an seine Hafenanlagen anschliessende Friedlingen auf einen alemannischen Fried oder Friedel zurückgehen? Es wäre ein Irrtum über rund 1000 Jahre. Der um die letzte Jahrhundertwende in Hüningen wohnende Karl Tschamber, dem wir auch die Geschichte der Stadt und ehemaligen Festung Hüningen verdanken, hat 1900 im Selbstverlag als einen „Beitrag zur Geschichte der Ödungen im badischen Lande“ eine Monografie über Friedlingen und (das heute nicht mehr existierende) Hiltelingen verfasst und erstmals die erwünschte historische Ordnung geschaffen.

Das auf dem Tüllingerhügel gelegene Dorf Ötlingen hatte einst so etwas wie einen Namensvetter, ein westlich unter dem heutigen Bahnhof Weil am Rhein in der Ebene gelegenes Weiherschloss mit dem Namen Ötlikon, auch Öttelichon oder Ötliken genannt. Es gehörte zur Herrschaft Röteln. Der letzte dieses Geschlechtes vermachte seinem Vetter, dem Markgrafen von Sausenberg, 1315 alle seine Schlösser, Dörfer, Land, Leute und Güter, darunter das Schloss Ötlikon. Es fiel dann, als 1503 auch die Sausenberger ausstarben, an den Markgrafen Christof I. von Baden. Von ihm gingen die Besitztümer der baden-durchlachschen Linie mit denjenigen der hachberg-sausenbergischen Linie und der Herrschaft Röteln auf den Markgrafen Friedrich I. über, der im Dreissigjährigen Krieg auf protestantischer Seite (mit den Schweden und Franzosen) gekämpft hatte und dank dem Frieden von 1648 in Münster und Osnarbrück seine Herrschaften wieder uneingeschränkt übernehmen konnte. Er war es, der im Jahr des Friedensschlusses und aus Dankbarkeit für diesen das Schloss Ötlikon Friedlingen taufte und es zudem in den Rang einer markgräflichen Residenz erhob.

Dieses Friedlingen, das nördlicher als der heute zu Weil am Rhein gehörende Stadtteil Friedlingen lag, war kaum mehr als das Schloss mit einem kleinen Weiler daneben. Neben den Beamten und Bediensteten des markgräflichen Hofes beschäftigten sich dessen Bewohner mit Landwirtschaft, Vieh- und Schafzucht. Es gab zu Anfang des 17. Jahrhunderts gewerbetreibende Knopfmacher, Strumpfweber, Bürstenbinder, Bandweber, einen Bäcker und drei Wirte, aber keinen Metzger. Das Schloss selber war praktisch eine Ruine, der Markgraf Friedrich, der schon 1649 starb, musste es von Grund auf neu bauen. Sein berühmter Enkel Friedrich III., genannt Friedrich Magnus, verbrachte dort 1670 die Flitterwochen mit seiner Frau, der Prinzessin Augusta Maria von Holstein-Gottorp. Von einer Beschreibung aus dem Jahr 1698 können wir uns ein Bild des Gebäudes machen. Es war ein Weiherschloss, ähnlich wie Bottmingen oder Inzlingen, zählte drei Etagen mit nicht weniger als 42 Zimmern, zwei Türme flankierten den Bau auf der Nordseite.

Aber der Friede, den das neue Friedlingen geniessen konnte, war von kurzer Dauer. Im sogenannten Niederländischen Krieg (1672-78) überzog Louis XIV. auch den Oberrhein mit militärischen Aktionen, eigentlichen Raub- und Einschüchterungszügen. 1677 fiel Freiburg in französische Hand; Marschall Créqui, die Generäle Boufflers und Montclar wüteten durchs ganze Oberland, eine Reihe von Schlössern – Hiltelingen, Röteln, Badenweiler, Sausenberg, Rombach und die Hochburg – wurden gestürmt und zerstört. Der französische Kommandant Syffredy legte 200 Mann ins Schloss Friedlingen, holzte sämtliche Obstbäume ab, schlug die Eichbäume im Wald zwischen Kleinhüningen und Basel, demolierte die Häuser des Weilers und zündete die Stallungen an.

Der Friede von Nimwegen setzte dem Elend für kurze Zeit ein Ende, Markgraf Friedrich liess das Schloss Friedlingen wieder instandstellen. Aber dann brach der Pfälzische Krieg aus, in dem Heidelberg zerstört wurde, es folgte der Spanische Erbfolgekrieg, der den sanften Namen Friedlingen als denjenigen eines Kriegsschauplatzes in Deutschland und Frankreich bekannt machte. Gegenüber standen sich auf der Kommandoebene der Marquis de Villars und der Prinz Ludwig-Wilhelm aus der baden-badischen Linie. Und wer siegte? Militärisch keiner von beiden: Die Verbindung der Franzosen mit den sympathisierenden bayerischen Truppen wurde wohl verhindert, aber die Präsenz Frankreichs am Oberrhein auf der rechten Seite blieb bedrohlich; die Festung Hüningen, von der aus das französische Militär über die Schiffsbrücke nach Friedlingen gezogen war, wurde – zum Schrecken der Basler – weiter ausgebaut. Die Verluste auf kaiserlich-badischer Seite sollen 1600 Mann, auf französischer Seite 170 Mann ohne die Verwundeten gezählt haben; das Schloss lag einmal mehr mitten im Kampfplatz und wurde erneut so beschädigt, dass die markgräfliche Verwaltung 1750 den ganzen Besitz verkaufte. Ein Basler, vermutlich Hieronymus Wieland, übernahm das Gut mit seiner Schlossruine in der Mitte.

Karl Tschamber verdanken wir es, dass die Erinnerung an ein noch ganz anderes Schloss Friedlingen nicht völlig verloren ging. Denn 1717 beabsichtigte der badisch-durlachsche Markgraf Karl Wilhelm, der von 1709 bis 1738 regierte, oberhalb des alten Schlosses ein neues Lustschloss zu errichten, das, wäre es ausgeführt worden, nicht weniger als fünf gegeneinander versetzte Baukörper mit zwei Wachhäuschen links und rechts umfasst hätte – eine Anlage von gegen 200 Meter Breite und einer ungewöhnlichen Monumentalität. Es stünde heute auf der nach dem späteren Grossherzog Leopold genannten Leopoldshöhe und hätte mit seinen parallel zum Rhein auseinandergezogenen Gebäudeteilen in einer eleganten Arroganz auf die zusammengepferchte Festungsstadt Hüningen herabgeblickt. Die Pläne waren fertig, das Projekt wurde sogar gerechnet, nur fehlte am Schluss in der markgräflichen Kasse das Geld. Ohne Zweifel hätte es wieder den Namen Friedlingen getragen.

Das neue Friedlingen aber, heute ein Stadtteil von Weil am Rhein, entstand im wesentlichen erst im 19. Jahrhundert als unmittelbarer Nachbar zu Kleinhüningen. Es ist eine Stadt der Eisenbahner und Spediteure geworden, die lebendigste ausländische Vorstadt von Basel, und an Stelle eines Schlosses streben jetzt Industrie- und Verwaltungsbauten über die alten Dächer.

39.    Der Abtransport der HabsburgerNach Oben

Es gibt auch Erinnerungen, die wie verbleichte Schriften kaum mehr zu entziffern sind. Das Jahr 1291 wurde in Basel sicher nicht als ein Schicksalsjahr wegen des Bundes Urkantone empfunden, sondern es war ein Jahr der Trauer. Der einstige Feind und spätere Freund der Stadt, König Rudolf von Habsburg, war gestorben. Für Basler, Elsässer und Breisgauer ist Österreich heute ein dem Balkan benachbartes Land, an der Grenze zu Tschechen, Ungarn, Slowenen und Kroaten gelegen. Verschwunden ist weitgehend die Erinnerung, dass Basel über viele Jahrhunderte von habsburgischen Herrschaftsbereichen fast ganz umgeben war, dass die Stammlande der Habsburger im Elsass lagen, dass das Fricktal und Südbaden vorderösterreichische Lande waren. Nur am Stadttor von Rheinfelden prangt noch das österreichische Wappen. Der österreichische Gesandte bei der alten Eidgenossenschaft residierte in Basel, noch in der Zeit unmittelbar vor der Revolution war er gesellschaftlich ins Basler Stadtleben integriert. Und vor dem Dreissigjährigen Krieg war das heute still vor sich hinschlummernde Ensisheim zwischen Mülhausen und Colmar das von farbigem Leben erfüllte Zentrum der habsburgischen Reichsvogtei und Verwaltung.

Der Rückzug der Habsburger aus ihren vorderen Landen – gemeint ist das Dreiland am Oberrhein – vollzog sich in Etappen und über die Jahrhunderte hin. Mit dem Ende des Dreissigjährigen Krieges ging die elsässische Reichsvogtei verloren, Frankreich rückte an den Rhein vor. Die Kriege Ludwigs XIV. und Ludwigs XV. richteten Zerstörungen im Breisgau und Schwarzwald an, Freiburg war zeitweise französisch. Konfessionelle Gegensätze aus der Reformationszeit überlagerten sich mit politischen Gegensätzen: Die obere Markgrafschaft war reformiert, die kaiserlichen Territorien im Breisgau und Schwarzwald waren katholisch. Ein Kloster wie St. Blasien, das von einem Fürstabt regiert wurde, war somit österreichisch-kaiserlich und habsburgisch gesinnt.

Wo fürstliche Häupter begraben wurden, hatte in früheren Zeiten für die Menschen eine tiefe Bedeutung. Die Vorstellung, dass regierende Häupter und ihre Familien an Orten ruhten, die die Bande zu diesen Herrschaftshäusern zerschnitten hatten, störte die Leute. Herrschende Familien sollten auch im Tod eine Heimat haben. Darum war die Vorstellung, dass einzelne Habsburger in den eidgenössischen Basel und Königsfelden begraben bleiben sollten, unangenehm – das war unterdessen so etwas wie feindliches Land.

Für unser heutiges Empfinden sind das merkwürdige Sorgen. Sie muten eher mittelalterlich an. Aber nun sind wir im Jahr 1770, also schon im Zeitalter der fortgeschrittenen Aufklärung und in den Jahren, da der junge Goethe seine Schweizerreise plante. Da wurde in St. Blasien eine prächtige Schrift von 38 grossformatigen Seiten gedruckt, die folgenden Titel trug: „Feyerliche Uebersetzung der Kaiserlich Königlich auch Herzoglich-Österreichischen Höchsten Leichen aus Ihren Grabstätten Basel und Königsfelden in der Schweiz nach dem Fürstlichen Stift St. Blasien auf dem Schwarzwald den 14. Wintermonates 1770“. (Siegfried Bühler vom Rötler Archiv hat sie mir gezeigt.) Der Bericht umfasst eine detaillierte Schilderung, wie und durch wen diese habsburgischen Familienmitglieder aus dem späten 13. Und 14. Jahrhundert in Basel und Königsfelden aus ihren Gräbern herausgenommen und dann nach St. Blasien überführt wurden. Er verzeichnet biografische Daten für jede einzelne und jeden einzelnen dieser Toten, reproduziert auch die in den Gräbern gefundenen Bleitafeln und gibt im abschliessenden Teil die Predigt oder besser Grabrede wieder, die ein nicht weiter genanntes Mitglied des Kapitulars hielt. Wir erfahren, wer der Promotor dieser Leichenumbettung war, nämlich Fürstabt Martin II., der sich um den Wiederaufbau der vor kurzem abgebrannten Stiftskirche besonders verdient gemacht hatte. Mit der Überführung dieser Leichen bekam die neu erbaute Stiftskirche St. Blasien auch eine Art höhere Würde und Weihe.

Der ganze Vorgang ist von einer erstaunlich zeremoniellen Umständlichkeit altväterischer Natur. Man realisiert beim Lesen des gedruckten Textes plötzlich, wie im gleichen Jahr 1770 die Zeit sozusagen auf zwei verschiedenen Ebenen lief. In Basel quält sich Isaak Iselin mit naturrechtlichen Postulaten, in Strassburg studiert Goethe die Gotik, erfährt seine erste grosse Liebe, das Zeitalter des Sturms und Drangs zeichnet sich ab, in Zürich werden heftige literarische Auseinandersetzungen geführt – aber im waldigen St. Blasien laufen die Uhren noch im Takt der Kaiserin Maria Theresia. Man führt sich allerdurchlauchtigst und kaiserlich-erzherzoglich auf.

Ein komplexer diplomatischer Apparat musste in Bewegung gesetzt werden. Zuerst war das Einverständnis des Wiener Hofes einzuholen. Dann musste der österreichische Resident bei der Eidgenossenschaft, Herr von Nagel, zuerst in Bern vorsprechen, da das Kloster Königsfelden mit insgesamt zehn damals schon gegen 400 Jahre alten Leichen unter Berner Herrschaft stand. Dann nahm sich Herr von Nagel auch die Basler vor, die im Münster über drei Leichen verfügten, nämlich die zweite Gattin König Rudolfs mit dem Namen Anna und ihren beiden Söhnen Hartmann und Karl. Die Basler Ratsdelegation bestand aus den Herren Raillard, Passavant, Rosenburger und Daniel Bruckner, dazu kamen als Ärzte Johann Heinrich Respinger und Johann Jakob Thurneysen. Nachdem man im Kloster Töss im Thurgau trotz der Hilfe von Jakob Breitinger keine illustre Leiche mehr entdeckt hatte, wurden die zum Teil mumifizierten Toten zuerst alle in Klingnau gesammelt. Unterdessen bestimmte der Hof zu Wien den Vorösterreichischen Regierungs- und Kammerrat Freiherren von Wittenbach als Hofkommissar, der für die Überführung der Leichen von Klingnau nach Waldshut und für die Übergabe an Herrn von Nagel verantwortlich war. In Waldshut wurden sie dann von den Stiftsleuten übernommen. In einem in allen Einzelheiten beschriebenen Trauerzug brachte man insgesamt 13 Leichen schliesslich nach St. Blasien, wo sie in einer speziell eingerichteten (und im Bericht abgebildeten) Gruft beigesetzt wurden.

Die höchstrangige Leiche war ohne Zweifel Anna, die Gattin des Königs Rudolf. Ihr Basler Grabmal war im grossen Erdbeben zerstört, dann aber wieder eingerichtet worden. Natürlich war jedermann brennend interessiert, seiner Eröffnung beizuwohnen. Der Bericht sagt, dass sich die Gebeine der Königin nicht nur in guter Ordnung befanden, „sondern auch noch gröstentheils mit einander verbunden, und mit einer braunen Haut, die der Balsamirung zuzuschreiben ist, überzogen. Das Haupt, dessen Mund noch mit einigen weissen Stockzähnen versehen ware, ruhete auf einem grünen Polster.“ Der naturwissenschaftlich interessierte d’Annone vermass die Leiche sogleich, der Bericht vermerkt aber auch, dass von den Beigaben nichts mehr zu finden war. Und das Söhnchen Karl zeigte erst zwei winzige Zähnchen, die Ärzte schätzten sein Alter auf drei Monate.

Somit sind die habsburgischen Gräber in Basel seit über 200 Jahren leer, und Anna ruht mir ihren Söhnen nicht mehr in feindlichem und ketzerischem Boden.

40. Der erste Basler DeutschprofessorNach Oben

Bevor Luthers Bibelübersetzung im deutschen Sprachraum des 16. Jahrhunderts in einer allen Lesern verständlichen Sprache erschien, waren regional abgewandelte deutsche Idiome gang und gäbe. Die Abstufungen zwischen eigentlichen Dialekten, angenäherten regionalen Sprachformen und höfischen Kanzleisprachen waren noch kaum definiert. Es brauchte zuerst die Arbeit der deutschen Schriftsteller des 17. Jahrhunderts mit ihren Theaterstücken und Romanen, dann im 18. Jahrhundert diejenigen der Literaten und Gelehrten, um Schritt für Schritt eine eigentliche, für den ganzen Sprachraum verbindliche Hochsprache zu schaffen. Das ging nicht ohne zum Teil heftige Auseinandersetzungen, die ihren Grund auch darin hatten, dass es – anders als in Frankreich – kein den ganzen Sprachraum dominierendes Zentrum gab.

Die Schweizer, die sich militärpolitisch 1499 vom Reich distanziert hatten und deren Reichsunabhängigkeit 1648 völkerrechtlich anerkannt worden war, hatten noch ein besonderes Problem insofern, als der Unterschied des gesprochenen Alemannischen zur schriftdeutschen Hochsprache immer offensichtlicher wurde. Alemannisch sprach man, Hochdeutsch schrieb man. Ein sehr gebildeter Mann wie der Rektor des Basler Gymnasiums, Thomas Platter, beachtete in seinen deutschen Briefen um die Mitte des 16. Jahrhunderts diese Unterscheidung noch kaum, er schrieb beides durcheinander. Aber 200 Jahre später hatten sich die Hochsprache und der Dialekt eindeutig getrennt.

Sprachgeschichtlich war das eine aufregende Sache, freilich musste man sie zuerst einmal sehen und sich dann mit ihr beschäftigen. Und wie machte man das? Nun eben systematisch, nach Art der humanistischen Gelehrten oder der französischen Akademiker, also mit einem Lexikon. In der Gelehrtensprache wurde ein solches Idioticon genannt und im einzelnen liest sich das so:

Bastand für tüchtig, fähig, der im Stande ist. Mit Verwunderung findet man dis Wort auch im Kanzleyschriften und Gesätzen.

Funke m., Socke, Leinschuh, Chausson. Fünkli Söcklein, socculus.

Gepse f., flaches hölzernes Geschirr, worinnen man die Milch aufbehält.

Pfluten, eine Gattung Teigklösse, die nur halbgeprägelt genossen werden.

Wir sind ziemlich genau in der Mitte des 18. Jahrhunderts. Da sitzt in Basel an einem grossformatigen Manuskript von über 220 handschriftlichen Seiten ein Gelehrter und sprachlich beschlagener Mann, der den Studenten gutes Deutsch beibringen will. Darum achtete er auch auf die Unterschiede von Hochsprache und Dialekt. Er hat Grosses vor: er möchte dieses Lexikon drucken lassen und sucht Subskribenten. Offenbar hat er keine gefunden, denn das dem Manuskript auf der Basler Universitätsbibliothek beiliegende Subskriptionsformular ist leer.

Johann Jakob Spreng wurde 1699 geboren. Sein Vater war zuerst Schulmeister in Mülhausen, wurde dann Schreib- und Rechenmeister am Basler Gymnasium auf Burg. Der Sohn studierte Theologie, wurde 1721 ordiniert und wirkte zuerst als Erzieher bei einem bernischen Landvogt. Schon früh begann er zu dichten, widmete Kaiser Karl VI. ein Sonett, erhielt dafür die Anerkennung als poeta laureatus, also gekrönter Dichter, sowie ein Familienwappen mit einem im vollen Sprung begriffenen Pegasus. Als Pfarrer trat er in Süddeutschland verschiedene Stellen an, bis er 1741 auf eigenen Vorschlag an der Universität Basel die erste germanistische Professur erhielt. Im Kontakt mit den literarischen Grössen seiner Zeit, also Gottsched, Opitz, Flemming, Brockes, Haller, sah er seine Aufgabe darin, das mit Dialektspuren durchsetzte Deutsch der jungen Basler zu säubern. Die Regenz der Universität konnte 1745 bezeugen, dass seine Arbeit „nicht ohne Seegen, und davon bereits ziemliche Früchte beobachtete worden“. (Vielleicht hätte er auch das Deutsch der Regenz im Auge behalten müssen.) Die Stelle nährte ihn freilich nicht, so musste er neben der Professur sein Brot als Pfarrer des Waisenhauses verdienen.

Die deutsche Dichtkunst – wohlverstanden vor Goethe, der erst in den Windeln lag – war damals von der philosophisch befrachteten englischen Literatur beeinflusst. Daneben wirkte Frankreich ein, etwa auf Wieland. Im Kreis um Spreng diskutierte man heftig die Selbständigkeit der deutschen Literatur. Auf Ermunterung Sprengs schrieb Albrecht von Haller sein langes Gedicht über die Alpen, das durch ganz Europa Furore machte. Ein anderer Freund Sprengs, der badische Hofrat Karl Friedrich Drollinger, schickte Spreng jeweils seine Gedichte zur Korrektur, damit er sie von süddeutschen und schweizerischen Provinzialismen reinige. Spreng gab Drollingers gesammelte Gedichte nach dessen Tod 1743 heraus, nicht ohne sie pedantisch überarbeitet zu haben.

Selber dichtete Spreng auch und machte sich gleich an eine Riesenaufgabe, nämlich eine Nachdichtung der Psalmen Davids. Davon inspiriert dichtete er auch „Kirchen- und Hausgesänge“. Der Rat wollte die Psalmenbearbeitung offiziell einführen, aber die Pfarrkollegen schätzten die auf Glätte bedachte Neubearbeitung Sprengs überhaupt nicht. Nur am Gymnasium versuchten die Schüler sie zu singen. Mit den eigenen Produkten, den „Geistlichen und weltlichen Gedichten“ von 1748 hatte Spreng nicht viel mehr Glück – von heute aus gesehen zu Recht.

Und doch hat Spreng grosse Verdientes. Er gründete die „Basler Deutsche Gesellschaft“, die sich im Literaturstreit zwischen Gottsched und den Zürchern Bodmer und Breitinger auf die Seite Zürichs schlug. Mit Bodmer überwarf er sich freilich, da er sein pedantisches (und für unser Urteil törichtes) Korrigieren nicht lassen konnte. Spreng gab auch Zeitschriften heraus, „Sintemal“ hiess die eine, „Der Eidgenoss“ die andere. Als er eine Professur für Schweizergeschichte erhielt, liess er seinem polemischen Bedürfnis freien Lauf, zog sich den Tadel des Rates zu und musste erleben, dass eine seiner Publikationen auf den päpstlichen Index gesetzt wurde.

Das alemannische Wörterbuch war nicht das einzige Lexikonprojekt. Er plante schon, was wenige Generationen später die Brüder Grimm verwirklichten: ein historisch-kritisches Wörterbuch. Es blieb unvollendet. 1762 wurde er noch Griechischprofessor, 1768 starb er an einem Schlaganfall.

Seine Gedichte haben ihm keinen Nachruhm beschert. Sein wohl wichtigstes Werk, das alemannische Wörterbuch, liegt ungedruckt auf der Universitätsbibliothek, wo Siegfried Bühler vom Rötler Burgarchiv sich eine Kopie gemacht hat. Dank Peter Ochs, Jacob Burckhardt und Rudolf Wackernagel ist das 19. Jahrhundert in Basel kein poetisches, sondern ein geschichtsschreibendes Jahrhundert geworden. Aber untergründig, mit Johann Peter Hebel und sogar Jacob Burckhardt selber, doch auch eine Zeit der Mundartdichtung. Da hat der zu seinen Lebzeiten als „gschpässig“ geltende Johann Jakob Spreng ganz anders nachgewirkt, als er selber vorhatte.

41.    Die Faust im NackenNach Oben

Sire, sagte der Festungsbauer Vauban zu seinem König, der einzige Platz für eine aussichtsreiche Verteidigung des Elsasses ist Hüningen. Und Ludwig XIV. befahl 1679 den Bau dieser Festung. Die alten Hüninger wurden umgesiedelt, ein Teil zog ins Neudorf, andere gründeten etwas weiter westlich St. Louis. So sahen sich die Basler plötzlich hohen Festungswällen mit bewachten Toren gegenüber und lasen eine Inschrift, die ihnen Angst und Schrecken versprach.

Militärisch machte Hüningen als Festung in der Auseinandersetzung zwischen Frankreich und dem Kaiser durchaus Sinn. Im Herbst 1702 setzten die Franzosen nach Friedlingen über, schlugen dort die kaiserlichen Truppen und zwangen sie auf die Anhöhen zurück. Basel hörte Schlachtenlärm. Noch bedrohlicher dröhnte er 1709, als der kaiserliche General Mercy um Basel herum in den Sundgau einfiel. Hatte Basel gar die Neutralität verletzt? Frankreich setzte den andern Hebel, den es gegen die Stadt in der Hand hatte, in Bewegung: es verhängte ein Embargo. Die Einkünfte aus dem Elsass wurden blockiert, es gab kein Korn und keinen Wein mehr. Ein neuer Streit kam 1736 auf: Die Basler und Hüninger konnten sich nicht einig werden, wer beim Einfluss der Wiese Lachse fangen durften. Es kam zu Tätlichkeiten, wieder sperrte Frankreich militärisch den Warenverkehr. 1741 liess Ludwig XV. die Brücke neben der Festung neu errichten, in der Folge wurde bei Rheinfelden, Stetten und Weil gekämpft. Der Frieden von Aachen stellte 1748 die Ruhe wieder her.

Sie hielt an bis in die Revolutionszeit. Zwischen Basel und der Festung Hüningen ergab sich ein  merkwürdig nachbarschaftliches Leben. Der Läufelfinger Pfarrherr Markus Lutz, ein Anhänger des Peter Ochs, beschreibt es so: „Während der Sommermonate besuchten viele baslerische Bürger die Hüninger-Gasthäuser zu ihrer Erholung; auch hielten die verschiedenen in französischem Solde befindlichen Schweizer-Regimenter in dieser Festung so geheissene Werb-Depots, die manchen jungen Bürger lockten.“ Was man von den baslerischen Schlitten- und Tanzfahrten weiss, waren die königlichen Offiziere für die Damenwelt von beachtlicher Anziehungskraft. Das Tanzen war in Basel reformatorisch streng geregelt; in Hüningen galten andere Sitten und Gesetze. Doch nach wie vor konnten jederzeit seine Kanonen ihre Bomben bis auf die Rheinbrücke schiessen.

Dann kam die Revolution in Frankreich, die im Sundgau und Elsass zu heftigen, gegen den alten Adel und die Juden gerichteten Ausschreitungen führte. 1792 erklärte die Nationalversammlung Österreich und dem König von Böhmen sowie Ungarn den Krieg. Basel bat die Eidgenossenschaft um Hilfe vor militärischen Verwicklungen, abwechselnd schickten die Kantone sogenannte Repräsentanten. Die nunmehr republikanische französische Armee verstärkte die Besetzung von Hüningen, ein grosses Lager entstand daneben in Häsingen. Es war eine andere Soldateska als vorher; beide Seiten hatten ihre liebe Mühe, Zwischenfälle zu verhindern. Im Sommer 1796 begannen zuerst die Artillerie-Duelle über den Rhein zwischen Hüningen und Weil sowie Haltingen, dann setzten französische Truppen über den Strom, die Österreicher warfen sie wieder zurück. Im Winter 1796 setzten die Österreicher – vergeblich – zum Sturm auf die Schiffsbrücke und die Festung an. Die Kämpfe waren verlustreich, der französische General Abbatucci, dessen Denkmal in Hüningen früher auf dem Areal der heutigen Ciba-Geigy stand, fiel dabei. In Kleinhüningen halfen Basler Ärzte den Verwundeten. In der Nacht vom 31. Januar auf den 1. Februar 1797 fanden die heftigsten Kanonaden statt, schliesslich boten die Franzosen die Kapitulation des Brückenkopfes auf der rechten Rheinseite an. Dieser wurde in der Folge geschleift.

1798 wurde die Schweiz von den Franzosen besetzt. Militärisch rückte Frankreich nicht von Hüningen, sondern vom Waadtland aus ins Mittelland vor. Aber Basel, als helvetischer Kanton mit Frankreich verbündet, musste sich zahlreiche Durchzüge gefallen lassen. Der Krieg verlagerte sich dann ostwärts, Wien fiel, 1805 konnten die eidgenössischen Truppen in Basel abgedankt werden.

1809, Napoleon ist jetzt Kaiser, kündigt sich der nächste Krieg an, in Hüningen wimmelt es von Soldaten. Am 11. März verlangen sie den Durchzug durch Basel und passieren darauf mit insgesamt 20'000 Mann die Stadt. Napoleon will wieder eine Brücke bei Hüningen bauen lassen, sein Aussenminister Talleyrand verlangt die Abtretung des baslerischen Teils der Schusterinsel. Dann zieht Napoleon nach Russland, muss umkehren, in der Völkerschlacht von Leipzig wendet sich sein Geschick. Bald stehen der Kaiser, der Zar und der König von Preussen am Rhein, die alliierten Truppen ziehen vom Kleinbasel her über die Mittlere Brücke, das Hauptquartier der drei Monarchen wird von Freiburg nach Basel verlegt. Die eigentliche Belagerung von Hüningen beginnt, der Kanonendonner wird lauter. Napoleons erste Absetzung führt zur Übergabe der Festung am 14. April 1814 an das österreichisch-bayerische Belagerungscorps.

Die Verfassung, in der sich die Bewohner von Hüningen befanden, war jämmerlich; die Basler brachten Brot, Gemüse, Fleisch und Früchte in die Stadt. Am 24. April wird Ludwig XVIII. als neuer Festungsherr proklamiert. Dann aber kommt Napoleon für 100 Tage zurück, und sofort erklärt sich die Garnison für napoleonisch, zieht die Trikolore auf. Der General Rapp zieht ein, abermals wird die Festung aufgerüstet, auch gegen Basel. Und Basel rüstet gegen Hüningen auf. Es ist jetzt Frontstadt geworden, der schweizerische General Bachmann sammelt Truppen für den Einmarsch nach Frankreich. Bereits wird in der ganzen Zone um Basel gekämpft, in Burgfelden, Hegenheim, Häsingen, Blotzheim. Erzherzog Johann von Österreich leitet die Belagerung persönlich, zum ersten Mal feuert die Festung direkt auf Basel, allerdings ohne grosse Wirkung. Der französische Kommandant Barbanègre droht mit weiteren Beschiessungen, verlangt sogar Schadenersatz von Basel. Er weiss aber nicht mehr recht, ob er napoleonische oder bourbonisch gesinnt sein soll. Zürcher Artilleristen helfen bei der Beschiessung von Hüningen. Am 24. August steigt die weisse Fahne, die die Kapitulation ankündigt; am 26. August 1815 ist es soweit. Noch 1800 Mann sitzen in der Festung, sie werden beim Auszug entwaffnet, doch die Offiziere dürfen den Degen behalten.

Und jetzt ist es mit der Festung Hüningen vorbei. Der Vertrag von Paris hält es ausdrücklich fest: Die Befestigungen von Hüningen werden dem Erdboden gleichgemacht, so dass sie nie mehr wieder aufgebaut werden können. Die Sache war nicht billig, die Sprengung brauchte 800 Mineure, 200 Bauarbeiter und 400 Handlanger. Ausgegeben wurden insgesamt 198'268 Franken. Ein Besucher aus dem Jahr 1816 schrieb: „Es bleibt nichts oder fast nichts von Hüningen, und ich hatte Mühe, überhaupt einen Weg durch die Ruinen zu finden, um auf den Platz zu gelangen, der in der Mitte dieser kleinen Stadt liegt. (...) Die Bevölkerung von Hüningen setzt sich nun aus ein paar hundert Unglücklichen zusammen, die, da sie weder Brot noch Arbeit haben, vermutlich zum Schmuggel oder zum Diebeshandwerk verdammt sind.“ Im Mai 1817 waren die letzten Aufräumarbeiten abgeschlossen. Die Faust im Nacken der Basler war verschwunden.

42.    Der LandesvaterNach Oben

Die Markgräfin Magdalena Wilhelmine, eine geborene Württembergerin, wusste von ihrem Mann, dem regierenden Markgrafen Karl Ludwig, offiziell viel Rühmliches zu sagen. Aber wenn sie an seine Lebensführung im benachbarten Basel dachte, zog sich ihr das Herz zusammen und wurden ihre Worte heftig. Denn der Markgraf, den 1738 der Tod mitten im Umbau des Markgräfischen Hofes an der Neuen Vorstadt in Basel, der heutigen Hebelstrasse, ereilte, benütze diesen Palast für reichlich unappetitliche Vergnügungen und hatte ganze Zimmer und Korridore mit Bildern von nackten Damen ausgeschmückt. (Letzte Muster dieser Sammlung lassen sich heute noch im Basler Kunstmuseum besichtigen.) Da die Schwiegertochter der Markgräfin gemütskrank war und ihr Sohn, der markgräfliche Erbprinz Friedrich schon 1732 gestorben war, übernahm sie selber die Erziehung des 1728 geborenen Enkels Karl Friedrich, aus dem sie bis zu seiner Volljährigkeit einen an Kopf und Herz christlich gebildeten und in seinen Sitten verantwortungsvollen Menschen machen wollte. Das gelang ihr, und sie erlebte noch die Genugtuung, dass ihr 23jähriger Enkel 1751 mit Karoline Louise Prinzessin von Hessen eine Ehe einging, die eine glückliche wurde.

Die Markgrafschaft Baden hatte somit 1748 einen neuen Landesvater, den Markgrafen Karl Friedrich, der bis 1811, also bis ins Alter von 83 Jahren, und insgesamt 62 Jahre über die Markgrafschaft herrschte und am Ende seiner Laufbahn deutscher Kurfürst und Grossherzog geworden war. Das wäre noch heute als Regierungszeit rekordverdächtig; den Leuten in der Markgrafschaft, den Elsässern, Mömpelgardern, Württembergern und Baslern kam es damals unglaublich und fast wie ein Wunder vor. Denn die Zeitspanne, da Karl Friedrich als Landesvater in Durlach und Karlsruhe sass, war ja nicht die gemütlichste.

Erst regte sich Preussen unter Friedrich dem Grossen, Maria Theresia, die noch Herrscherin im Breisgau war, geriet in Bedrängnis, mit dem benachbarten Haus Württemberg gab es viel Streit. Dann kam die Französische Revolution, Franzosen marschierten in der Markgrafschaft ein, die Koalitionskriege überzogen das Land. Dann tauchte Napoleon auf, die Territorialverhältnisse im ganzen Deutschen Reich veränderten sich dramatisch. Badische Landeskinder mussten bald mit dem österreichischen Kaiser gegen Franzosen, bald auf Seiten Napoleons gegen die Alliierten in die Schlacht ziehen, manchmal wussten die Leute nicht mehr, auf welcher Seite sie eigentlich standen. Das merkt man noch heute den Geschichten Johann Peter Hebels aus dem „Rheinischen Hausfreund“ an, wenn in ihnen Husaren, französische Offiziere, badische Soldaten auftreten – wer kämpft nun eigentlich gegen wen? Es herrschte seit den Koalitionskriegen mit dem revolutionären Frankreich bis zum Vordringen Napoleons nach Russland ein heilloses Durcheinander; Krieg war eigentlich immer und überall, auch in der Schweiz.

Umso erstaunlicher, wie das Bild des Markgrafen Karl Friedrich mit einem geradezu friedlichen Glanz über diesem Land Baden schwebte, und gelegentlich gewinnt man noch heute den Eindruck, sein Leuchten sei nicht ganz erloschen. Dabei veränderte sich der Staat, den Karl Friedrich antrat, im Lauf seiner Regierungszeit auf fast unvorstellbare Weise. In seinen ersten Jahren regierte er über knapp 90'000 Untertanen, am Ende seiner Regierungszeit war nicht nur das Territorium des dannzumaligen Grossherzogtums Baden rund neunmal so gross geworden, sondern auch die Bevölkerung war auf nicht weniger als 930'000 Einwohner angewachsen.

Karl Friedrich war das Muster eines aufgeklärten Landesvaters. Er wollte regieren über ein „freies, opulentes, gebildetes und christliches Volk“. Was verstand er unter frei? Dass seine Untertanen nicht länger Leibeigene sein sollten, also hebt er 1783 die Leibeigenschaft auf – übrigens sieben Jahre früher, als das die Basler  mit den Bewohnern der Landschaft tun. Und die alten Rechte seiner Städte und Dörfer will er sorgfältig bewahren. Was versteht er unter opulent? Wirtschaftliches Wohlergehen, also kümmert er sich ganz persönlich um neue Saatkartoffeln und bessere Obstsorten, fördert den Weinbau und die Rinderzucht, installiert die von Franklin erfundenen Blitzableiter und lässt für die Seidenraupenzucht Maulbeerbäume pflanzen. (Von da die vielen Maulbeerbäume am Oberrhein.) Er will Industrien einrichten helfen, zieht einen englischen Ingenieur bei, der eine Ingenieurschule aufbauen soll. Damit er über ein gesittetes Volk regieren kann, gründet er, ähnlich wie Isaak Iselin in Basel, schon 1765 eine „Gesellschaft zur Beförderung des gemeinen Besten“, richtet Lehrerseminare ein, so dasjenige von Lörrach, und eine Lateinschule in Müllheim. Er wendet sich direkt an den damals führenden Pädagogen Basedow in Dessau, korrespondiert mit Lavater in Zürich. Jean Daniel Schoepflin beauftragt er mit einem Geschichtswerk über Baden. Den Dichter Klopstock will er an seinem Hof ansiedeln; mit Herder korrespondiert er über ein „Institut für den Allgemeingeist Deutschlands“, eigentlich eine gesamtdeutsche Akademie. Christlich soll sein Volk sein, also achtete er auf das Kirchenwesen und den religiösen Unterricht. Nachdem die katholischen baden-badischen Lande infolge eines Erbvertrages an sein protestantisches baden-durlachisches Haus fallen, erstreckt sich sein christliches Herrschen sogar über zwei Konfessionen. Schliesslich ist er es auch, der Johann Peter Hebel in sein kirchliches Amt nach Karlsruhe beruft.

Es ist ganz ungewöhnlich, dass ein deutscher Fürst des 18. Jahrhunderts so lange regierte und dennoch in den Berichten der Zeitgenossen kaum Kritik, geschweige denn Anfeindungen, Schmähungen und boshafte Bemerkungen hinterliess. So darf man die Verse, die der von Goethe bewunderte Johann Peter Hebel ihm widmete, nicht so sehr als höfische Schmeichelei, sondern als Ausdruck einer wahren Verehrung verstehen:

O wär er do, o chönnt er’s seh,

der liebi Fürst, Gott het en geh!

Er isch so gnädig, isch so guet,

‚s wird Wohltat, was er denkt und tuet.

„Du Gott im Himmel, sei sein Lohn,

und schirme seinen Fürstenthron.“

Der Titel dieses Gedichtes lautet: „Der Ehrentag Carl Friedrichs, Markgrafen zu Baden, nach Aufhebung der Leibeigenschaft, den 23. Juli 1783, gefeiert im Oberland“.

43.    Basler Kapital fürs HinterlandNach Oben

Von der natürlichen Geländebeschaffenheit her ist das Wiesental so gut ein Nebental zum Rheintal wie das Ergolz- oder Birstal. All diese Wasser fliessen ja ober- oder unterhalb von Basel in den Rhein. Aber die Politik hat in einem halben Dutzend von Jahrhunderten dafür gesorgt, dass die Ergolz und die Birs basellandschaftliche und jurassische Gewässer sind, somit schweizerisch wurden, wohingegen die Wiese, nach Hebel des Feldbergs liebliche Tochter, heute ein badisches und bundesdeutsches Gewässer ist. Nationalstaaten haben eben Grenzen, und Basel trägt sein Schicksal, als grosse Schweizer Stadt so weit hinausgeschoben zu sein, dass ihr Vorgelände zu zwei Dritteln im Ausland liegt, seit langem geduldig.

Das Wiesental selber teilt sich nicht nur geografisch, sondern auch geschichtlich in zwei Teilstücke auf, in das obere und untere Wiesental. Das untere war markgräflich; das obere, während langer Zeit unter der Hoheit des Fürstabtes von St. Blasien stehend, vorderösterreichisch, also habsburgisch. Das hiess auch, vom 16. bis ins 18. Jahrhundert, dass das untere Wiesental protestantisch, das obere katholisch war. Dazu kam noch ein Faktor, den wir als Orientierung bezeichnen können: das untere Wiesental war nach Basel orientiert; das obere Wiesental war mit Schönau und Todtnau über Bernau nach St. Blasien und über Kirchzarten nach Freiburg orientiert.

Die Wirtschaftsgeschichte vom 15. bis 18. Jahrhundert entwickelt sich in mitteleuropäischen Verhältnissen in der Regel aus dem Zusammenspiel der städtischen Zunftwirtschaft mit der ursprünglich agrarischen Wirtschaft des Hinterlandes. Nimmt man grosse Städte wie etwa Zürich oder Basel, so ist dieser Dialog zwischen dem städtischen Zunftregiment und dem sich bald einmal gewerblich organisierenden Bauernland meistens auch eine Auseinandersetzung um Herrschaftsrechte. Im heutigen Zürich waren neben den Städten Zürich und Winterthur Orte wie Uster oder Stäfa landwirtschaftlich-gewerbliche Gegenzentren, die sich wirtschaftlich und politisch zu behaupten suchten. Nimmt man dagegen Basel, fehlen solche Gegenzentren im wirtschaftlichen Sinn. Denn das Baselbiet wurde mit seinen gewerblichen Fähigkeiten schon früh von den Basler Seidenbandherren so dicht mit einem Verlagswesen überzogen, dass gewerbliche oder frühindustrielle Gegenzentren nicht aufkamen. Und als reines Bauernland zählte es, verglichen etwa mit dem Elsass oder Breisgau, nicht zu den ertragreichsten. Darum wurde die Auseinandersetzung zwischen Stadt und Land eine vorwiegend politische; wirtschaftliche Motive waren weniger zwingend.

Wenn man den sehr unterschiedlichen Gang der Auseinandersetzung Stadt/Land in Zürich und Basel beobachtet und dann zum Schluss kommt, dass er für die heutige Struktur dieser Kantone verantwortlich sei, hat man aus einem nationalstaatlichen (und somit kantonalen) Gesichtspunkt recht, aber man sitzt auch einem Perspektivfehler auf: man vergisst einfach das nach Basel hin orientierte Wiesental. Herrschaftsrechte und Grenzverläufe spielten dort zwischen der (eidgenössischen) Stadt und dem „markgräflich/vorderösterreichischen) Land zwar eine gewisse Rolle, sie waren seit dem späten Mittelalter bis ins Zeitalter Napoleons stabil, aber wirtschaftlich kam es zu mächtigen Bewegungen.

Eine Reihe von Voraussetzungen bestimmte das Geschehen. Zum einen verfügten die Basler schon seit alters über akkumuliertes Kapital. Dieser Kapitalreichtum kam auch davon, dass die Basler Schatztruhen während des Dreissigjährigen Krieges verschont geblieben waren. Zum andern lieferte die Naturalwirtschaft des Wiesentals vor allem Holz aus dem hinteren Talabschnitt für Bauzwecke, Holzkohlegewinnung und als Brennholz. Eine Zeitlang, besonders im 15. und 16. Jahrhundert, blühte in der Todtnauer Gegend das Bergwerkswesen, das Silber und Eisen abbaute und verhüttete. Aus dieser Naturalwirtschaft entwickelten sich erste gewerbliche Betriebe, Nagelschmiede und Kettenmacher aus dem Bergbau, aus der Waldwirtschaft die sogenannten Holzschnefler, die landwirtschaftliche Geräte und Gefässe aus Holz, auch Schindeln herstellten. Eine Besonderheit bis ins 19. Jahrhundert hinein waren die Bürsten aus dem Wiesental mit Schweinsborsten, Pferde- und Ziegenhaaren, pflanzlichen Fasern, in familiären Kleinbetrieben hergestellt und durch Hausierer vertrieben. Der wichtigste Mark für diese Produkte lag immer in Basel und in der übrigen Schweiz. Eine weitere Voraussetzung für die Wiesentaler Wirtschaft war der Reformwille des Markgrafen Karl Friedrich, der das Oberland und besonders das Wiesental gewerblich und industriell auf jede denkbare Weise zu fördern suchte.

Dann kommt in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts die Textilindustrie auf, zuerst in Form einer Heimindustrie vor allem im oberen Wiesental, wo sich in jedem Bauernhaus die Spinnräder drehen, im unteren Wiesental bereits in der Gestalt von Manufakturen. Die Baumwolle ist der neue, international gehandelte Rohstoff, aber auch einheimischer Hanf und Flachs werden verarbeitet. Es ist ein Berner, Johann Friedrich Küpfer, der 1753 das Privileg zur Errichtung einer Indiennefabrik in Lörrach erhält. Zum Bau einer Fabrik braucht man Geld, jetzt ist das Basler Kapital gefordert. Über die nächsten 120 Jahre ergiesst sich ein investitionshungriger Geldstrom aus der Stadt, alle in der Textilwirtschaft liegenden Möglichkeiten werden ausprobiert – das Spinnen, Weben, Färben, Bleichen, und aus dem in der Revolution kriegsversehrten Lyon kommen französische Seidenarbeiter ins Tal. Die kaufmännisch kompetente Stadt kann ihre Handelsbeziehungen für den internationalen Absatz der Produkte zur Verfügung stellen. In der Lebenszeit seines Dichters Johann Peter Hebel wird das Wiesental somit zu dem am stärksten industrialisierten Teil des Grossherzogtums Baden, sogar ganz Deutschlands.

Eine Dissertation von 1935 von Richard Dietsche aus Zell, genehmigt auf Antrag des damals frisch nach Basel berufenen Edgar Salin, stellt die Fakten dieser Entwicklung exakt zusammen. Wirtschaftlich steht das Wiesental zu Basel in einem ähnlichen Verhältnis wie die Gegend von Uster zu Zürich, es spielen die gleichen Gesetzmässigkeiten. So gehen zum Beispiel die Anfänge der Maschinenindustrie auf Reparaturwerkstätten für englische Textilmaschinen zurück. 1836 eröffnet der Basler Louis Merian im wiesentälischen Höllstein sein „Atelier“ und erklärt sich sogleich bereit, auch „grössere Bestellungen in angemessener Zeit“ auszuführen. Er giesst sogar Roheisen, das ihm die staatlichen Eisenwerke in Kandern und Hausen liefern. Als Kapitalgeber für die Wiesentäler Industrie tauchen immer wieder Namen auf, die für Basler Ohren familiär vertraut klingen.

Erst der Beitritt Badens zum deutschen Zollverein und dann 1871 zum Deutschen Reich hat durch diesen einheitlichen Wirtschaftsraum Zoll- und Währungsgrenzen gezogen und die ökonomische Symbiose des Wiesentals mit Basel aufgetrennt. Sollten sie in einem europäischen Wirtschaftsraum dereinst dahinfallen, so kann man sich, so schwer es die letzten übriggebliebenen Textilfirmen im Wiesental jetzt haben, vielleicht unter ganz anderen Vorzeichen auf eine Wiederbelebung dieser Partnerschaft einrichten.

44.    Adeliges RokokoNach Oben

Die Geschichte kennt sowohl Sieger wie Verlierer. Die Geschichtsschreibung aber kennt mehr Sieger als Verlierer. Die, die den Schauplatz verlassen müssen, zerstreuen sich, und die Erinnerung an sie geht verloren. Was sagen uns noch die Namen der Rink von Baldenstein, derer von Eberstein, von Ligertz, von Schnorf, von Neveu, von Multenberg, von Reibelt, von Wangen, von Schönau, von Roggenbach? Mit Equipagen und Dienern, Kindern und Verwandten kamen und gingen sie vor etwas mehr als 200 Jahren aus dem Elsass, dem Breisgau, Sundgau und Sisgau einander besuchen, zogen im Sommer aufs Land, im Winter in ihre Stadtquartiere, musizierten, spielten, lasen einander Romane vor – wir sind in den etwas unwirklich anmutenden 70er und 80er Jahren des 18. Jahrhunderts am Vorabend der Französischen Revolution.

Die Schweiz interessierte die künstlerisch und intellektuell anspruchsvollen Europäer nicht nur ihrer Naturschönheiten wegen, sondern durchaus auch wegen ihrer politischen Vielfalt. Da gab es direkte oder Landsgemeinde-Demokratien, Aristokraten, Zunftregimenter und patrizische Staatsformen, gemeinsame Herrschaften und Untertanen, die ihrerseits wieder Untertanen hatten, sogar leibeigene. Und es gab Wahlmonarchien mit allem, was dazugehört: einem Wahlkapitel, einem Schloss mit fürstlichen Würdenträgern, einem Dienstadel, Landvögten und einem eigentlichen Hof.

Die Ostschweiz kannte den Fürstabt von St. Gallen; hier ist die Rede vom Fürstbistum Basel, das sich, nachdem Basel 1529 reformiert geworden war, von Reinach und Arlesheim bis nach Pruntrut, in die Ajoie und bis nach Biel erstreckte, also den Grossteil des heutigen Kantons Jura umfasste. Der Wahlmonarch, eben der Fürstbischof, sass in Pruntrut; der Hofstaat und die Wahlbehörde, das Domkapitel, sassen in Arlesheim, wo auch ein Landvogt residierte. Selbst wenn man schon damals nicht recht wusste, ob der Fürstbischof nun zu den Eidgenossen zählte oder nicht – er betrachtete sich als Reichsfürst und unterhielt zugleich ein Regiment in Frankreich –, so kann die heutige Schweiz darauf verweisen, dass unter ihren politischen Vergangenheitsformen vor gut 200 Jahren sogar Monarchien zu finden waren.

1679 kam das Domkapitel von Freiburg im Breisgau, wohin es vor der Reformation in Basel geflohen war, nach Arlesheim, diesmal auf der Flucht vor kriegerischen Auseinandersetzungen mit den Franzosen. Sofort begann man zu bauen, zuerst am Dom und dann an der eigentlichen Residenz, die sich um den Dom herum bildete. Während rund 100 Jahren erlebte Arlesheim, das vorher nur aus etwa 30 armseligen Bauernhäusern bestanden hatte, so etwas wie einen Bau-Boom. Der basellandschaftliche Denkmalpfleger Rudolf Heyer sagt es so: „Die Anwesenheit des Domkapitels machte Arlesheim zu einem Anziehungspunkt für auswärtige Handwerker und Künstler. Sie kamen um der Aufträge willen ins Dorf, zogen nach Vollendung der Arbeiten wieder weg oder liessen sich dauernd nieder.“

Den Domherren selber war Privateigentum erlaubt, also bauten sie sich eigene Landsitze und Gärten. Sie befassten sich mit der Verwaltung der Güter des Kapitels, überliessen die kirchlichen Pflichten gern den Kaplänen und dem Dorfpfarrer. Feste feierten sie in Pruntrut, für Studien und Geldgeschäfte ging man nach Basel, Treibjagden fanden im Elsass oder bei Ettingen statt. Ein Domherr musste nicht priesterlich geweiht sein, freilich nach aussen im Zölibat leben, vor allem musste er adliger Abstammung sein. Also hiessen sie zum Beispiel von Mahler, von Buchenberg, von Thurn, von Verger zu Moutier-Grandval. Sie waren um 1785 13 an der Zahl, hielten sich gegenseitig die höfischen Chargen zu und hatten zuletzt Franz Josef Sigmund von Roggenbach 1782 zum Fürstbischof gewählt.

Aber im Untergrund bebte die Zeit schon. Nur kamen die Vorboten der Revolution, die 1792 die Arlesheimer Idylle buchstäblich mit der Axt zertrümmerte, wieder einmal aus der Ecke, in der sie keiner vermutete. Die Romane von Rousseau waren bei den gebildeten Zeitgenossen, vor allem den Damen, schon angekommen und ins Bewusstsein aufgenommen. In dieses neue Naturgefühl, das in einer ökonomisch unbelasteten Oberschicht als eine sehr subjektive Empfindsamkeit die Geister zur Verbrüderung rief, konnten auch die Gedichte Salomon Gessners aus Zürich eingebettet werden. Dasselbe geschah mit den Versehen von Virgil Jacques Delille /1738-1813), der damals noch über liebliche Täler, verklärte Hügellandschaften und schattige Pappeln am Bach dichtete, bevor er im Auftrag Robespierres seine Verse auf das „Höchste Wesen“ verfasste.

Zwischen 1782 und 1786 tauchte in Basel und Arlesheim Giuseppe Balsamo aus Palermo, besser bekannt als Graf Alexander Cagliostro, mit seiner schönen Frau Serafina Feliciana auf. Sie wohnte in Arlesheim bei Balbina von Andlau, der Gattin des fürstbischöflichen Landvogtes Franz Carl von Andlau. Diese soll der Maler Lauterburg (oder Loutherbourg) aus London für die Anlage der Arlesheimer Eremitage gerufen haben, wohl mit Zustimmung ihres Vetters, Heinrich von Ligertz, mit dem sie die Verwandlung der natürlichen Höhlen und Terrassen unterhalb des Schlosses Birseck in einen englischen und symbolischen Park betrieb. Cagliostro heilte unterdessen die Gattin des Seidenherren Jakob Sarasin von ihren Depressionen und überzeugte Johann Jakob Bischoff, im sogenannten Glöcklihof in Riehen eine Loge der ägyptischen Freimaurerei einzurichten. Christian Cajus Lorenz Hirschfeld, der auch von Goethe geschätzte Theoretiker der englisch orientierten Gartenkunst, reiste durch Basel, unterhielt sich wahrscheinlich mit dem Ratschreiber Peter Ochs, der schon bei einem früheren Strassburger Aufenthalt Freimaurer geworden war. Seine Geschichte der Stadt und Landschaft Basel widmete er der Prinzessin von Anhalt-Zerbst, die als Nachbarin und Verwandte des regierenden Fürsten Franz von Anhalt-Dessau die der Arlesheimer Eremitage verwandte Parkanlage von Wörlitz kannte. Sie hat wohl auch dafür gesorgt, dass 1788 Prinz Georg von Anhalt-Dessau, der Bruder des Fürsten, in Arlesheim vorbeikam – der reformerisch veranlagte Markgraf Carl Friedrich von Baden und Johann Kaspar Lavater aus Zürich waren schon vorher aufgetaucht.

Die Eremitage von Arlesheim, erbaut 1785 und von den internationalen Europareisenden bestaunt, mutet an wie ein spätes Werk des ancien régime im Rokoko-Zeitalter, ein Zeitvertreib für den letzten monarchischen Hof auf Schweizer Boden. Aber eine nur leichte Verschiebung des Blickpunktes zeigt diesen geradezu mythologischen Garten als einen Vorboten, sogar ein Signal einer schon ganz anderen und revolutionären Symbolik. Allgemeine, die Menschheit umfassende Ideen sollten dargestellt, die Gefühle des Betrachters sollten zugleich überhöht und verinnerlicht werden, christliche Elemente vermischten sich mit antiken Vorstellungen. Hinter dem Rokoko-Spielzeug einer adligen Gesellschaft erschien der riesige Schatten einer neuen Zeit und eines ganz anderen Weltbewusstseins. Und wenn auch 1792 dieser Garten von Revolutionären – unter ihnen übles Gesindel – zerstört wurde, so soll man nicht übersehen, dass dieselbe Französische Revolution dann selber Gärten schuf, die in manchen Details der ursprünglichen Eremitage von Arlesheim glichen und sie vollendeten.

45.    Metternichs VerwandteNach Oben

Der grosse Gegenspieler Napoleons war Clemens Fürst von Metternich, der von 1773 bis 1859 lebte. Die Heilige Allianz, das heisst das Bündnis der nachnapoleonischen Mächte Europas, ist sein Werk. In der diplomatischen Sprache des frühen 19. Jahrhunderts ist Metternich identisch mit Wien.

Die von Andlau waren eine elsässische Adelsfamilie, wie das ja die Herkunftsbezeichnung sagt. Das Schloss Andlau lag nahe beim elsässischen Odilienberg. Friedrich von Andlau, 1627 in Ensisheim geboren, wurde Hofrat beim Fürstbischof von Basel, der nach der Reformation seine Residenz in Pruntrut etablierte. Von Andlau trat das Amt eines Landvogtes in der Herrschaft Delsberg an. Sein Sohn Johann Baptist Georg von Andlau, geboren 1682, führte wiederum den Titel eines fürstbischöflichen Hofrats und Grossmeisters in Pruntrut, hatte den Rang eines Brigadiers in der Armee des französischen Königs und war Schlossherr und Landvogt auf Birseck bei Arlesheim.

An zwei seiner vielen Kinder darf man sich erinnern. Da ist die Tochter Eleonore, geboren 1717 in Arlesheim, die 1734 Johann Friedrich von Kageneck heiratete. Ihre Tochter Marie Beatrix Antoinette verehelichte sich 1771 in Freiburg im Breisgau mit Franz Georg Karl Joseph Nepomuk von Metternich, den der österreichische Kaiser zum Fürsten machte. Und dessen Sohn war der Vater der Heiligen Allianz. Unter seiner Aufsicht wurde das Birseck dem Kanton Basel zugesprochen, der übrige Teil des Fürstbistums kam an Bern. Metternich also hatte eine geborene von Andlau zur Grossmutter; er stammt von der einen grosselterlichen Seite aus dem Dreiland.

Der Bruder Eleonores war Franz Karl von Andlau, geboren 1727 und gestorben 1792, beide Male in Arlesheim. Er trat in die Fussstapfen seines Vaters, wurde wiederum fürstbischöflicher Landvogt in Arlesheim, wo er aber nicht mehr das ziemlich heruntergekommene Schloss Birseck beziehen wollte, sondern den Flachsländer Landsitz erwarb und daraus den Andlauer Hof machte. 1758 heiratete er Balbina von Staal, geboren 1736 in Pruntrut. Drei Söhne aus dieser Ehe traten in den Dienst des Regimentes, das der Fürstbischof im Sold des Königs von Frankreich unterhielt. Die Tochter Laura heiratete einen jurassischen Baron namens Conrad de Billieux. Die Andlaus waren also Vettern und Basen des Fürsten von Metternich.

Der Engländer William Cox, der die Schweiz 1786 und auch später noch bereiste – übrigens begeistert von den landschaftlichen Schönheiten und verwundert über die sozialen und politischen Zustände –, machte sich schon auf seiner ersten Reise Gedanken über die merkwürdige Position des Fürstbischofs von Basel zwischen den europäischen Mächten. Auf der einen Seite war er Reichsfürst, also eingebunden in das alte, nun habsburgisch dominierte deutsche Kaiserreich. Auf der anderen Seite war er verbündet mit Frankreich, für das er ein Regiment unterhielt und in der Benediktiner-Abtei von Bellelay sogar eine Militärschule eingerichtet hatte. Mit den katholischen Orten der Eidgenossenschaft war er verbündet, war aber nicht Vertragspartei in der Allianz zwischen den XIII eidgenössischen Orten und Ludwig XVI. von 1777. Cox formulierte es in seinem auf englisch in Basel gedruckten Buch wie folgt: Bei Missheligkeiten zwischen Frankreich und dem Kaiser würde die Situation des Fürstbischofs äusserst unbequem sein, und seine zweifelhafte Verbindung mit den Schweizern würde seine Herrschaft nicht vor einem Einmarsch dieser Mächte bewahren.

Das war ein wenig Prophetie post festum, denn als seine Reiseberichte 1802 gedruckt wurden, war es eben schon passiert. 1792 hatte der Fürstbischof gegen das annexionsfreudige Frankreich österreichische Truppen angefordert, die zwar kamen, aber bald vor den revolutionären Franzosen umkehrten. Dann wurde 1793 die Raurachische Republik ausgerufen, dann wurde das Fürstbistum von Frankreich als Departement Mont Terrible annektiert, dann wurde es zum Departement Haut-Rhin geschlagen, dann wurde es 1813 von den Alliierten besetzt und kam nach 1815 zum grösseren Teil zu Bern, zum kleineren, nämlich dem Birseck, zu Basel, Die Arlesheimer waren in wenig mehr als 20 Jahren von fürstbischöflichen Untertanen zu Raurachiern, Jura-Franzosen, Elsass-Franzosen und schliesslich zu Baslern und Schweizern geworden – ohne dass sie dafür oder dagegen etwas tun konnten.

Heute scheint das längst abgetan und vergessen. In den Schrebergärten von Arlesheim, Allschwil und Ettingen flattert unangezweifelt die Schweizer Fahne. 1814 aber war noch nichts entschieden, jede Möglichkeit stand offen. In Basel waren der österreichische Kaiser, der russische Zar und der preussische König vorbeigekommen, hatten ihr Hauptquartier aufgeschlagen, liessen Hüningen erobern. Die Franzosen zogen sich zurück – was sollte mit dem Fürstbistum geschehen?

Da tauchte plötzlich ein Mann auf, der den jetzt höchst willkommenen Verwandtschaftsgrad eines Vetters des Fürsten Metternich hatte, nämlich Conrad Friedrich Carl von Andlau, der 1766 geborene jüngste Sohn des fürstbischöflichen Landvogtes auf Birseck. Er war Leutnant im Regiment von Eptingen im Dienst der französischen Krone gewesen, in der Revolutionszeit amtete er in Freiburg als Regierungsrat. Er heiratete eine Sophie von Schakim. Als der Breisgau für kurze Zeit an den Herzog von Modena fiel, wurde Andlau Regierungspräsident; wie der Breisgau dank Napoleon an das Grossherzogtum Baden gelangte, besorgte er die Übergabe und wurde badischer Staatsminister des Innern. Als der russische Zar Alexander 1813 in Freiburg vorbeikam, wohnte er bei den Andlaus. Conrad Friedrich Carl aber war zu dieser Zeit schon im Hauptquartier Metternichs. Dieser hatte mit Andlau einiges vor, er machte ihn zum Verwalter der eroberten französischen Gebiete in Vesoul, gab ihm den Titel eines Gouverneurs der östlichen Departemente, das heisst der Gebiete von den Vogesen über den Doubs bis in die Haute Saône. Aber dann kam der Friede von Paris 1814, und die Grenzen Frankreichs wurden wieder auf den Stand von 1792 zurückgeführt. Von Andlau zog von Vesoul nach Arlesheim zurück. Was wollte er?

Mit seinem Schwager Billieux reiste er nach Wien, um für die Wiederherstellung des Fürstbistums zu plädieren. Liesse sich aus dem alten Reichsland etwa gar ein neuer, aristokratisch regierter Kanton der Schweiz machen? Der Wiener Kongress sagte nein. Von Andlau behielt in Arlesheim den Andlauer Hof, den er weiter arrondierte, kaufte das Schloss Birseck zurück und liess sich zum Ehrenbürger von Pruntrut machen, blieb aber Staatsminister im Grossherzogtum Baden. Sein schönstes Denkmal ist die Wiederherstellung der in der Revolution von 1792 vollständig zerstörten Arlesheimer Ermitage, für die 1812 die lateinische Inschrift „post fata resurgo“ (nach dem Unheil erstehe ich wieder auf) angebracht wurde. Metternich hat sie, soviel wir wissen, nie besucht, aber sonst viel prominente Leute.

46.    Ob der Mensch zum Fliegen gebohren sey?Nach Oben

In der griechischen Sage konnte Dädalus fliegen, Ikarus stürzte ab. Leonardo da Vinci stellte sich mehr als einmal dieselbe Frage, entwarf Fluggeräte, von deren praktischer Erprobung wir wenig wissen. Im technisch faszinierten 18. Jahrhundert gab es immer wieder Leute, die sich mit dem Problem abmühten, wie sich der flügellos geborene Mensch aus eigenen Kräften in die Lüfte schwingen könnte. Man studierte nicht nur den Geräten nach; in Übereinstimmung mit dem damaligen Stand der Naturwissenschaften fragte man sich auch nach der Beschaffenheit de Atmosphäre -–warum blieb sie überhaupt am Boden, wie entstand das Phänomen des Luftdruckes, inwiefern musste man die erdnahe Luft als die dichtere verstehen? In allen möglichen Ländern grübelten Gelehrte, intelligente Dilettanten und Bastler solchen Fragen nach, bis plötzlich am 21. November 1783 das Fliegen in aller Leute Mund war.

Schon seit einiger Zeit hatten sich die Brüder Joseph Michael und Jacques Etienne Montgolfier mit dem Prinzip eines leichten, mit Heissluft gefüllten Hohlkörpers befasst. So wie in den 50er Jahren unseres Jahrhunderts die sowjetische Hündin Laika erstmals in den Weltraum aufstieg, so waren die frühsten Luftpassagiere im Sommer 1783 ein Schaf, eine Ente und ein Hahn. Sie landeten unversehrt. Am 21. November des genannten Jahres aber steigen Pilâtre de Rozier und der Marquis François Laurent d’Arlande beim Schloss La Muette von Paris zum erfolgreichen ersten Flug auf, bestaunt von unzähligen Gaffern.

Das internationale Publikum war aufs höchste erregt. Sofort kamen Vorschläge für technische Verbesserungen, statt Heissluft verwendete man auch Wasserstoffgas. Der Basler Leonhard Euler berechnete knapp vor seinem Tod (am 7. September 1783) noch schnell die Auftriebsgeschwindigkeit und die Gipfelhöhe eines Ballons. Sein Vorgänger an der St. Petersburger Akademie, der Basler Daniel Bernoulli, hatte schon 1738 die ersten Ansätze zur kinetischen Gastheorie formuliert. Urs Jakob Tschann von Balsthal liess nach dem Prinzip der Brüder Montgolfier am 12. Februar 1784 einen von seinem Bruder angefertigten Ballon steigen, und 1000 Personen schauten zu, unter ihnen die Ehrengesandten von Glarus, Appenzell und St. Gallen, die auf der französischen Gesandtschaft gerade ihre fetten Pensionen abgeholt hatten.

Es gab auch geärgerte Leute. Unter ihnen waren jene zu finden, gewissermassen in der Nachfolge Leonardos, die das Fliegen nicht als inaktives Schweben, sondern als aktive und steuerbare Bewegung verstanden haben wollten. Zu ihnen gehörte Carl Friederich Meerwein (1737-1810), der in Leiselheim am Kaiserstuhl geborene Sohn des Pfarrers Christian Meerwein. Er hatte Mathematik und Baukunst in Strassburg studiert, in Jena Logik, Landwirtschaft, ökonomische Chemie und Physik. 1764 war er in den Dienst des Markgrafen Karl Friedrich von Baden getreten und wurde Landbaumeister.

Schon 1782 hatte er in Basel eine erste Schrift über die Möglichkeiten des Fliegens herausgegeben. Nachdem das Thema brandaktuell geworden war, musste er sofort wieder zur Feder greifen, und so kam in Frankfurt und Basel (bei J.J. Thurneysen dem Jüngeren) seine Untersuchung „die Kunst zu fliegen nach Art der Vögel, erfunden von Carl Friederich Meerwein“ heraus. Selber soll er mit seiner Erfindung einen kurzen Flug absolviert haben, der im Misthaufen des Nachbars endete. In seiner Publikation riet er zu folgendem Vorgehen: „Die sicherste Gegend vor einen Lehrling in dieser neuen Kunst, ohne Lebensgefahr den ersten Versuch zu wagen, wäre ein tiefes Wasser, unmittelbar unter einer etwas beträchtlichen Anhöhe: wie etwann an den sogenannten Rheinsprung in Basel. – Denn wer in ein etwas tiefes Wasser fällt, der bricht weder Hals noch Bein, und gegen das Ertrinken giebt es hinreichende Verwahrungsmittel.“ Offensichtlich traute er seinen eigenen Fluggerät noch nicht ganz, und im Grund seines Herzens war er sehr damit einverstanden, dass andere Leute Kopf und Kragen mit seinem Apparat riskierten.

Ein Kupferstich, der seinem Büchlein beigegeben war, zeigt das Fluggerät. Es gleicht in mehr als einer Beziehung einem heutigen Gleiter. Die wesentliche Schwierigkeit lag freilich in der Beweglichkeit der Flügel, deren Mechanik mit den damaligen technischen Mitteln praktisch nicht zu bewältigen war. Ihm war klar, dass ein Fluggerät – in der heutigen Terminologie gesagt – eine Leichtbauweise benötigte, aber Lindenholz und möglichst luftundurchlässige Leinwand waren immer noch viel zu schwer. Ihm ging es daneben darum, den Ruhm des ersten Aeronauten nicht den Franzosen zu überlassen, sondern er wünschte „zugleich die Ehre dieser Erfindung auf die Deutschen zu bringen“. Aber selber verfolgte er, soviel wir wissen, seine Pläne nicht weiter.

Vier Jahre später herrschte dann in Basel grosse Aufregung. Im Februar 1788 kam nämlich der unterdessen berühmte französische Aeronaut Jean Pierre Blanchard (1753-1809) in die Stadt. Am 11. März liess er einen Ballon, an dem ein Schaf hing, vom Markgräfler Hof aus aufsteigen. Das arme Schaf landete im „Hof Ihro Gnaden Herren Bürgermeister Debarry“ auf dem Münsterplatz, also im Mentelinhof neben dem heutigen Gymnasium. Blanchard weibelte öffentlich mit gedruckten Flugblättern für seine grosse Demonstration. Vielleicht hatte er sogar die Schrift von Meerwein gelesen, denn nun versprach er, dass sein Gerät auch Flügel hätte, um sich „auf Art der Vögel in die Luft zu schwingen“. Am 5. Mai 1788 fand die Demonstrationsfahrt endlich statt, aber der Ballon wollte nicht richtig in die Höhe steigen. Vermutlich war der mit Flügeln versehene Apparat einfach zu schwer. Erst montierte Blanchard die Flügel ab, dann zog er sich bis aufs Hemd und Unterkleid aus und hängte sich in das über den Ballon geworfene Netz, das war alles andere als bequem. Aber die Leute waren jetzt zufrieden, denn Blanchard stieg tatsächlich auf, schwebte über die Dächer der Stadt hinweg und landete schliesslich nahe bei Allschwil. Bei der Landung verletzte er sich am Fuss. Doch wurde er „hierauf in Begleitung vieler Gefährten und einer Menge Personen allerley Standes mit allgemeinem Beyfall in die Stadt begleitet“.

Das passierte in Basel ein Jahr vor Ausbruch der Französischen Revolution. Schon sechs Jahre später stieg ein Ballon namens „L’Entreprenant“ als erster militärischer Beobachtungsballon der Geschichte während der Schlacht bei Fleurus am 26. Juni 1794 in die Höhe. Hauptmann Jean Marie Joseph Cutelle führte das Gefährt, die Schlacht beobachtete General Morlot. Wie hatte es Carl Friedrich Meerwein ahnungsvoll zehn Jahre vorher geschrieben: „Was ist aber auf der Welt, und was hat der menschliche Verstand gutes und nützliches ausgedacht, das die Bosheit nicht auch zum Nachtheil des Nebenmenschen misbrauchen lernte?“

Wenn dann Peter Ochs wenig später aus dem unruhigen Paris nach Basel schrieb, dass er am liebsten mit einem Ballon nach Hause fliegen würde, war das ein Kommentar sozusagen aus aktuellem Anlass, und jedermann in Basel verstand, worauf er Bezug nahm.

47.    Schwierigkeiten beim TechnologietransferNach Oben

Was wäre eine Stadt wie Basel ohne die Zuwanderer. Das Geschlecht, von dem jetzt die Rede sein soll, geht auf einen noch im 17. Jahrhundert, nämlich 1698 geborenen „Schrift- und Filetschneider, auch Schriftgiesser“ zurück, der im Alter von nur 20 Jahren aus Nürnberg nach Basel kam und hier in die Schriftgiesserei Genath eintrat. Sein Name war Johann Wilhelm Haas. So jung er war, so viel Fachkompetenz strahlte er schon aus; für Hans Rudolf Genath wurde Haas bald zum ersten Mitarbeiter und zur Stütze des Geschäftes. In moderner Terminologie: Haas sorgte für einen Technologietransfer aus der grossen Reichsstadt Nürnberg in das kleine republikanische Basel. Er brachte Know-how, innovative Ideen, gab unternehmerische Anstösse, dynamisierte die schon etwas verschlafene Druckerstadt. Eigentlich hätte er hier hoch willkommen sein müssen.

Aber die Gnädigen Herren von Basel hatten exakt im Jahr 1718, da Haas nach Basel gekommen war, eine 40jährige Schliessung des Bürgerrechtes verabschiedet. Sie wollten keine Wirtschaftsimmigranten, wollten dem heimischen Gewerbe die Konkurrenz tüchtigerer Ausländer vom Leib halten. Um das Geschäft von Herrn Genath selbständig zu übernehmen, hätte Haas Basler Bürger sein müssen, und das war jetzt, von 1718 bis 1758, durch die Sperre der Bürgerrechtsaufnahmen unmöglich geworden.

Man staunt über die Geduld der damaligen Leute. Erst nach 19 Jahren, nämlich im Mai 1737, wagte es Genath, mit seinen Nachfolgeproblemen erstmals bei der Regierung vorzusprechen. Er schrieb, dass Herr Haas darauf bedacht sei, „entweder wieder nach Nurnberg zu kehren, oder anderstwo, alss worzu ihme ein- und andere Anleitung gegeben worden, sich zu setzen und auch für sich zu arbeitten, hat sich aber biss dato noch ferners bey mir zu bleiben bewegen lassen und zugleich zu verstehen gegeben, dass, wan er hier under Ewer Gnaden Schutz lebenslang zu verbleiben undt seine Kunst forzusetzen, die Hoffnung schöpfen könnte, er sich verbinden wollte, mich so lang ich lebe, nicht zu verlassen, sonder mir wie bisshero beyzustehen.“

Genath verlangte also nicht, dass Haas Basler Bürger würde, er bat nur darum, dass der Rat Herrn Haas unter „hiessigen Schutz“ annehme. Um sicher zu sein, dass die Gnädigen Herren dem auch zustimmten, legte er eine Petition von weiteren sieben Basler Buchdruckern bei, die alle Haas empfahlen. Der Kleine Rat stimmte schliesslich zu. Gegen eine Jahresgebühr von sechs Gulden durfte sich Haas unter obrigkeitlichem Schutz fühlen, das heisst in heutiger Terminologie, er bekam eine Niederlassungsbewilligung.

Das war aber erst der halbe Weg, denn Haas war damit noch nicht Basler Bürger geworden. Dabei gefiel es ihm in der Stadt, und nach 1740 war er zudem Geschäftsnachfolger von Genath geworden. Was tut man in einem solchen Fall? Man machte es wie die Professoren oder Theaterintendanten: Man sucht sich eine andere Stelle, im Fall von Haas ein anderes Bürgerrecht. Er tat das ziemlich raffiniert. Da ihm Basel nicht entgegenkommen wollte, er aber doch in Basel zu bleiben wünschte, wandte er sich an Biel, das immer noch mit dem Basler Fürstbischof als dem anderen Stadtherrn verhängt war. Und siehe da: Gegen die Erstattung von 300 Kronen bekam Haas  1746 das Bieler Bürgerrecht und war gewissermassen Schweizer geworden, Bürger freilich nur eines zugewandten Ortes, aber mit baslerischen Verbindungen.

Am 26. Juli 1758 – Haas war jetzt schon 60 Jahre alt und hatte heranwachsende Kinder – kam der nächste Versuch. Er schrieb an Bürgermeister und Räte von Basel: „Eine sehnliche, ja recht brennende Begierd und Verlangen mit Ew. Gn. so freyem, sicherem und ruhigem Burgerrecht mich begnadiget zu sehen, veranlasset mich vor Ew. Gn. in tieffster Underthänigkeit zu erscheinen und Denenselben mit respectuoster Hochachtung vorzutragen, wie dass ich mit sonderer Herzensfreud vernohmen, dass Ew Gn. aus Höchstpreisslichst Landesvätterlicher Vorsorg, zu mehrerer Bevölckerung dero so berühmter Statt neben anderen auch Künstler und solche Professionisten, welche Ew. Gn. Ehren Burgerschafft ohnschädlich gn. auff- und anzunehmen gesinnet wären.“

Wiederum war diese Supplikation von diversen Attesten begleitet: Der Diakon zu St. Leonhard bestätigte den „erbaulichen christlichen und exemplarischen Wandel“; sieben Buchdrucker lobten ihn als Kollegen; der Geheime oder Dreizehner-Rat untersuchte den Kandidaten genau, und am 21. August 1758 war es dann soweit, dass der Grosse Rat Johann Wilhelm Haas samt Ehefrau und zwei Kindern ins Basler Bürgerrecht aufnahm – nicht ohne dass sich die Gnädigen Herren im letzten Moment noch darüber stritten, ob der Neubürger hundert oder zweihundert Neue Thaler der Staatskasse abliefern müsse.

Wenn man bedenkt, dass die drucktechnische Bedeutung Basels im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert fast ausschliesslich an der Haas’schen Dynastie hing, dass hier dank Haas und seinen Nachkommen die ersten Satzautomaten konstruiert wurden, dass die Schriftgiesserei Haas nicht nur einer der grössten Lieferanten von Typen nach Deutschland und Frankreich wurde, sondern auch den für diese Zeit aufregenden Versuch unternahm, Landkarten mit Hilfe von vorfabrizierten Satzelementen zu gestalten, mutet die geradezu nerventötende Umständlichkeit der Regierung, einen so hochbegabten Mann in die Stadt aufzunehmen, grotesk an.

Wie Johann Wilhelm Haas und sein Sohn Wilhelm Haas-Münch (1741-1800) die Umständlichkeiten einer Einbürgerung aufnahmen, können wir nur ahnen. Wahrscheinlich ein wenig mit Achselzucken, vielleicht auch mit Spott. Denn sie wussten sehr wohl um ihren professionellen Wert und wieviel die Kunst der Schriftgiesserei und des Drucks in Basel ihrem unternehmerischen Sinn verdankte. Bekannt ist, dass im Spätherbst 1797 Bonaparte als siegreicher General durch Basel reiste, seine Begegnung mit dem Oberstzunftmeister Peter Ochs gehört zu den oft erzählten Szenen. Weniger bekannt ist, dass am 23. November 1797 Wilhelm Haas-Decker, der Enkel des Einwanderers, im Hotel Drei Könige Bonaparte die neuste Karte der Cisalpinischen Republik vorlegte, auf der Napoleon – laut den Memoiren von Haas – „noch mit eigener Hand den letzten Ergänzungsstrich bezeichnete und die Dedication an ihn genehmigte“.

 In Sachen Technologietransfer war der zukünftige Kaiser der Franzosen alles andere als umständlich. Wer ihm da etwas Neues vorlegen konnte, war hochwillkommen, egal ob er Franzose oder Ausländer war. Aus den gesammelten Schriften von Wilhelm von Humboldt wissen wir, dass Napoleon 1798 in Paris eine nochmals verbesserte Version der Haas’schen Karte den Herren vom Institut National zur Begutachtung vorlegte. Der Nachkomme des nach Basel eingewanderten Nürnbergers hatte Napoleons Gefallen gefunden, und für die militärische Kartografie war das auf jeden Fall ein interessanter Mann.

48.    Spazierfahrten im 18. JahrhundertNach Oben

Heute haben wir das Auto und den Fotoapparat. Also sind wir in weniger als zwei Stunden so gut wie überall im Dreiland, und im Fotogeschäft können wir schon  zwei Tage später die Bilder von Pfirt oder St. Blasien oder Murbach abholen. Praktisch – etwa nicht?

Wie machten es denn frühere Zeiten? Sie gingen zu Fuss, ritten zu Pferd, stoppten einen Botenwagen oder benützten die Postkutsche. Und wenn sie Bilder haben wollten? Dann musste man selber zeichnen, aquarellieren und malen, oder man kaufte eben in einem Kabinett Kupferstiche, dank deren Herstellung viele Künstler, manchmal sogar sehr gute, ihr Dasein fristeten.

Jetzt aber sind wir in den 80er Jahren des 18. Jahrhunderts, ganz knapp vor dem Ausbruch der Französischen Revolution. Die Zeitgenossen ahnten sie so wenig, wie wir den Zeitpunkt des Zusammenbruchs des Staatssozialismus im Osten oder die deutsche Wiedervereinigung ahnten. Ausgebaute soziologische und politologische Institute, Prognosenfirmen und Lehrstühle für Politikwissenschaften haben uns keinen Deut klüger gemacht als unsere Vorgänger vor 200 Jahren, die den heraufziehenden Sturm, die grösste Veränderung Europas, auch nicht merkten.

Fast zur gleichen Zeit reisen ein Professor der schönen Künste aus Kiel und der meistgelesene Gartenautor seiner Epoche, ein Pfarrer und Schulleiter aus Sachsen und ein Hamburger, ein schon revolutionär gesinnter Pädagoge, Richtung Basel. Es sind Christian Cajus Lorenz Hirschfeld, Christian Gottlieb Schmidt und Joachim Heinrich Campe, die 1784, 1786 und 1785 am Oberrhein vorbeikommen, alle drei neugierig, von verständiger Intelligenz und wachen Auges. Und weil sie eben nicht zeichnen oder malen, schreiben sie fleissig, ziemlich besessen sogar – Hirschfeld und Campe schon im Hinblick auf eine Veröffentlichung im Druck, während Schmidt vorerst seine Reiseberichte bogenweise nach Hause schickt. Was wissen sie zu berichten?

Hirschfeld: „Unter dem Genuss herrlicher Aussichten rollte unser Wagen schnell über die schönen Strassen des Elsasses, um uns einem noch schönern und glücklichern Lande zu nähern. Die Berge vom Elsass und Lothringen waren allmählich zur Rechten in der Ferne verschwunden; der Rhein liess zur Linken zuweilen seinen prächtigen Strom hervorglänzen; und vor uns erhoben sich nach und nach die Gebürge der Schweitz in einem heitern Abendschimmer, der um uns her die ganze ruhige Natur verschönerte. (...) Auf allen Seiten erblickt man die fruchtbarsten Felder; sie sind mit allen Arten von Gewächsen angebaut; die Dörfer verkündigen Wohlstand, und die schönen, frohen und wohlgekleideten Menschen den Genuss ihrer Glückseligkeit.“

Campe: „Eine herrliche Fahrt: Kunststrassen, so eben, als wären sie mit Diehlen belegt; ein Postwesen, wie man es in Deutschland, so weit ich es kenne, nirgends findet, und Landschaften, welche an Fruchtbarkeit, Kultur und Bevölkerung sogar die obere Markgrafschaft Baden hinter sich lassen! Um sich von der erstaunlichen Volksmenge in Oberelsass einen Begrif zu machen, braucht man nur zu hören, dass auf den Wochenmarkt von Colmar Leute aus 400 Ortschaften kommen und an dem nämlichen Tage wieder zu Hause fahren können.“

Schmidt: „Gestern Nachmittags trat ich meine Reise zu Fuss hieher (St. Blasien) an, und ging noch bis Schoppen (Schopfheim) einem kleinen Marggräflich Badenschen Städtgen. Ein fast einziges enges recht schönes Tal fürt dahin, das von der Wiese durchströmt und mit Dörfern übersäet ist, deren gutes Ansehen einen guten Regenten verkündiget. Vorzüglich habe die Kultur der Wiesen bewundert, die so sorgfältig als Gärten gedünget gewässert und unterhalten werden.“

Aber Schmidt noch einmal – und jetzt reist er von Zürich Richtung Basel in einer Landkutsche: „Der Weg von 17 Stundten ist einem durch frappante Naturszenen verwönten Auge eben nicht interessant; es ist hier der niedrigste Teil der Schweiz, keine hohen Berge, keine himmelstürmenden mit ewigem Eis bedeckte Alpen, keine abwechselnde romantische Täler, bilden gefällige lachende Landschaftsgemälde, und selbst an den verschiedenen Flüssen die man passiren muss, findet man keine vorzüglich sich auszeichnenden Gegenden.“

Das sind, von drei verschiedenen Besuchern hingeworfene und recht allgemein gehaltene Landschaftsschilderungen. (Die Berichte  selber, die zum Teil in modernen Nachdrucken erhältlich sind, sind in manchen Einzelheiten wesentlich interessanter.) Es ist überraschend, unsere Gegend durch 200 Jahre alte Brillen zu betrachten, man kriegt da ein merkwürdig anderes Gefühl für das Dreiland. Schon aus diesen drei fragmentarischen Stellen lässt sich etwas ablesen, das heute vielleicht noch immer gilt, aber uns allen, ob in der Basler Region, im Elsass oder im Breisgau zuhause, viel zu wenig deutlich ist: Für Leute aus Kiel, Hamburg oder Sachsen waren die oberrheinische Ebene und das ganze Land zwischen Jura, Vogesen und Schwarzwald in ihrem schmucken Wohlstand, in ihrer Fruchtbarkeit und Milde geradezu paradiesisch schön. Es war fast nicht zu glauben, wie friedlich, wohlgeordnet und freundlich hier das Leben vor sich ging, wie heiter es sich präsentierte, unabhängig von den staatlichen Autoritäten, die damals noch sehr buntscheckig gemischt waren. Nur wer schon romantisch gestimmt war, in den Alpen nach Staubbachfällen, Gletschern und Schluchten Ausschau hielt, war etwas enttäuscht; es musste einer schon aus dem Flachland von Kiel kommen, um ihm Grenzacherhorn und im Gempen den Anfang der Schweizer Gebirge zu entdecken. Nein, was den Besuchern recht eigentlich zu Herzen ging – und es waren ja weitgereiste Leute –, was sie auch unbedingt niederschreiben und ihren Freunden zuhause mitteilen wollten, war das, was sie die Glückseligkeit dieses Landes nannten, nur fünf oder knapp drei Jahre vor der Revolution, die dem Elsass zuerst die Guillotine und dann bald einmal allen drei Teilen des Dreilandes schlimme militärische Bedrängnis brachte.

Und die Maler? Noch einmal Hirschfeld: „Man malt indessen noch immer, und bald wird die ganze Schweitz gemalt seyn. Auf meiner letzten Reise durch die herrlichen Thäler des Bisthums Basel fand ich an einem Tage an drey verschiedenen Stellen der Birs Zeichner sitzen, welche die Wasserfälle dieses Flusses und die umliegenden romantischen Gegenden studirten. Die Liebhaber der Kunst sind in der Schweitz nicht weniger zahlreich, als die Künstler selbst; und unter diesen gibt es viele durchreisende Ausländer, die nicht leicht verfehlen, in einem mit den reichsten und seltensten Naturgemälden bereicherten Lande zu zeichnen.“ Viele solche Zeichnungen aus der Zeit vor 200 Jahren sind uns erhalten geblieben. Wie wird es unseren Farbvergrösserungen im Jahre 2200 wohl gehen?

49.    Fremder Gast in einer UmbruchzeitNach Oben

Ohne seinen Bruder Lukas, der zwölf Jahre älter war, hätte er es nicht geschafft. Was hätte er nicht geschafft? Nun weder die Firma noch das Haus noch den Lebenswandel noch sein aufwendiges Gästewesen noch die Zuwendung zu allem, was ihn interessierte und was ihm naheging. Er beteiligte sich mehr als einmal an Preisausschreiben, hielt auch Reden. In einer Rede kam er auf diese Kraft der Anteilnahme zu sprechen und formulierte, auf was sie sich alles bezieht: „Die Genussfähigkeit, deren wir empfänglich sind; den Wirkungskreis, den wir umfassen können; das Sitten-Verhältnis, worin wir stehen, und den Ruf, den wir erworben haben.“ Damit ist ein nach allen Seiten offener Mensch von einem gewissen Stand gekennzeichnet oder eben einer, der sich selber so versteht. Das noch heute Spannende liegt darin, dass er Zeuge einer der grössten Umbruchzeiten in der Geschichte war, die so gut wie alle Verhältnisse auf den Kopf stellte und vor allem bei Leuten von einem gewissen Stand tiefe Spuren im Privatleben zog.

Aber zurück zu seinem Bruder Lukas. Dieser sorgte in den äusseren Dingen so energisch für ihn, dass er sich in seinem etwas mehr als 60jährigen Leben ernsthaft nie materielle Sorgen machen musste. Lukas nahm ihn schon in die Firma auf, als er erst 13 Jahre zählte, sorgte für seine Ausbildung und baute ihm vor allem das Haus. Das heisst er liess ein Doppelhaus bauen, mit all dem notwendigen Drum und Dran, Vorfahrt, Brunnen, zwei Innenhöfen, zwischen denen die für die Firma notwendigen Produktionsräume untergebracht waren. Der jüngere namens Jakob liess sich das gern gefallen. Lukas war in solchen Dingen einfach effektiver, kontrollierte jede Rechnung persönlich, feilschte und beanstandete die kleinste Unregelmässigkeit – kein bequemer Bauherr. Also ein amusischer Mensch? Weit gefehlt: er liebte Musik, hielt sich sogar einen Hausmusikus und beauftragte den Architekten Samuel Werenfels, gehörige Musikräume einzurichten. Wohingegen Jakob mehr den literarischen Teil der Musen pflegte, selber dichtete und sich in Theaterstücken versuchte. Der Hausbau der beiden Brüder Sarasin zwischen 1762 und 1770 war auf jeden Fall das Basler Stadtgespräch; ins obere Haus, das Weisse, zog Jakob ein, das untere Haus, das Blaue, bezog Lukas Sarasin.

Über Jakob Sarasin wissen wir mehr, ganz einfach darum, weil er so gerne schrieb, also auch ein erstaunlich fleissiger Verfasser von Briefen war und seine Korrespondenzen sammelte. Sie sind zu grossen Teilen erhalten geblieben. Lukas wurde 1730 geboren, Jakob 1742, das Todesjahr für beide war 1802. Sie starben also als Bürger der Helvetischen Republik, die damals schon dem Untergang zusegelte. 1899 publizierte August Langmesser eine Auswahl von an Jakob Sarasin gerichteten Briefen mit einer biografischen Einleitung; 1914 legte Emil Schaub Lebensbilder beider Brüder vor. Der reiche Nachlass vor allem von Jakob Sarasin, in seiner Gesamtheit nicht publiziert, ist eine einzigartige Quelle für das geistige Leben im Raum Strassburg-Emmendingen-Zürich-Biel-Basel vor der Revolutionszeit. Politisch waren die Verhältnisse erstarrt, 22 Jahre musste Jakob warten, bis ihm endlich das Losglück 1788 zum Einzug in den Grossen Rat half. Zürcher Freunde schüttelten den Kopf, dass man diesem Mann nicht schon längst eine entscheidende Rolle in den Behörden zugehalten hatte.

Und dennoch merkwürdig: bei all seiner Integrationsfreude auch ins politische Geschehen wurde er oft als „fremder Gast“ bezeichnet. Etwas hielt die Mitbürger auf Distanz. Dieser Jakob Sarasin lebte in einer anderen, weil grösseren Welt, gewissermassen nur zufällig in die eigene Stadt geraten. Das war nicht allein sein Reichtum, der übrigens nach Ausbruch der Revolution schnell zurückging. Das Kapital der Firma hatte 1786 noch 100'000 Gulden betragen, 1794 stand es auf 26'875 Gulden. Jakob Sarasin verkaufte Pferde und Kutsche. Fremder Gast war er viel eher, weil er als Freund und Briefschreiber, Gelegenheitsdichter und Moralist in einem intellektuellen Kreis lebte, der den meisten Mitbürgern im immer noch zünftisch-patrizisch organisierten Basel fremd und offen gestanden exotisch vorkam.

Wie musste man denn einen Mann einschätzen, bei dem Kaiser Joseph II. (am 19. Juli 1777) inkognito als Graf von Falkenstein abstieg, später (11. Juli 1784) Prinz Heinrich von Preussen als Graf von Oels, und bei dem (15. Oktober 1789) die Fürstin von Anhalt-Zerbst zu Gast war, ferner die aus Mömpelgard vertriebenen Prinzen Eugen von Württemberg und seine Gattin Dorothea Sophie von Preussen (Winter 1791/2)? Der aber zugleich Christof Kaufmann, den abstinenten und als Vegetarier lebenden, theatralischen Inbegriff des Genies aus der Sturm- und Drangzeit beherbergte, daneben dem unglücklichen Liebhaber von Goethes Friederike, Jakob Michael Reinhold Lenz, beistehen wollte? Jakob Sarasin half dem Schwager Goethes Johann Georg Schlosser eine Kuh schenken, dichtete zusammen mit Maximilian Klinger, auf den der Begriff „Sturm und Drang“ zurückgeht, einen Roman, korrespondierte mit Sophie von La Roche, die das „Fräulein von Sternheim“ publizierte, reiste zu Heinrich Pestalozzi und schickte ihm Geld, besuchte den durch die sogenannte Halsbandaffäre – ein angeblicher Bestechungsversuch an der Königin Marie Antoinette – bekannten Kardinal Rohan in Strassburg und erklärte sich als Freund und Verehrer des falschen Grafen Cagliostro, für den er im Weissen Haus selber Salben und Tinkturen herstellte.

Vor allem diese Verbindung mit Cagliostro, der 1783 für die von ihm gegründete Freimaurer-Loge in Riehen einen speziellen Pavillon, den Glöcklihof, bauen liess, umgab Jakob Sarasin in den Augen der Zeitgenossen mit einer exotischen Aura. Sarasin aber war von unendlicher Dankbarkeit diesem unfassbaren Mann gegenüber erfüllt – ganz einfach darum, weil Cagliostro die heissgeliebte Gertrud, geborene Battier, die zehn Jahre jüngere Gattin Sarasins, von ihren Anfällen hatte heilen können. Die Liebesbeziehung Sarasins zu seiner Frau hat im verspielten Rokoko-Zeitalter etwas Ergreifendes; die tiefe Trauer über ihren Tod 1791 drohte die Kraft seiner Anteilnahme mattzusetzen.

Vom Jahrgang und nach seiner Gesinnung war Jakob Sarasin ein Mann des alten Regimentes. Aber 1798, als Basel sich als erster Stand der Eidgenossenschaft freiwillig revolutionierte, rutschte er als Ersatzmann in die revolutionäre Nationalversammlung. Er war es, der nicht nur den Colmarer Dichter Gottlieb Konrad Pfeffel, sondern eben auch den Goethe-Freund Johann Heinrich Merck und Cagliostro selber an die Tagungen der Helvetischen Gesellschaft einlud und sich von Catharina Schweighäuser aus Strassburg die revolutionären Ereignisse im Elsass in jedem Detail berichten liess. Er war Gast, Zuschauer voller Anteilnahme, aber im letzten unberührt, die unglaublichen Veränderungen seiner Zeit nahm er ohne Kummer und gelassen hin.

50. Kreativ, kommunikativ und interdisziplinär ...Nach Oben

Moderne Stichworte dieser Art, zum Beispiel auch innovativ, gruppendynamisch und vernetzt, dominieren unsere Gegenwart. Sogar Generaldirektoren nehmen sie liebend gern in den Mund. Frühere Jahrhunderte, die sich selber zwar auch als modern empfanden, kommen uns daneben fabelhaft gemütlich vor. Wir haben rund um die Welt einen Krieg am Fernsehen erlebt, das ist schon etwas anders als der in der „Post“ von Müllheim seinen Schoppen Markgräfler trinkenden und über das Weltgeschehen nachdenkenden Johann Peter Hebel. Obwohl auch der am Anfang Bonaparte wie Saddam Hussein betrachtete und erst später von Napoleon als dem Friedenskaiser sprach. Die Welt ist sehr anders geworden. Wirklich?

In den Editions du Rhin in Mülhausen ist ein Buch über Jean-Frédéric Oberlin, den Wohltäter des Steintales, erschienen. Das Steintal, französisch Ban-de-la-Roche, liegt nordwestlich von Strassburg, also ein wenig jenseits des Dreilandes, ist aber mit ihm eng verknüpft. Jean-Frédéric Oberlin (ich lasse es beim französischen Namen, auch wenn er besser deutsch sprach) lebte von 1740 bis 1826, wurde als 86 Jahre alt – für die damalige Zeit, noch viel mehr als für uns, ein wahrhaft biblisches Alter. Von Beruf war er Pfarrer, protestantischer Pfarrer in Waldersbach. Aber eine solche Bezeichnung führt schon leicht in die Irre. Man könnte auch vom Oberlin dem Pädagogen, von Oberlin dem Naturforscher, von Oberlin dem Industriellen, von Oberlin dem Agronomen sprechen.

Man muss sich die Zeitläufe in Erinnerung rufen, um den Hintergrund hinter dieser auf den ersten Blick so friedfertigen Existenz zu entdecken. 1789 Revolution im Elsass – nicht gegen die französische Krone, sondern gegen die alten, sozusagen aus dem deutschen Reich geerbten Adelsprivilegien. Kriege ab 1792, dem Jahr, da in Strassburg die Marseillaise entstand. Basler Frieden 1795 zwischen Preussen und Frankreich, aber bald beginnen die eigentlichen napoleonischen Kriege bis weit nach Deutschland, Spanien und Russland hinein. Napoleons Rückzug aus Moskau, der Einmarsch der alliierten Heere in Frankreich, Napoleons Herrschaft der 100 Tage, dann die Schlacht von Waterloo. 1815 Abschluss des Wiener Kongresses, die Neuordnung Europas, das Elsass bleibt französischer Besitz, die deutschen Fürstentümer werden auf den napoleonischen Grenzziehungen zum Teil ganz neu geordnet. Über Elsass-Lothringen, aber auch über Basel, rollen die Wellen napoleonischer und alliierter Koalitionen – und da sitzt in einem Vogesental ein einfacher Pfarrer, immer am gleichen Ort, und hat nur das Wohlergehen seiner Talschaft im Sinn. Dafür setzt er alle Hebel in Bewegung.

Zum Beispiel als Agronom: Er lehrt seine Bauern neue Düngemethoden, ermuntert sie, Bäume zu pflanzen und die Wälder aufzuforsten, fördert den Anbau der Kartoffel.  

Oder als industrieller Berater: Er hilft bei der Einrichtung einer mechanischen Spinnerei und unterstützt die Strassburger Familie de Dietrich bei der Wiederbelebung der lokalen Eisenindustrie.

Als Pädagoge: Er kümmert sich um die Schulung von Mädchen und Knaben, entwickelt eigene pädagogische Systeme, verfasst didaktische Lehrmaterialien und verarbeitet die Erkenntnisse seines Zeitgenossen Pestalozzi, den er mit glühendem Herzen liest.

Als Ökologe: Wiederverwendung von natürlichen Materialien, sparsamer Energieverbrauch, organische Kreisläufe in der Landwirtschaft sind seine Postulate. Modern gesagt: Recycling.

Als Financier: Für seine Gemeindemitglieder gründet er Kassen, die recht eigentlich als Vorläufer der späteren Raiffeisen-Banken gelten können.

Daneben ist er Botaniker, Naturforscher, Spielzeugmacher, Esoteriker, ein leidenschaftlicher Bücherleser und zuletzt – oder vielmehr zuerst – auch Seelsorger, praktischer Pfarrer mit langen Stunden an Krankenbetten. Papa Oberlin nannten ihn die Leute, und seine heutigen Verehrer sagen ihm noch immer so.

Schaut man auf das Netz der geistigen Beziehungen und der tatsächlichen Kontakte, wird dieser Landpfarrer im kargen Steintal zu einer geradezu europäischen Figur. Von dem etwas älteren Basedow in Dessau übernahm er pädagogische Prinzipien, desgleichen vom revolutionär gesinnten Campe. Mit einem der wichtigsten Theoretiker der Französischen Revolution, dem Abbé Grégoire, korrespondierte und konversierte er. Die pietistische Baronin von Krügener besuchte ihn. Er hinwiederum besuchte den blinden Fabeldichter Pfeffel in Colmar. Der abgewählte helvetische Direktor, der Basler Lukas Legrand, zog sich zu Oberlin als industrieller Berater zurück. Oberlin suchte die physiognomischen Theorien Lavaters in die Praxis umzusetzen. Deutsche, Schweizer, Engländer, Franzosen wurden zusehends auf ihn aufmerksam. Dank seinem ständigen Drängen investierten die de Dietrich gewaltige Summen in die industrielle Entwicklung des Tals – da war, vermutlich aus der Kasse des Peter Ochs, auch Basler Kapital dabei.

Im Jahr 1835 sitzt in Zürich ein 21jähriger, politisch verfolgter Student und schreibt anhand von Textvorlagen eine Novelle mit dem Titel „Lenz“. Es ist die Geschichte von einem Aufenthalt des gemütskranken Jakob Michael Reinhold Lenz (1751-1792) beim Papa Oberlin im Steintal. Lenz, mit Goethe bekannt, liebte die von Goethe verlassene Friederike Brion. Da ist zu lesen: „In den Hütten war es lebendig, man drängte sich um Oberlin, er wies zurecht, gab Rat, tröstete; überall zutrauensvolle Blicke, Gebet. Die Leute erzählten Träume, Ahnungen. Dann rasch ins praktische Leben, Wege angelegt, Kanäle gegraben, die Schule besucht. Oberlin war unermüdlich.“

Da schrieb Georg Büchner, das frühreifste Genie der deutschen Literatur. Und als Textvorlage diente ihm ein Bericht von Johann Friedrich Oberlin mit dem „Herr L.“

„Dichtung und Wahrheit“. Wahrhaftig: Das Dreiland am Oberrhein kann für sein kreatives, kommunikatives und interdisziplinäres Potential an eine Vergangenheit anknüpfen, die es so schnell nicht übertreffen wird. Und das Musée Oberlin in Waldersbach bleibt einer der Wallfahrtsorte unserer Regio.

51.    Die Erfindung der LandwirtschaftNach Oben

Wir stellen uns heute vor, dass die Landwirtschaft so etwas wie die ursprüngliche Beschäftigung der Menschheit gewesen sei, und dass das, was wir mit Erfindungen bezeichnen, auf dem Gebiet der Technik, der Wissenschaften, des Gewerbes und der Industrialisierung liege. Hier regiert die Innovation, hier herrscht Fortschritt, daneben aber pflügt der Bauer seine Felder wie eh und je und treibt das Vieh aus, macht Käse und erntet im Juni die Kirschen.

Die Wirklichkeit ist anders. Das 18. Jahrhundert mit seinen naturwissenschaftlichen Geräten, seinen mechanischen Künsten, der Erfindung des Blitzableiters und den raffinierten Spieluhren, eigentlichen Robotern, war auch das Jahrhundert der Erfindung der Landwirtschaft. Der Oberrhein bietet dafür ein auffallendes und schon für die Zeitgenossen eindrückliches Beispiel, diesmal auf der badischen Seite. Möglich gemacht hat es der Markgraf Karl Friedrich (1728-1811), der, was schon damals bewundert wurde, ganze 65 Jahre lang bis zu seinem Tod regierte. Er war ein reformfreudiger Herr, und die blühende Landwirtschaft Badens, dessen Freundlichkeit in den Versen Johann Peter Hebels nachklingt, dankt es ihm.

Aber man darf die dunkeln Hintergründe nicht vergessen. Nicht nur der Dreissigjährige Krieg, sondern fast noch mehr die Erbfolgekriege Frankreichs hatten das Land, die obere und untere Markgrafschaft mit ihren vielen Enklaven im vorderösterreichischen Gebiet, in den Ruin getrieben. Drei Viertel der Bewohner waren erschlagen oder vertrieben, ganze Dörfer dem Erdboden gleichgemacht. Geld fehlte überall; noch 1739 lag der Zinsfuss für entlehntes Geld auf 32 Prozent. Wo Bauern überlebt hatten, arbeiteten sie nach dem alten Prinzip der Dreifelderwirtschaft, von denen immer eines brach lag; die selbst gezüchteten Pferde hatten bestenfalls die Grösse von Eseln. Viel mehr als Hanf, Holz und Holzkohlen, Wein, Getreide und Kirschwasser wurde nicht produziert. Die Strassen waren miserabel. Der Alkoholismus herrschte, was der Spruch eines Basler Ratsherren belegt, der sich nach einem Malheur an der fürstlichen Tafel mit dem Satz entschuldigte: „Wo Trinken eine Ehre ist, ist Vomiren keine Schande.“

Markgraf Karl Friedrich kannte seine Bauern; er wusste, dass Dozieren nichts hilft, nur das Beispiel zählt. Die sogenannten Kammergüter, die durch die markgräflichen Kammern verwaltete wurden, machte er zu Versuchsbetrieben; auf den eigenen Domänen begann er mit systematischen Meliorationen und Anpflanzungen. Samen und Stecklinge gab er gratis an die Bevölkerung ab. Für die Kartoffeln, von denen viele Bauern noch nichts wissen wollten, beschaffte er sich möglichst vielversprechendes Saatgut. Er führte die Runkel- und Stoppelrübe ein, Krapp zur Farbstoffgewinnung, Raps für Öl und den Tabak. Statt das Land brachliegen zu lassen, sollte es mit Klee oder Esparsette bepflanzt werden; für den Flachsbau zu Textilzwecken liess er ausgesuchte Samen kommen. Viehweiden wurden gegen die Kulturen polizeilich abgegrenzt, Bachverbauungen gegen Erosionen eingerichtet.

1760 war ein kaltes Jahr, viele Reben erfroren. Die markgräfliche Verwaltung suchte nach besseren Rebsorten, verteilte gratis Stecklinge. Seine eigenen Gärtnereien kümmerte sich in Deutschland und den Nachbarländern um ertragreichere Obstsorten, in den Gemeinden wurden Baumschulen angelegt. Baumpflege wurde ein Schulfach. Nach dem Wunsch des Markgrafen entstanden entlang den Wegen Alleen von Pappeln, Weiden und Linden.

Nicht alles war erfolgreich. Der Markgraf hatte gehofft, dass die Seidenkultur Kindern, älteren oder gebrechlichen Leuten neue Erwerbsmöglichkeiten bringe. Zu diesem Zweck liess er überall Maulbeerbäume für die Zucht von Seidenraupen pflanzen. Vielleicht schätzte er sowohl das Klima wie die notwendigen Fertigkeiten seiner Untertanen falsch ein. Dafür bewährten sich die Zuchtanstalten; das niedrige Landpferd der Hardt wurde zu einer stattlichen Rasse hochgezüchtet.

Die ersten Erfolge der Landwirtschaftspflege wurden um 1760 sichtbar, mehr und mehr machten auch die Bauern mit. Karl Friedrich, der bis zu handschriftlichen Protokollnotizen persönlich Anteil nahm, verordnete so etwas wie einen zweiten Schub nach 1770. Junge Badener wurden zur Erweiterung ihrer Pferdezuchtkenntnisse nach England geschickt, Rebleute holten sich neue Erfahrungen im Burgund und in der Champagne. Reiseberichten der Zeit kann man entnehmen, das die badischen Wiesen besonders schön waren. Meliorationsarbeiten und Bachverbauungen, neue Düngermethoden standen dahinter. Aus Spanien liess der Markgraf Schafe kommen, die auch eine bessere Wolle gaben. Die Bienenzucht wurde verfeinert, die Kalender, an denen Johann Peter Hebel mitarbeitete, gaben fachliche Ratschläge an jeden Haushalt weiter. Eigentliche Schulungsarbeit im Rebbau und im Forstwesen musste geleistet werden. Von Jahr zu Jahr wurde die Markgrafschaft blühender, freilich brachten die kalten Winter von 1783/4 und 1788/9 arge Rückschläge; der Revolutionskrieg von 1792/3 mit Franzoseneinfällen und französischen Emigranten im Land stoppte vor allem die Meliorationsarbeiten.

Man hat den Eindruck, so etwas wie dem Wirken des gesunden Menschenverstandes zuzuschauen. Aber die Hintergründe sind etwas komplexer. Karl Friedrich interessierte sich lebhaft für die Theorie der sogenannten Physiokraten. Diese gingen davon aus, dass die eigentliche Urproduktion eines Landes Landwirtschaft und Bergbau seien, dort entstehe im Sinn eines Mehrwertes der tatsächliche Reichtum. Also sei es unzulässig, die Landwirtschaft durch Abgaben und Zehnten und Zinsen zu belasten, man müsse vielmehr eine einzige Steuer auf den Grundstücken erheben, daneben völlige Gewerbefreiheit verordnen. War diese Theorie richtig? Um eine Antwort schlüssiger Natur zu bekommen, richtete der Markgraf 1769/71 insgesamt drei Gemeinden Badens nach physiokratischen Prinzipien ein. Das Experiment misslang. Die Gewerbefreiheit wurde sofort zur Einrichtung von Dorfschenken missbraucht, die Bauern konnten sich nicht daran gewöhne, aus den laufenden Erträgen die Grundsteuer zur Seite zu legen. Der Markgraf war einsichtig genug, den missratenen Versuch abzubrechen.

Man darf ohne Übertreibung sagen, dass die Erfindung der Landwirtschaft durch Karl Friedrich weit über die damalige, noch zerstückelte Markgrafschaft hinaus weiterwirkte, und dass, als zu Beginn des 19. Jahrhunderts das dreimal grössere Grossherzogtum Baden vom Bodensee bis nach Mannheim entstand, seine Lehren in ganz Süddeutschland und in der Schweiz schon ihre Wirkung getan hatten.

52.    Warum Mülhausen französisch wurdeNach Oben

Politisch wurde Mülhausen 1798 Teil der Französischen Republik. Bürgerschaft und Räte beschlossen das auf durchaus demokratische Weise, wobei die damalige Demokratie von unserer heutigen mit dem allgemeinen Stimmrecht erheblich verschieden war.

Wirtschaftlicher Druck von Seiten Frankreichs hatte beim Entschluss nachgeholfen. Was sollte diese eidgenössische Enklave in der französischen Randzone – vor allem nachdem die katholischen Eidgenossen die Stadt nicht mehr als Bundesgenossen betrachteten? Sie hatten ihr sogar die Schmach angetan, die Bundesbriefe mit abgeschnittenen Siegeln zurückzuschicken. Mülhausen konnte sich nur noch als die Verbündete von Basel, Bern, Zürich und Schaffhausen betrachten. Aber auch diese Rumpfeidgenossenschaft war 1798 nicht mehr handlungsfähig. Das dank Bonaparte militärisch erfolgreiche Frankreich, das mit dem Frieden von Campo Formio über Habsburg triumphierte und vom Waadtländer César La Harpe offen zum Einmarsch in die Schweiz ermuntert wurde, hatte die alten Gewalten in der Eidgenossenschaft so erschüttert, dass sie politische kopf- und ratlos geworden war. Mit dem Beitritt zur Französischen Republik hingegen eröffneten sich für Mülhausen ganz neue Perspektiven, wirtschaftliche so gut wie politische und eben auch geistige. Dazu kam, dass die Gesellen im Mülhauser Gewerbe immer deutlicher republikfreundliche Parolen äusserten – ein Verbleib von Mülhausen bei der Eidgenossenschaft und somit beim alten Ratsherrenregiment drohte zu einer inneren Revolution zu führen.

Wenn man heute, aus der Schweiz oder von Deutschland her, elsässische Städte besucht, wirken Orte wie Schlettstadt oder Rufach in einem mittelalterlichen Sinn „germanischer“ als das nicht viel weiter von der Grenze entfernt liegende Mülhausen. Dieses macht in der baulichen Anlage, aber auch in der Art seiner Bewohner einen „französischeren“ Eindruck. Das kommt sicher auch daher, dass der mittelalterliche Kern von Mülhausen weniger intakt als in andern Städten ist. Aber da muss noch mehr dahinterstecken. Denn Mülhausen war doch jahrhundertelang eine Reichsstadt, seine Akten wurden noch im 16. und 17. Jahrhundert auf deutsch verfasst. Hat Mülhausen etwa schon der Reunion des Elsass mit Frankreich nach dem Dreissigjährigen Krieg zugestimmt? Überhaupt nicht und sogar im Gegenteil: Mülhausen wollte eidgenössisch sein und bleiben, zugleich reformiert und in einem engen Austausch mit der benachbarten Schwesterstadt Basel, mit der die Mülhauser viele familiäre, wirtschaftliche, akademische und berufliche Bande verknüpften.

Paradox genug: am spürbar französischen (oder französischeren) Charakter von Mülhausen ist einesteils die aus der deutschsprachigen Schweiz importierte Reformation und sind andernteils die aus der Schweiz hinzuströmenden Zuzüger schuld.

Reformiert wurde Mülhausen im Gefolge von Basel und Hand in Hand mit Basel. Seit 1506 waren beide Städte verbündet. Die Reformation war auch eine politische Bewegung – man denke an die um 1525 vor allem im Elsass ausgebrochenen Bauernunruhen. Die politische Konstellation war in Mülhausen ähnlich wie in Basel: die Reformation half einem zünftisch gesinnten Bürgertum gegen die alten feudalen Gewalten, in Basel gegen den Fürstbischof, in Mülhausen gegen die habsburgische Reichsvogtei in Ensisheim. Während aber in der Schweiz nach den Kappeler Kriegen eine einigermassen stabile Aufteilung in reformierte und altgläubige Orte stattfand, litt Frankreich in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts unter schlimmen Glaubenskriegen.

Hier kommt nun die spezifische Grenzlage Mülhausens ins Spiel. Französische Protestanten, wenn sie Frankreich nicht einfach endgültig Richtung Holland oder Preussen oder auch Richtung Schweiz verlassen wollten, konnten sich zuerst einmal nach Mülhausen flüchten. Sie blieben dann in der Nähe von Burgund und Lothringen, befanden sich aber auf unangefochten protestantischem Boden, keiner feudalen Obrigkeit unterworfen. In den deutsch geschriebenen Chroniken von Henric-Petri und Fürstenberger lässt sich nachlesen, welch gewaltigen Eindruck die französischen Religionskriege auf die Mülhauser machten und wie immer wieder calvinistisch-reformierte Franzosen im eidgenössischen Mülhausen Zuflucht fanden. Jede dieser Hugenottenfamilien, wenn sie in Mülhausen bleiben konnten, verstärkte das französische Element der Bevölkerung.

Dann kam der Dreissigjährige Krieg, die grosse Auseinandersetzung zwischen dem katholisch-kaiserlichen Habsburg und den protestantischen Reichsfürsten, zugleich ein Kampf zwischen dem mehr protestantischen Norden und dem katholischen Südosten, der Mächte wie Spanien und Schweden, dann auf protestantischer (weil antihabsburgischer) Seite auch Frankreich involvierte, also zu einer europäischen Auseinandersetzung wurde. Das oberrheinische Gebiet, das nicht nur die europäische Kornkammer, sondern auch so etwas wie der europäische Obstgarten und Weinkeller war, erlitt die Schrecken dieses Krieges erst nach 1632. Aber dann war es für Jahre Schauplatz scheusslicher Kämpfe, von Requisitionen und Raubzügen. Es verlor stellenweise die halbe Bevölkerung – und wurde gerade dadurch interessant für Zuzüger. In diesem Elsass war dem eidgenössischen Mülhausen ein gnädigeres Schicksal beschieden, es blieb unversehrt, mit den Eidgenossen wollte es keine der Kriegsparteien verderben.

Es ist staunenswert, was diese kleine Stadt an Flüchtlingen alles aufnahm, fast 30 Prozent der Einwohner waren zeitweise Asylanten, wie wir heute sagen würden. Raymond Oberlé, der frühere Stadtarchivar von Mülhausen, hat die Lage der Stadt in diesem Krieg in einem umfangreichen Buch beschrieben. Sein Nachfolger Jean-Luc Eichenlaub hat die Register der alten Mülhauser Familien nach dem Krieg von 1668 bis zur Revolution rekonstruiert.

Die Befunde sind überraschend: Der Zufluss von hugenottischen Flüchtlingen französischer Sprache führte 1661 zur Gründung einer französischen Gemeinde in Mülhausen. Die ersten sechs Pfarrer bis 1710 aber waren Schweizer, Berner, Bieler, Neuenburger, Basler. Und diese Berner sprachen französisch, waren also wohl Waadtländer oder Seeländer. Die Namen der Gemeindemitglieder sind auch angeführt samt ihren Herkunftsorten. Da entdeckt man Neuenburger, Waadtländer, Jurassier, Genfer, sogar protestantische Freiburger. Für sie alle waren das Elsass und seine den oberen Teil bestimmende eidgenössische Stadt nach den Schrecken des Krieges ein untervölkertes und darum verlockendes Gebiet. Hier kam man billiger zu einem fruchtbaren Land als auf den kargen Jurahöhen oder im Vorland der Waadtländer Alpen. Es waren also Schweizer französischer Zunge, oft Untertanen der Gnädigen Herren von Bern oder des Basler Fürstbischofs, die ins Elsass auswanderten und zusammen mit zuziehenden Hugenotten das französische Element im ursprünglich deutschsprachigen Mülhausen verstärkten. Und wenn heute ein nach Westen fahrender Basler hinter Rixheim den Eindruck gewinnt, jetzt endgültig auf französischem Territorium angekommen zu sein, so hat das seine geschichtliche Logik.

53.    Ein deutscher Franzose mit Schweizer PassNach Oben

Geboren wurde er 1736, gestorben ist er 1809. Er wurde also 73 Jahre alt. Er hat sein eigenes Land und Europa sich verändern sehen, vom alten Königtum über die Revolution, die jakobinische terreur bis zu Napoleon. Seine Familie stammt aus Schwaben, aber der französische Intendant des Elsasses d’Angervilliers bewog seinen Vater, am Conseil souverain d’Alsace mitzuarbeiten. So kam er in Colmar zur Welt und blieb in Colmar sein Leben lang.

Das war nicht nur ein Bedürfnis nach Sesshaftigkeit, sondern eben auch eine Folge seiner Behinderung, weil er schon als Jugendlicher Sorgen mit seiner Sehkraft hatte. Er erblindete, heisst es, mit 22 Jahren; ob er wirklich ganz blind war, lässt sich schwer entscheiden, da er immer wieder davon sprach, er hätte soeben etwas gelesen. Wahrscheinlich las es ihm seine Frau vor, sie war in diesem Sinn sein Freund,

„der mit mir liest und mit mir denkt,

der mit mir lacht und weint.“

Aber auf jeden Fall: ein Blinder oder stark sehbehinderter Mensch geht nicht gern auf Reisen. Darum reisten die Leute zu ihm. Und eine imponierend umfassende Korrespondenz mit seinen Zeitgenossen ist erhalten geblieben. Briefpartner in Basel zum Beispiel war der Seidenbandherr Jakob Sarasin, dessen merkwürdiges Beziehungsnetz zu Dichtern und Künstlern, Revolutionsfreunden und Monarchen, Pietisten und Hochstaplern die geschichtlich häufig übersehenen geistigen Hintergründe des 18. Jahrhunderts in Basel andeutet.

Der erblindete Colmarer ist Gottlieb Konrad Pfeffel, eine in der damaligen literarischen Welt weit herum bekannte, hochgeachtete und sogar verehrte Figur. Er dichtete sein ganzes Leben hindurch. In der Ausgabe seiner „Poetischen Versuche“, 5. Auflage Tübingen 1816/21, werden seine Gedichte chronologisch geordnet. Sie beginnen 1754 und enden 1801. Also hat da einer 47 Jahre lang gedichtet und mit 18 Jahren ein Werk begonnen, das er noch mit 65 Jahren weiterführte. Der Verleger Cotta muss zufrieden gewesen sein, dass eine Auflage der anderen folgte.

Waren die Gedichte so gut, dass die Zeitgenossen sich darum rissen? Von heute aus ist das schwer zu sagen; unsere literarische und politische Welt ist anders geworden. Antike Götter und Schäferinnen, orientalische Grabstätten und Turteltauben gehen uns nicht mehr viel an. Aber Witz hatte Pfeffel schon:

„Ein trunkner Schweizer sah die Aare

sein Haus bedrohn. Was?, rief er aus,

das leid ich nicht! Schon zwanzig Jahre

darf mir kein Wasser in mein Haus.“

Die Faszination der Zeitgenossen aber muss sich noch an ganz andern Dimensionen seines Werkes entzündet haben. Pfeffel war, obschon im praktischen Alltag zweisprachig, ein deutscher Poet. Politisch war er Elsässer, also Frankreich zugehörig. Und dieses Frankreich begann sich nach 1789 unvorstellbar zu wandeln, beeinflusste heftig auch Süddeutschland und die Schweiz. Ein Dichter nun, der sozusagen laufend das Weltgeschehen poetisch umsetzte, es in gereimten Fabeln und Allegorien versteckte, die doch für jedermann verständlich waren – das bewegte die Leute. Man war ja noch nicht so weit, dass sich im deutschen Sprachraum alles ungestraft sagen liess. Nun goss hier einer seinen gereimten Spott über die Gegenwart aus, zum Beispiel über die rasende Entwertung des Papiergeldes der Französischen Revolution:

„Wie seltsam geht es in der Welt?

Sonst nahm der Dieb uns unser Geld;

ich muss das Gegenteil erleben.

Seitdem der Schelm dem Biedermann

für Geld Papier bezahlen kann,

so gibt es Diebe, welche geben.“

Das war nun wirklich aktuell. Aktuell waren 1792 auch seine Verse auf die Schweizer, die im Herbst dieses Jahres aus den französischen Diensten entlassen wurden, nachdem im August die Schweizergarde in Paris erschlagen worden war. Aus dem Jahr 1798, dem Jahr des Untergangs der alten Eidgenossenschaft, stammt ein anderes Gedicht:

„Erreicht mein Fuss einst auf dem schmalen Stege

das Paradies, so frag ich an der Tür:

Gibt’s Revolutionen hier?

Und sagt der Pförtner, ja, so geh ich meiner Wege.“

Pfeffel, der deutsche Poet und der elsässische Erzieher – er lebte bis 1793 von einer privat betriebenen Militärschule in Colmar – war nicht nur Briefpartner von Baslern und Zürchern, sondern sogar Schweizer Bürger. Ursprünglich wollte er Basler werden für den Fall, dass die Verhältnisse im Elsass untragbar würden. Als die Basler sich wie meistens zugeknöpft zeigten, erwarb er 1782 das Bürgerrecht des mit den Eidgenossen verbündeten zugewandten Ortes Biel. Seiner Blindheit wegen scheute er vor Reisen zurück. In Basel aber war er dennoch gelegentlicher Gast bei Jakob Sarasin im Weissen Haus; an die Helvetische Gesellschaft, die ihn 1785 zu ihrem Präsidenten machte, ist ein langer Hymnus gerichtet; der Tod Lavaters betrübte ihn sehr. Die Frau Jakob Sarasins nannte er Zoë, ihrer Schönheit widmete er viele Zeilen.

Spannend ist es, seine Stellung zur französischen Staatsumwälzung zu beobachten. Den vorrevolutionären Staat in Frankreich sah er von einem Faulfieber bedroht; als dann die Revolution ausbrach, war er stolz, ein Franzose zu sein. Als die deutschen Fürsten mit der Wiedereinführung der Monarchie drohten, wurde sein französischer Patriotismus flammend. Dann wurde Ludwig XVI. hingerichtet, Pfeffel schrieb an Sarasin: „In meinem Herzen löscht es den Franzosen aus, ich bleibe aber und sterbe ein Freund der wahren Freiheit, ein Schweizer.“ Die jakobinische terreur verdunkelte sein Frankreichbild, somit schloss er sich wieder mehr an Deutschland an. Das Aufkommen Napoleons empfand er als eine neue Ordnung, er widmete ihm lobende Strophen. Deutschland und Frankreich endgültig zu vermählen, schien ihm die schönste Möglichkeit:

„Traut jeden deutschen jungen Mann

mit einem schönen Kind der Franken,

so wird euch unsre Republik

und Deutschland bald das süsse Glück

des engsten Friedesbunds verdanken.“

Es ist wahr: aus literarischen Gründen wird man Pfeffel heute kaum mehr lesen. Aber als zugleich deutscher, französischer und schweizerischer Dichter, zu seiner Zeit sogar von Goethe verehrt, darf er auch ein wenig als dreifach einheimischer Poet des Dreilandes gelten.

54.    Ein Reichsland verschwindetNach Oben

Marco Jorio hat 1981 eine Dissertation geschrieben, die sich mit dem südwestlichen Teil des Dreilands befasst. Dort existierte über viele Jahrhundert nicht so sehr ein Staat als ein staatsähnliches Gebilde, ein Stück des alten Römischen Reiches deutscher Nation. Es nannte sich nach einer Stadt, die gar nicht mehr zu ihm gehörte. Es erstreckte sich vom Bielersee bis zur Burgundischen Pforte, von den Jurahöhen bis in die oberrheinische Tiefebene. Es zählte gegen 65'000 Untertanen. Mehrheitlich sprachen sie französisch, zum Teil aber auch deutsch. Im Süden waren sie reformierten Glaubens, im Norden katholisch. Staatsrechtlich war dieses Reichsland schon für die Zeitgenossen ein Unikum, da einzelne Herrschaften mit verschiedenen Schweizer Kantonen im Burgrechtsverhältnis standen, eine Stadt war sogar zugewandter Ort der alten Eidgenossenschaft. Daneben unterhielt der Landesherr ein eigenes Regiment in französischen Diensten und hatte mit Louis XVI. einen Allianzvertrag geschlossen. Zugleich war er mit den katholischen Eidgenossen verbündet.

Es herrschte ein gewählter Monarch. Und um die kuriosen Verhältnisse noch ein wenig kurioser zu machen, sass dieses Wahlkollegium nicht in der welschen Residenz des Fürsten, sondern mit dem Hofstaat im deutschsprachigen Zipfel.

Das war das Fürstbistum Basel um 1790, ein geistliches Hochstift mit der Residenz in Pruntrut und dem Hof des Domkapitels in Arlesheim. Die weltliche Herrschaft – eine weitere Merkwürdigkeit – deckte sich mit der geistlichen nicht, da kirchlich das Fürstbistum mit der Ajoie zu Besançon, mit Schliengen zu Konstanz, mit den südlichen Ämtern zu Lausanne und dann zur Diözese Basel gehörte. Dafür erstreckte sich die geistliche Herrschaft des Fürstbischofs auch über das Oberelsass, das vorderösterreichische Fricktal und grosse Teile des Kantons Solothurn. Finanziell lebte der Fürstbischof von Zins- und Zehntenerträgen aus dem Elsass und Breisgau, vom Warentransit, also Zöllen, und von seinen Einnahmen aus dem Solddienst. Der Warenhandel war stark defizitär. Getreide, Salz, Wein, Waffen und Medikamente mussten importiert werden.

Und jetzt bricht im benachbarten Frankreich 1789 die Revolution aus. Sie trifft das zwar arme, aber langsam aufblühende Fürstbistum an der empfindlichsten Stelle: Die Zinsen und Zehnten aus dem reichen Elsass fallen von einem Tag auf den andern weg. (Der Stadt Basel geht es nicht besser.) Fürstbischof ist seit 1782 Joseph Sigismund von Roggenbach, ein reformfreudiger Herr, der sich besonders des Schulwesens annimmt. Nach Ausbruch der Revolution bekommt er sofort mit den eigenen Leuten Schwierigkeiten, vor allem dem Vertreter der Elsässer Geistlichkeit in der französischen Nationalversammlung, dem Weihbischof Jean-Baptiste Gobel. Zuerst weigern sich die Bauern, den Kartoffelzehnt abzuliefern, im Sommer 1790 finden revolutionäre Versammlungen von Patrioten statt. Was soll der Fürstbischof tun? Er schickt Johann Heinrich Hermann von Ligerz zum Kaiser nach Wien, um österreichische Schutztruppen zu mobilisieren. Diese müssten zwischen Augst und Arlesheim Basler Gebiet überqueren. Der Basler Rat ist zuerst dagegen, dann wird auf Druck der Eidgenossen der Durchzug doch noch gestattet. Die Revolutionäre fliehen nach Frankreich; Gobel, der den verlangten Eid der Geistlichen auf die neue Verfassung geleistet hat, wird zum Lohn Erzbischof von Paris, aber 1794 guillotiniert.

Wie ein Film läuft jetzt das ganze Geschehen Szene um Szene ab: Am 20. April 1792 erklärt Frankreich Österreich den Krieg, ein Grund ist die Anwesenheit kaiserlicher Truppen in Pruntrut. Der französische General Custine marschiert sofort ein, besetzt die Jurapässe, schlägt sein Hauptquartier in Delsberg auf. Der Fürstbischof flieht nach Biel. Revolutionäre Jurassier kommen zurück. In einem in Delsberg geschlossenen Vertrag werden die südlichen Teile des Fürstbistums in die helvetische Neutralität eingeschlossen, im nordwestlichen Teil bleiben die Franzosen. In Arlesheim bleibt das Domkapitel vorerst unbelästigt, am 22. November aber kommt französisches Militär auf fürstbischöflichen Boden, in der Folge beginnt die Revolutionierung der im Grunde ihres Herzens bischofstreuen Arlesheimer. Ein Teil der Domherren ist schon nach Basel geflüchtet, wo auch der Domschatz liegt. Die übrigen erhalten Hausarrest, zwei werden nach Pruntrut entführt und eingesperrt. Der Fürstbischof ist nach Konstanz geflohen. Im Mai 1793 werden die verlassenen Domhäuser geplündert und verwüstet, der Dom dient als französischer Pferdestall. Anfang 1793 wird eine autonome Raurachische Republik ausgerufen, die aber schon kurz danach als Departement Mont-Terrible zu Frankreich geschlagen wird und später ans Departement Haut-Rhin fällt.

Das Ende des Fürstbistums war unaufhaltsam. Am 9. März 1794 starb der Fürstbischof von Roggenbach, sein (letzter) Nachfolger wurde Franz Xaver von Neveu, der das Licht der Welt auf dem Schloss Birseck erblickt hatte. Das Domkapitel sass wie nach der Reformation wieder in Freiburg im Breisgau. Die Revolution kochte weiter, jetzt wurden auch Klöster und Stifte geplündert. Der Fürstbischof von Neveu versuchte sich nach allen Seiten für seine Herrschaft zu wehren, aber der Kaiser hatte andere Sorgen. Die Eidgenossen sahen sich selber von Franzosen besetzt und riefen die Helvetische Republik aus. Der letzte Zipfel fürstbischöflichen Gebietes in Schliengen wurde Ende 1795 auch besetzt. Als die Franzosen sich Konstanz näherten, floh von Neveu ins luzernische Kloster St. Urban. Eine letzte Chance für den Erhalt seines Reichslandes erhoffte er vom Kongress in Rastatt, in den Bonaparte wie ein Irrlicht hineinzündete. Aber der ging Mitte Februar 1798 erfolglos auseinander. Der Fürstbischof zog weiter nach Ulm, dann nach Passau, endlich nach Wien. Er fand überall taube Ohren, so verkroch er sich schliesslich in seine Vaterstadt Offenburg. Er musste es noch erleben, wie der Markgraf Karl Friedrich von Baden die Herrschaft Schliengen von den Franzosen übernahm. Nach Napoleons Niederlage bei Leipzig hoffte von Neveu, mit Teilen des Fürstbistums wenigstens als Kanton der Schweiz beitreten zu können, aber dann gab der Wiener Kongress das ehemalige Fürstbistum an Bern als Ersatz für den Aargau und die Waadt, das Birseck fiel an Basel.

Dem Fürstbischof darf man es hoch anrechnen, dass er schliesslich zum Verzicht auf seine weltliche Herrschaft bereit war und sich nur noch auf seine geistlichen Ämter verlegte. Die neuen Nationalstaaten Frankreich, die Schweiz und das mit dem Segen Napoleons zusammengeschweisste Grossherzogtum Baden hatten ein Reichsland ausgelöscht, das auf keine Weise mehr in das neue Europa passte. Es dauerte mehr als 150 Jahre, bis aus den Trümmern des Fürstbistums der schweizerische Kanton Jura entstand, dessen südliche Grenze, wie zu den Zeiten der Fürstbischöfe, noch immer nicht zur Ruhe kommen will.

55.    Für den Bürgermeister eine Dose mit BrillantenNach Oben

Vermutlich war er ein Frühaufsteher, und um seiner Frau nicht lästig zu fallen, ging er schon zu morgendlicher Stunde aufs Büro. Er war ein guter Lateiner, was damals noch selbstverständlich war; französisch und deutsch sprach er von Haus aus, wahrscheinlich konnte er auch englisch und etwas holländisch. Alte Schriften zu lesen hatte er bei seinem akademischen Lehrer Johann Rudolf Iselin gelernt; Urkunden zu entziffern war für ihn eine Art von Sport. Das Staatsarchiv unterstand ihm, gewiss kümmerte er sich auch um dessen Ordnung. Um den Überblick zu gewinnen, begann er in aller Herrgottsfrühe alte Akten zu studieren, machte bald einmal Exzerpte und gliederte diese nach Perioden. Einige seiner Freunde beschäftigten sich intensiv mit Geschichte, zum Teil auf geradezu philosophische und poetische Weise. Als ausgebildeter Jurist interessierten ihn mehr Fakten, Verträge, auch volkswirtschaftliche Daten wie die Wein- und Kornpreise oder die Bevölkerungszahlen. In Nationen (wie Johannes von Müller) oder in der ganzen Menschheit (wie Isaak Iselin) zu denken, lag ihm nicht, Details faszinierten ihn. So schrieb er für die Geschichte seines eigenen kleinen Gemeinwesens möglichst faktisch und präzise, nach Perioden aufgeteilt, eben die Geschichte der Stadt und Landschaft Basel.

Daneben war er selber Politiker, auf dem Weg zu immer höheren Ämtern in seiner Vaterstadt. Dass er deren Geschichte und Gesetzt genauer kannte als die übrigen Ratsherren, machte ihn unentbehrlich und zugleich lästig. Er wusste ständig alles besser, obwohl er nicht einmal in Basel auf die Welt gekommen war. Noch mehr ärgerte die Leute, dass er dieses enorme historische Wissen mit damals unanständig modernen Ideen kombinierte. Die Menschen seien von Natur aus gleich, es könne keine Untertanen geben, Gesetze müssten für alle gelten und dergleichen. Dazu kam, dass er reich war, sich aus Geld nie einen Kummer machte. Auch kannte er die unwahrscheinlichsten Leute in Paris, Strassburg, Hamburg, sogar in Berlin und Wien, und konnte somit Amtsgeschäfte gelegentlich auf fast persönlicher Basis abwickeln. Überdies war er charmant, ein Gesellschaftshirsch, ein guter Sänger, und sein Vater hatte in Basel eines der schönsten Häuser gekauft.

Die Rede ist von Peter Ochs, dem damaligen Stadtschreiber und demnächst Oberstzunftmeister, also einem der vier regierenden Häupter der Stadt. Und jetzt sind wir im Jahr 1795, drei Jahre vor dem Untergang der alten Eidgenossenschaft. Da war das kleine Basel (mit kaum viel mehr als 15'000 Einwohnern) unversehens ins Scheinwerferlicht der internationalen Politik geraten: Das Königreich Preussen suchte mit dem republikanischen Frankreich einen Sonderfrieden im ersten Koalitionskrieg, Spanien würde sich anschliessen, desgleichen der Fürst von Hessen-Kassel und eventuell weitere deutsche Städte. Einleiten aber konnte diesen Frieden, hinter dem schon der Schatten Napoleons in die Höhe wuchs, niemand anders als der Basler Stadtschreiber. Basel wimmelte plötzlich von Diplomaten, die von Ochs teils offiziell, teils privat „komplimentiert“ wurden. Aus Preussen kamen Graf von der Goltz, dann der Fürst von Hardenberg, aus Schweden der Gesandte von Staël, aus Frankreich der im Dienst Barthélemys stehende, aus Thann gebürtige Legationssekretär Bacher, später der holländische Gesandte de Witt, die Vertreter von Genua, Frankfurt; die Städte Hamburg und Lübeck schickten Briefe. Begonnen hatte der ganze Verhandlungszirkus mit einem Weinhändler namens Schmerz, den der preussische Feldmarschall von Möllendorf für die ersten Abklärungen zu Ochs geschickt hatte.

Wahrscheinlich fühlte sich das offizielle Basel durch die internationale Tätigkeit seines Stadtschreibers ziemlich überfahren, im royalistisch gesinnten Bern herrschte Unmut, dass ein Miteidgenosse behilflich war, die deutsche Koalition gegen das republikanische Frankreich aufzubrechen. Am 5. April 1795 wurde der Friede mit Preussen, am 22. Juli derjenige zwischen Frankreich und Spanien unterzeichnet. Und Österreich? Der österreichische Resident von Greifenegg sass ja auch in Basel, auf der Kleinbasler Seite, und hatte natürlich die Vermittlungstätigkeit des Peter Ochs mitbekommen. Vorsichtige Sondierungen von Seiten Österreichs waren unterwegs; auf keinen Fall wollte der kaiserliche Hof in Wien den Anschein erwecken, aus militärischen Gründen einen Frieden mit Frankreich zu suchen. Und dann gab es noch ein sowohl familiär-dynastisches wie politisches Problem zwischen diesen beiden Mächten. Auf der einen Seite befand sich die Tochter Ludwig XVI. und seiner habsburgischen Gattin Marie Antoinette, die beide 1793 guillotiniert worden waren, in französischem Gewahrsam; auf der anderen Seite waren französische Volksrepräsentanten und Bevollmächtigte in der Gewalt Österreichs. Ein Austausch dieser Personen, die ein wenig die Rolle von Geiseln spielten, war denkbar und konnte zu einer Annäherung von Frankreich und Österreich führen. Wo waren sie besser austauschbar als auf neutralem Boden, also in Basel, das westwärts von der französischen Festung Hüningen und ostwärts vom vorderösterreichischen Gebiet um Rheinfelden und die Waldstädte flankiert war?

Ochs arrangierte diesen Austausch nicht selber, aber er wusste um die Hintergründe, bot hilfreich Hand – und schrieb es auf in seiner Geschichte von Basel. Das war seine andere, wiederum für viele Basler ärgerliche Seite als Historiker: Er führte diese Geschichte weiter bis in seine eigene Epoche und wusste auch, dass er in dieser Zeit eine entscheidende Rolle spielte, deren Bedeutung er als Protokollführer genau dosierte.

Die Prinzessin Marie-Thérèse-Charlotte, die damals noch nicht ganz 17jährige Tochter der Marie Antoinette, kam am 25. Dezember 1795 in der Festung Hüningen an. Am 26. Dezember nachmittags wurde sie nach Riehen gefahren in das Rebersche Landhaus. Beim Überschreiten der Grenze sagte sie: „Ich verlasse mit Bedauern mein Vaterland, ich verzeihe meinen Feinden.“ In Riehen befanden sich der französische Legationssekretär Bacher, der kaiserliche Minister von Degelmann und ein Prince de Gavre. Die Prinzessin hätte um Basel herum über die Birsbrücke Richtung Rheinfelden gefahren werden sollen, allein es herrschte Hochwasser, so fuhr sie durch die Stadt und dann über die heutige Grenzacherstrasse rechtsufrig rheinaufwärts. Die französischen Staatsgefangenen der Österreicher – Ochs gibt acht Namen – wurden am selben Tag durch österreichische Offiziere dem Basler Landvogt Legrand übergeben und speisten am 27. Dezember mit ihrem Gesandten Barthélemy und natürlich Peter Ochs beim Wirt Erlacher zu Nacht. Unter ihnen befand sich auch der Postmeister Drouet, der 1791 den Wagen des flüchtigen Königs Louis XVI. aufgehalten hatte. Christian von Mechel, der Basler Galerist und Bilderproduzent, entwarf flugs ein Portrait der Prinzessin, und Ochs schrieb in seiner Geschichte Jahrzehnte später den ironisch distanzierten und seinen kritischen Ingrimm entlarvenden Schlusssatz: „Der Kaiser liess dem Bürgermeister Burckhardt eine mit Brillanten besetzte Dose, Reber einen brillanten Ring und dem Aide-Major Kolb, der die Bedeckung bis an die Grenzen ausführte, eine goldene Halskette zustellen.“

56.    Karriere-Diplomat in BaselNach Oben

Schweizerische Diplomatenstädte sind heute Bern und Genf. Vor 1789 war Genf eine eigene Republik, aber interessant wegen seiner Lage zwischen der französischen Krone, den Savoyern und den Schweizern. Die vorrevolutionäre Diplomatenstadt war Solothurn, gelegentlich auch Baden, weil es dort lustiger war und diese Stadt von mehreren eidgenössischen Orten regiert wurde. Diplomaten, die aristokratische Umgangsformen liebten, wählten gern Bern als Aufenthaltsort, da hatte man Stil und Lebensart und sass im Zentrum der militärisch stärksten Macht der Eidgenossenschaft. Basel war diplomatisch eher zweitklassig, die nächsten Machtzentren Strassburg und Karlsruhe lagen weiter weg, nur der österreichische Geschäftsträger zog Basel als Residenz vor, weil die alten habsburgischen Stammlande ja im Elsass gelegen hatten, weil der Breisgau praktisch vor der Tür lag und er für die vorderösterreichischen Lande mit den Waldstädten und dem Fricktal zuständig war.

Nachdem aber das revolutionäre Frankreich 1792 dem Kaiser den Krieg erklärt hatte und die Auseinandersetzung zwischen Frankreich und den deutschen Fürsten militärisch zu einem Kampf um den Rhein als französische Ostgrenze führte, wurde Basels Lage plötzlich spannend. Hier sass man ja am Scharnier dieser ganzen Front, einem Gelenk, das weder französisch noch kaiserlich noch badisch-markgräflich, sondern eben eidgenössisch war, und die Eidgenossen hatten mit ihren Regimentern im Dienst Frankreichs auch militärisch einige Bedeutung. Das hatte auf grausliche Weisse der Tod der Schweizer Garde im August 1792 gezeigt. Wenn also der preussische König als ein dem Kaiser zuerst treuer Reichsfürst an einen Rückzug aus diesem Krieg mit Frankreich dachte, war es ratsam, entsprechende Schritte auf einem neutralen Boden vorzunehmen. Dass diese schweizerische Neutralität sich mit einem offiziellen Soldbündnis mit der französischen Krone vertrug und es zuliess, dass Schweizer Truppen daneben in holländischen, englischen, italienischen Diensten standen, störte niemand.

So wurde Basel 1795 plötzlich zu einer Diplomatenstadt. Das war die Stunde für den Basler Ratschreiber Peter Ochs, den promovierten Juristen mit einem reichen staatsrechtlichen und historischen Wissen, mit guten internationalen Verbindungen und perfekten Französisch-Kenntnissen. Und es war die Stunde für François Barthélemy, den französischen Gesandten bei den Eidgenossen.

Zum Gesandten hatte ich noch Louis XVI. ernannt, derselbe Louis, der unterdessen mit seiner österreichischen Gattin Marie-Antoinette guillotiniert worden war. Aber das jakobinisch gewordene Frankreich rief diesen Diplomaten deswegen nicht zurück – ganz im Gegenteil: man war jetzt, da in Paris die terreur wütete, besonders darauf angewiesen, dass Frankreichs Interessen im Ausland durch Gesandte wahrgenommen wurden, die das Vertrauen ihrer diplomatischen Partner genossen und die alten Beziehungen weiterführen konnten. Das ergab für Barthélemy eine doppelt merkwürdige Lage, eine diplomatische einerseits und andererseits eine private, gewissermassen psychologische. Diplomatisch diente er jetzt einer neuen und revolutionären Regierung, von der die meisten eidgenössischen Orte, allen voran Bern, Solothurn und Freiburg, aber auch Luzern und die Innerschweizer Kantone nichts wissen wollten. Sich also vom republikanischen Frankreich bei den Schweizern akkreditieren zu lassen, war nicht möglich.

Wie Barthélemy das Problem löste, zeigt sein diplomatisches Geschick: er blieb einfach als nicht-akkreditierter Gesandter in der Schweiz, und wenn er an die führenden Politiker in den einzelnen Orten schrieb, deklarierte er seine Briefe als Privatkorrespondenz. Psychologisch war seine Lage delikater. Er trauerte über den Tod des Königs, verabscheute die jakobinische Republik, ängstige sich immer mehr über die Grobheit, mit der der Pariser Wohlfahrtsausschuss mit der Schweiz umzuspringen begann – und blieb dennoch auf seinem Posten. Er bewunderte und liebte die Schweiz. Hätte er seine Funktion aufgegeben, wäre er sofort zum verfolgten Emigranten geworden und seine grosse Familie in Frankreich – er selber war unverheiratet – wäre verfolgt und enteignet worden. Barthélemy war somit ein Ambassadeur contre coeur.

Geboren wurde er 1747. Der Aussenminister Louis‘ XV., Etienne-François Duc de Choiseul, protegierte ihn. 1768 begann er seine diplomatische Karriere als Sekretär in der französischen Gesandtschaft in Schweden. Dann kam er nach Wien, später nach London, wurde chargé d’affaires. Man sagte ihm eine fast beleidigende Höflichkeit nach, eine Eigenschaft, die ihm die Mitglieder des regierenden Wohlfahrtsausschusses spöttisch ankreideten. Er sei nicht mehr als ein diplomatisches Formular. Aber er war nützlich und nötig.

In dem von Peter Ochs vermittelten Basler Frieden von 1795 komplizierte sich die psychologische Lage Barthélemys noch einmal. Sein Auftrag war es, den Frieden zwischen dem republikanischen Frankreich und dem Königreich Preussen, ferner dem Landgrafen von Hessen-Kassel und dem Königreich Spanien herzustellen. Deutsche Fürsten sollten aus der Koalition mit dem Kaiser herausgebrochen werden. Barthélemy fand das eigentlich widerwärtig, hielt es für einen Treuebruch Preussens dem Kaiser gegenüber. Aber er redigierte zugleich einen Vertrag, nach dem Frankreich bis nach Holland an den Rhein vorrücken konnte. Den fünf Jahre jüngeren Ochs, der an französischen Revolutionsfeiern teilgenommen hatte und mit dem Blick auf die strategische Lage Basels fast bedingungslos für ein gutes Verhältnis mit Frankreich eintrat, mochte er nicht. Er fand ihn abscheulich – und mietete sich zugleich in seinem Haus, dem Holsteinerhof, ein.

Barthélemy liebte die alte, die aristokratische Schweiz, aber als die Basler Offiziere mit königlichen Orden an der Brust vor ihn traten, fand er das beleidigend. Als er kurz darauf selber Mitglied des Pariser Direktoriums wurde, überschwemmte Ochs sein Appartement mit Blumen zum Abschied. In Paris wurden die Gegensätze zwischen Barthélemy und Reubell sowie Barras unüberwindlich, nach wenigen Monaten deportierte man Barthélemy in die Verbannung nach französisch Guyana. Napoleon, damals Erster Konsul Frankreichs, holte ihn zurück und machte ihn zum Senator. Als der Senat am 18. Mai 1804 Napoleon zum Kaiser erklärte, gab es nur eine Nein-Stimme. Es war diejenige von Barthélemy. Konsequenterweise trug der Brief des Senats an die provisorische Regierung vom 1. April 1814, mit dem Napoleon als abgesetzt erklärt wurde, wieder die Unterschrift Barthélemys. Dafür machte ihn Louis XVIII. zum Pair de France, ernannte ihn zum Staatsminister und gab ihm das Grosse Kreuz der Ehrenlegion. Die Gewissenskonflikte, in die ihn seine politische Haltung immer wieder geführt hatte, schrieb er sich in einem Band Memoiren von der Seele. Er starb hochbetagt im Jahr 1830.

57.    Ein Paradies für SpioneNach Oben

Am Vorabend der grossen Französischen Revolution stellt man sich die Verhältnisse am Oberrhein gern altväterisch und etwas idyllisch vor. Da sind einfache Bauern im Sundgau und Schwarzwald, die ihre Weinberge pflegenden Elsässer, dazwischen die brave Stadt mit ihren puritanischen Seidenband- und Handelsherren, ängstlich auf Neutralität bedacht. Die Verhältnisse waren ja auch eng und überschaubar, die Stadt hatte in den 90er Jahren des 18. Jahrhunderts nicht einmal 16'000 Einwohner, man kannte sich gegenseitig. Für dubiose Elemente, Spione, Geheimdienste und Agenten war das nicht gerade ein vielversprechender Platz.

Denkt man. Aber man stellt sich etwas Falsches vor. Zum ersten herrschte Krieg zwischen dem republikanischen Frankreich und den deutschen Fürsten sowie dem Kaiser. Dessen Vorlande lagen im Breisgau, in den sogenannten Waldstädten und im Fricktal. Der Oberrhein war eigentliches Frontgebiet. Zum zweiten war das eine Region, in der viele Leute sowohl deutsch wie französisch sprachen und dazu noch Dialekt; da war es leicht, dass sich einer als ein ganz anderer ausgab. Zudem wimmelte es von französischen Emigranten auf der rechten Rheinseite und sogar in Basel. Eine ganze Armee unter dem aristokratischen Fürsten Condé dürstete danach, die Republik in Frankreich wieder abzuschaffen. Sogar aristokratisch gesinnte Schweizer stellten sich ihr zur Verfügung. Eine Armee der damaligen Zeit war begleitet von Sekretären, Boten, Ehefrauen samt Kindern, Händlern, Agenten und Zuträgern, manchmal sogar von Dichtern. Zum dritten verfügten die Basler, so sehr sie sich mit einer möglichst strikten Neutralität Mühe gaben, über etwas, das auch vor 200 Jahren kriegsentscheidend wichtig war, nämlich über die Postverbindungen der Handelshäuser. Diesen konnte man Briefe nach Paris und Berlin, Wien und Genua anvertrauen. Zudem war Basel noch immer ein leistungsfähiger Druckort, Flugblätter liessen sich hier leicht bestellen, und die Gazetten aus dem Ausland lagen in den Lesegesellschaften auf.

Mit seinem französisch-republikanischen sowie kaiserlich-markgräflichen Vorder-, seinem fürstbischöflichen und eidgenössischen Hinterland war Basel eigentlich ein Paradies für Spione. Dazu kam, dass in sichtbarer Nachbarschaft nordwestlich vor der Stadt die französische Festung Hüningen stand, deren Offiziere frei in der Stadt verkehrten. Der diplomatische Vertreter des Wiener Kaiserhauses, der österreichische Repräsentant, residierte in Kleinbasel. Der Gesandte der Französischen Republik, den die aristokratischen Berner und Solothurner nicht hatten akkreditieren wollen, hatte sich privat beim Basler Stadtschreiber Peter Ochs einquartiert. Das Fürstbistum hatte schon 1792 seine Revolution erlebt und war an Frankreich gefallen – Allschwil und Oberwil und Arlesheim, das ganze Laufental und der Jura waren französisches Territorium. Wer etwas ausspionieren wollte, hatte genug Möglichkeiten. Und nachrichtendienstliche Auftraggeber sassen praktisch in jeder Wirtschaft.

Nun werden Spionageberichte gewöhnlich nicht in Bibliotheken oder Staatsarchiven abgelegt, und darum ist es gar nicht so leicht, sich 200 Jahre später den Umfang und den Inhalt solcher Spionageberichte zu vergegenwärtigen. Auch die professionellen Historiker, selbst wenn sie ihre Vorliebe für bisher übersehene Sachverhalte und Dokumente bekunden, bringen uns oft nicht viel weiter. Im Bereich der historischen Forschung über Spionageberichte ist man auf interessierte Laien, extravagante Sammler und vor allem auf gut Glück angewiesen.

Da gab es einen Mann namens Valentin Probst, 1740 im elsässischen Rufach geboren, von Beruf Advokat, verheiratet und Vater von sieben Kindern. Er war in der Revolution Maire von Rufach geworden, reiste dann als Deputierter in Landesgeschäften nach Paris und erhielt dort vom Wohlfahrtsausschuss die ordre, sich nach Nürnberg zu begeben, wo er sich darum bemühte, vom Magistrat der Stadt als ein Kaufmann aus der Schweiz toleriert zu werden. Das gelang ihm halbwegs. Dann reiste er nach dem schweizerischen Baden, um beim französischen Gesandten Barthélemy weitere Anleitungen einzuholen, fuhr wieder nach Paris und kam dann mit neuen Aufträgen nach Basel zurück. Er trieb sich auch in Schaffhausen, Zürich und Baden herum, reiste erneut nach Nürnberg, wo er sich mit Wirtschaftsspionage und Erforschung der öffentlichen Meinung befasste. Er kannte persönlich den Freiherren von Hardenberg, also den preussischen Bevollmächtigten, der bei Peter Ochs den Frieden von Basel mit Barthélemy aushandelte. In Nürnberg nahm er Kontakt zu revolutionsfreundlichen Gesellschaften auf – man fragt sich, wie er das bewerkstelligte. Nun, ganz einfach: er liess sich durch Basler Handelshäuser empfehlen. Er gibt sogar Namen: so benützte er für poste restante das Handelshaus Vischer und Werthemann. Das war nicht gratis; in den Papieren Probsts fand sich eine Rechnung über 298 Gulden „für bezahlte Pakete und Briefe“. Probst verteilte auch revolutionäre Literatur, die er zum Teil selber aus dem Französischen übersetzte, gelagert wurde sie wiederum in Basel.

Woher wissen wir das alles? In den beiden Bänden mit dem Titel „Gebt der Freiheit Flügel“ (rororo Sachbuch 8363) hat Hellmut G. Haasis Dokumentationen aus der Zeit der deutschen Jakobiner zusammengetragen. Probst wurde am 13. Juni 1795 um 23.00 Uhr in Nürnberg auf Betreiben der österreichischen Geheimpolizei verhaftet und als besonders gefährlicher Agent nach Wien überführt. Die österreichische Geheimpolizei verhörte ihn während 11 Tagen gründlich und setzte ein umfangreiches Verhörprotokoll auf, das in den Kriegsakten (Faszikel 472) erhalten blieb. Dort hat es Hellmut G. Haasis aufgestöbert und in den wichtigsten Passagen in seine Dokumentation aufgenommen. Die Fragen stellte ein Hofrat Schilling. Das Verhör fand übrigens, so weit sich das dem Protokoll entnehmen lässt, ohne Gewaltandrohung statt, da Probst bereitwillig Auskunft gab. Probst blieb vorerst in Haft, seiner Frau in Rufach durfte er nur hin und wieder einen stark zensierten Brief schreiben; die Polizei sorgte dafür, dass man dem Briefkuvert nicht ansah, woher es kam. Seine Freilassung verdankte er dem in Basel stationierten und mit Peter Ochs eng befreundeten Sekretär der französischen Gesandtschaft und dem Chef des französischen Geheimdienstes auf schweizerischem Boden, nämlich Théobald Bacher. Dieser wusste, wie Geheimdienste untereinander erfolgreich verkehren: er liess im Augst 1796 den vorderösterreichischen Regierungsrat Hermann Tröndlin von Greiffenegg in Freiburg im Breisgau durch französische Soldaten arretieren und tauschte ihn am 20. April 1797 gegen Valentin Probst aus. Es war die Zeit, da Johann Peter Hebel von Karlsruhe aus zum ersten Mal wieder sein geliebtes Oberland besuchen konnte, da Peter Ochs im Ruhmesglanz des von ihm vermittelten Basler Friedens sich zur Reise nach Paris vorbereitete, und wo der Untergang der alten Eidgenossenschaft unmittelbar bevorstand. Die verzopfte gute alte Zeit kam an ihr Ende, die Spione aus allen Lagern und auf allen Seiten wussten es.

58.    Der Profi des NachrichtendienstesNach Oben

Der als schweizerischer Kaufmann getarnte Maire von Rufach, Valentin Probst, der die Reichsstadt Nürnberg im Auftrag des Pariser Wohlfahrtsausschusses ausspionieren sollte und dort von der österreichischen Polizei enttarnt wurde, war – nachrichtendienstlich gesprochen – ein idealistischer Amateur. Militärisch hatten seine Rapporte wenig Bedeutung. Noch war der Basler Frieden zwischen dem republikanischen Frankreich und dem Königreich Preussen nicht geschlossen, die französischen Truppen hatten schon den Rhein überschritten und standen in Süddeutschland einer Koalition von deutschen Fürsten, dem Kaiser und französischen Emigranten gegenüber. Das revolutionäre Frankreich führte seinen Krieg offensiv, die linksrheinischen deutschen Städte, allen voran Mainz, waren umstritten, in Mainz war sogar für kurze Zeit die Republik ausgerufen worden. Die revolutionäre Unruhe in Süddeutschland war beträchtlich, auch in der Schweiz bewegte sich viel. Der nördliche Teil des Basler Fürstbistums war an Frankreich gefallen, Genf erlebte seine eigene Revolution mit einem selbstgemachten Terrorregiment, am Zürichsee griff die Obrigkeit im Stäfner Handel hart durch, während im St. Gallischen Fürstenland der Fürstabt seinen Untertanen neue Rechte zugestand, Graubünden erklärte sich für franzosenfreundlich.

Basel, obwohl von Arlesheim bis Hüningen von Frankreich umschlossen, schien noch ruhig. Drei Parteien, die Aristokraten, die Demokraten und die Neutralen, hielten sich die Waage. Der Stadtschreiber Peter Ochs war überzeugt, dass Basel sich freiwillig, aber verfassungskonform und somit von oben nach unten revolutionieren müsse. Nachdem er 1795 den Basler Frieden zwischen Frankreich und Preussen vermittelt hatte, genoss er ein internationales Ansehen. Der von Bern und Solothurn abgelehnte französische Ambassador François de Barthélemy wohnte in seinem Haus, dem Holsteinerhof. Im Stab Barthélemys arbeitete als Sekretär und Übersetzer Jacques Augustin Théobald Bacher mit, Ochs duzte ihn, und dieser perfekt zweisprachige Bacher kannte die Schweiz sehr gut, da er schon seit 1779 in Solothurn und Baden das organisatorische Zentrum der französischen Gesandtschaft gewesen war.

Bacher war alles andere als ein grober Jakobiner. Er entstammte einer reichsfreiherrlichen Familie, kam aus Thann, daher seine Zweisprachigkeit. Er begann seine Karriere als Leutnant im Alter von 14 Jahren noch in der königlichen Armee und diente später sogar unter dem preussischen König. Früh bewarb er sich beim diplomatischen Dienst, er selber wünschte sich den Posten eines Legationssekretärs bei der französischen Gesandtschaft in der Schweiz. Militärisch ausgebildet und diplomatisch geschult musste er es, nachdem 1792 das revolutionäre Frankreich dem Kaiser in Wien en Krieg erklärt hatte, als seine Pflicht betrachten, auch militärische Nachrichten zu beschaffen, vor allem aus Süddeutschland, wo sich von Mainz über Freiburg und den Schwarzwald bis an den Bodensee die Heere gegenüberstanden. Bacher war intelligent, ein glänzender Organisator, also nahm er die Sache professionell in die Hände.

Wiederum stellt sich die Frage, woher wir das so genau wissen. Diesmal kam ein glücklicher Zufall zu Hilfe: Ein Basler Autographensammler wollte Auskunft über seine Bestände, und bei der Durchsicht fanden sich mehr als ein Dutzend eigentliche Spionageberichte aus den Jahren 1793 und 1794. Zum Teil stammen sie von Bacher selber, zum Teil liefen sie nachweislich über sein Büro. Das Gebiet, das sie abdecken, geht von Speyer bis an den Bodensee. In erster Linie sind es militärisch relevante Informationen, zum Beispiel aufgelistete Truppenbestände: 300 Mann kaiserliche Truppen in Auggen, in Riegel und Endigen 100 Mann, in Weil 50 Infanteristen, bei Breisach zwei Kanonen, in der oberen Stadt ebenfalls zwei Kanonen und ein Mörser. Überläufer und Emissäre erstatten zusätzliche Berichte mit den Truppenstärken in der Gegend von Mannheim und Offenbach, von Rastatt bis Rheinfelden. Ein besonderes Augenmerk hatten die Spione auf die Moral der französischen Emigranten auf deutschem Boden; ein Kundschafter suchte herauszufinden, warum die Frauen dieser aristokratischen Offiziere plötzlich so strahlende Mienen zeigten. Offenbar stand eine Offensive Richtung Frankreich bevor.

Bacher selber hatte ein sehr detailliertes Bild von der Schweiz, er betrachtete sich als ihr Freund. Als die Basler Räte Barthélemy ein Essen mit 50 Gedecken offerierten, zu dem auch der Kommandant von Hüningen mit seinen ersten Offizieren eingeladen war, schlossen Peter Ochs und Bacher nähere Bekanntschaft. Sie muss auf einer sehr persönlichen Vertrauensbasis geruht haben, vergleichbar der  nicht weniger vertraulichen Beziehung zwischen dem Bürgermeister Peter Burckhardt und Barthélemy selber, der sich beim Basler sogar schriftlich über die revolutionäre terreur in Paris beklagte.

Bacher versuchte sich systematisch einen Überblick über die militärische Lage auf dem rechtsrheinischen Gebiet zu verschaffen. Er verzeichnete Truppenstärken, Militärlager und Artilleriestellungen. Ihn interessierte auch die Moral der Soldaten: die österreichische Mannschaft sei missmutig und wolle nach Hause. Bacher machte sich selber auf den Weg; sein Bericht vom 28. Juli 1794 beginnt mit dem auffälligen Satz: „J’arrive dans ce moment de Schwetzingen“, und den Rapport vom 7. Dezember 1794 bezeichnet er als „Bulletin de Fribourg“. Abgeschickt wurden die Berichte zum Teil an Armee-Kommandos oder auch an die Pariser Instanzen. Auch er brauchte für seine vielfältigen Korrespondenzen die Postdienste der Basler Handelshäuser, die Gebrüder Merian tauchen namentlich in den Akten auf.

In unseren traditionellen Denkschemen haben wir Mühe, dieses ganze Spionagewesen nachvollziehen zu können. Wir denken heute nationalstaatlich und territorial. Aber so dachte die Revolutionszeit nicht. Der durch die Revolution geschaffene Gleichheits- und Freiheitsbegriff gewann rasch eine grenzüberschreitende Anerkennung. Den Baslern um 1794 blieb gewiss nicht verborgen, dass der Legationssekretär Bacher so etwas wie einen professionellen Nachrichtendienst betrieb. Aber sie wussten, dass auch die französischen Emigranten in Basel, der Schweiz und in Süddeutschland allesamt spionierten und sowohl mit eidgenössischen Magistratspersonen als mit dem kaiserlichen Hof und dem englischen Gesandten in Bern Relationen unterhielten. Die Aufregung dieser Jahre legte sich erstmals, als dank Peter Ochs der Basler Frieden 1795 zustande kam. Als nicht einmal 2 1/2 Jahre später die alte Schweiz selber Revolutionen erlebte, in Basel von oben nach unten, im Waadtland von unten nach oben und in Bern sowie der Innerschweiz auf Druck einer französischen Invasion, waren die Jahre, da Basel und seine Nachbarschaft ein europäisches Spionagezentrum darstellten, zu Ende. Die Armeen Napoleons verlegten die Fronten weit nach Osten und Norden, Bacher hatte andere Geschäfte im deutschen Reich zu erledigen, und Napoleon hatte aus der Schweiz einen blossen Satellitenstaat gemacht, dessen Kinder Richtung Moskau marschieren mussten.

59.    Aktuelle LandkarteNach Oben

Die ersten von Hand gezeichneten oder gemalten Landkarten waren kaum viel mehr als über eine Fläche verteilte Inventare von Ortschaften, bei denen die Zeichner mit unregelmässigen Flussläufen und gewundenen Strassen ziemliche Probleme hatten. Mit solchen Karten konnte man sich in der Landschaft schlecht orientieren, aber man sah wenigstens, an welchen Städten zum Beispiel der Rhein von Basel an abwärts vorbeilief oder über welche Ortschaften man von Rheinfelden nach Strassburg reiten musste.

Mit dem Aufkommen des Holzschnittes, dann des Kupferstiches und des Buchdrucks begann man an Landkarten höhere Anforderungen zu stellen. Auf der einen Seite begannen, besonders nach der Entdeckung Amerikas, Darstellungen der gesamten Erdoberfläche, verteilt auf zwei Halbkugeln, populär zu werden; auf der anderen Seite wurden, wie man das beim Kosmographen Sebastian Münster nachschauen kann, Stadtansichten und Regionalkarten publiziert, die sich der geografischen Wirklichkeit anzunähern versuchten. Die Vermessungstechnik, die schon den Kelten bekannt gewesen war, schuf die Voraussetzungen für die Erstellung von Landkarten, also benötigte man auch trigonometrische Kenntnisse. Da waren die Mathematiker und Geometer des 16. und 17. Jahrhunderts gefordert. Das 18. Jahrhundert sah das Aufkommen festgefügter Territorialstaaten, und die Fürsten dieser Staaten wollten nun auch auf dem Papier sehen, wie ihr Staat in seiner Gestalt und in seiner Länge und Breite mit Flüssen, Bergen und Strassen beschaffen war. Landkarten wurden immer feiner und genauer, mit den heutigen Kartenwerken verglichen waren sie freilich noch immer primitiv.

In den Feldzügen des ausgehenden 17. bis zum beginnenden 19. Jahrhundert, also in den Kriegen Louis‘ XIV., des Alten Fritz und dann Napoleons, waren Landkarten von wachsender militärischer Bedeutung. Nun musste man auch einigermassen zuverlässig Distanzen und Verbindungswege, Flussläufe und befestigte Städte ablesen können. Einen Nachteil hatten sie: sie mussten immer noch zuerst gezeichnet und dann spiegelverkehrt auf eine Kupferplatte gestichelt werden. Das war eine augentötende und vor allem langwierige Arbeit, bei der sich Zeichner und Kupferstecher auch damit abmühten, wie man Städte und Berge, Wälder und Seen eigentlich darstellen sollte: im Grundriss oder in der Aufsicht? Ferner verlangten solche Karten immer einen zweifachen Druck, zuerst druckte man das Bild, dann wurden in einem zweiten Durchgang die Namen hinzugefügt. Das stellte einige Anforderungen an die sogenannten Passergenauigkeit. Nicht zuletzt auch darum waren Landkarten teuer, und wenn die militärische oder politische Lange sich geändert hatte – eine zerstörte Brücke, eine verschobene Grenze –, dauerte  es Monate, wenn nicht Jahre, bis wieder eine aktuelle Karte vorlag.

Wie wollte man das schneller machen? Das war eine Problemstellung ganz nach dem Geschmack der aus Nürnberg nach Basel eingewanderten Dynastie der Familie Haas, von Johann Wilhelm, seinem Sohn Wilhelm, genannt der Vater, und dessen Sohn Wilhelm, genannt der Sohn. Das 18. Jahrhundert war technisch interessiert, war von mechanischen Geräten fasziniert, war auch ein grosses typografisches Jahrhundert. Der Steindruck, also die Lithografie, war noch nicht erfunden, das, was wir heute Chemigrafie nennen, noch gänzlich unbekannt. Aber verwandte Probleme standen schon an: Wie zum Beispiel konnte man Musiknoten im Druck vervielfältigen? So entstand der Gedanke, Karten mit ausschliesslich typografischem Material zu setzen. Einmal mehr bewies das Dreiland am Oberrhein seinen Erfindergeist.  

1778 veröffentlichte der in Karlsruhe wirkende Hofdiakon August Gottlieb Preuschen (1734-1803) beim Basler Buchdrucker Johannes Schweighauser einen „Grundriss der typometrischen Geschichte“. Schon in einer Erklärung an die Kaiserliche Akademie der Wissenschaften zu St. Petersburg von 1775 schilderte er, wie mittels der Typometrie „geographische Bilder und Objekte nach geometrischen Regeln und Verhältnissen darinn geordnet werden müsten“. Von 1774 stammt der erste, noch ziemlich primitive Versuch einer Karte von Sizilien. Preuschen fehlte in Karlsruhe ein Mann, der seine Ideen technisch umsetzen konnte, den aber fand er in Basel bei Wilhelm Haas Vater und Wilhelm Haas Sohn. Haas hatte sich nämlich mit Bleilinien und Durchschussmaterial und seiner 1772 konstruierten Handpresse aus Eisen schon international einen Namen gemacht. 1776 begann er nach den Ideen von Preuschen figürliches Typenmaterial herzustellen. Berge und Wälder symbolisierende Bäume waren in der Ansicht, Flüsse, Strassen und befestigte Plätze waren in der Aufsicht dargestellt.

Preuschen war hoch zufrieden, weniger war es Johann Gottlob Immanuel Breitkopf (1719-1794) in Leipzig, der schon Erfahrungen im Druck von Musiknoten hatte. In den zu Berlin erscheinenden „Wöchentlichen Nachrichten“ ergab sich eine heftige Kontroverse zwischen Haas und Breitkopf, welcher letztere Haas Flickarbeit vorwarf, das heisst dass die Haassche Offizin mit verpöntem Füllmaterial gearbeitet hätte. Haas produzierte 1776 im Sinn eines Probemusters ein kleineres Blatt mit der Darstellung des Kantons Basel, 1777 machte er sich an eine grössere Karte von Sizilien. Der König beider Sizilien, Ferdinand IV., nahm sie huldvoll entgegen und schenkte Haas eine goldene Dose; die Zarin Katharina II. schickte gleichfalls Anerkennungsgeschenke.

Bis heute sind von Wilhelm Haas Vater zwei, von Wilhelm Haas Sohn 19 gesetzte Landkarten bekannt. Von 1792 an wird es offensichtlich, dass solche Karten vor allem aus militärischem Interesse hergestellt wurden; 1795, zur Zeit des Basler Friedens, zeigt eine Karte die Neutralitätslinie zwischen Preussen und Frankreich; 1796 eine andere die Bewegungen der französischen und österreichischen Armeen. 1797, nach dem für Bonaparte günstigen Friedensschluss von Campo Fornio, kommt eine neue Italienkarte, die Napoleon, der mit Wilhelm Haas Sohn zusammensass, eigenhändig im Grenzverlauf korrigierte. Als die Rede davon war, dass das bisher österreichische Fricktal an Basel fallen könnte, erschien 1798 flugs eine Karte der Landschaft Basel und des Fricktals; kaum war die Helvetische Republik gegründet, setzte Haas deren Karte mit der neuen "Cantons- u. Districts-Eintheilung“. Nachdem das alte Fürstbistum französisch geworden war, publizierte Haas die neu abgegrenzten Departemente des Ober- und Nieder-Rheins.

Aus einer von Eduard Hoffmann-Feer verfassten Untersuchung wissen wir, dass einzelne Karten in nicht weniger als zwei Wochen hergestellt wurden. Ein solches Tempo gefiel auch Napoleon, dem die Dinge nie schnell genug gehen konnten. Im nachrevolutionären Europa war die Haassche Schriftgiesserei eine Adresse erster Güte, und es verwundert nicht, dass die Herren Haas der Helvetik, die aus der alten Schweiz einen modernen Staat gemacht hatte, freundlich gegenüberstanden und auch gern, wie es der auf Besuch weilende Lavater aus Zürich bestätigt, Uniform trugen. Die Erfindung der Lithografie freilich führte dann dazu, dass das 19. Jahrhundert von einer typografisch gesetzten Landkarte ohne Schmerzen Abschied nahm. Ihre Genauigkeit genügte den modernen Ansprüchen nicht mehr.

60. Ein Opfer des ZeitgeistsNach Oben

Der Läufelfinger Pfarrer Markus Lutz (1772-1835), den man als einen Gefolgsmann des Basler Revolutionäres Peter Ochs betrachten darf, war einer der fleissigsten Historiker aus der Frühzeit des 19. Jahrhunderts. 1819 publizierte er ein Baslerisches Bürgerbuch, das als eine wichtige Quelle gilt, weil Lutz Dokumente heranzog, die wir heute nicht mehr kennen. In diesem Buch beschäftigte er sich auch mit der Familie Huber, von der es im alten Basel mehr als eine gab. Ihre Nachkommen ordnete er nach Bürgermeistern, Ratsmitgliedern, Richtern, Landvögten, Professoren und dann Gelehrten ohne akademische Stellen. Unter ihnen figuriert der 1758 geborene Wernhard Huber wie folgt: „Wernhard, gestorben 1818 zu Bern. Dichter, Epigrammatist und belletristischer Schriftsteller, der für die leichtern Gattungen der Poesie nicht ohne Talent war, und unter andern Zeitverhältnissen noch mehr würde geleistet haben.“

Das ist eine in ihrer Kürze für Markus Lutz typische Würdigung, aber merkwürdig ist, dass sie den eigentlichen Beruf verschweigt, nämlich Apotheker, und von den öffentlichen Ämtern dieses Wernhard Huber kein Wort verlauten lässt. Dabei hätte hier doch stehen können: Mitbegründer der Basler Lesegesellschaft, Mitglied des revolutionären Bärenkämmerleins zum Rheineck, Präsident der Basler Nationalversammlung, Mitglied des helvetischen Grossen Rates und dessen Präsident, helvetischer Regierungskommissär in Solothurn, helvetischer Senator. Es ist anzunehmen, dass Lutz diesen Wernhard Huber kannte, vielleicht sogar von Angesicht, und auf jeden Fall hätte er seine politische Laufbahn nennen können. Aber er schweigt darüber. Warum?

Nun, wir sind eben im Jahr 1819. Die Revolution ist schon lange vorbei, desgleichen die Helvetik. Napoleon ist verbannt nach St. Helena, Basel ist wieder eine selbständige Republik im schweizerischen Staatenbund. Die Erinnerung an revolutionäre Ereignisse und helvetische Ämter unterbleibt besser, der Rat sieht das nicht gern. Da spricht man lieber von literarischen Dingen. Huber, so meint Lutz, hätte in den leichteren Gattungen der Poesie mehr leisten können, wenn es die Zeitverhältnisse erlaubt hätten.

Er erklärt ihn sozusagen zu einem Opfer des Zeitgeistes. Und das stimmt sogar. Denn an diesem Wernhard Huber lässt sich exemplarisch erleben, wie die geistigen Strömungen der Zeit einen bildungshungrigen Autodidakten formten, wie die Literatur auf ihn einwirkte, wie das europäische Revolutionsgeschehen ihn bestimmte und in eine Karriere drängte, in der er sich verstrickte. Um 1799 steht er im grellsten Licht, doch wie die politische Lage sich ändert, tritt er ab ins Dunkel, verlässt seine Vaterstadt Basel und verlebt wahrscheinlich die letzten 18 Jahre seines Lebens in Bern. Aus dieser Zeit wissen wir kaum mehr etwas über ihn.

Wernhard Huber ist im geografischen Sinn keine Figur des Dreilandes, er ist nicht zwischen Basel, Colmar und Freiburg herumgereist. Sein Wirkungskreis war Basel und das benachbarte Solothurn. Dennoch figuriert er mit vollem Recht in diesen Geschichten, denn es gibt auch eine geistige Geschichte, die keine Grenzen kennt. Als deren Produkt darf Huber gelten.

Sein Grossvater war Apotheker, sein Vater war es, der Sohn sollte es wieder werden und akzeptierte das auch. Aber seinen eigenen Vater kannte er nicht, der starb kurz nach seiner Geburt, und als er sieben Jahre alt war, starb auch seine Mutter. So wuchs er im grosselterlichen Haus auf. Das war ein pietistisches Haus, ein Treffpunkt der unter dem Einfluss des Grafen von Zinzendorf stehenden Brüdergemeinde von Herrnhut im Sächsischen. Seit 1740 hatte sich in Basel eine Herrnhuter Gemeinde gebildet, die die Jesusliebe pflegte und sogar einen so aufgeklärten Kopf wie den Ratschreiber Iselin beeindruckte. Wernhard Huber wurde im Kindesalter selber nach Neuwied in die Brüdergemeinde geschickt, immatrikulierte sich dann 1760 an der Basler Universität. Er erlernte das Apothekerhandwerk, heiratete mit 23 Jahren, las unbändig viel, lernte fremde Sprachen und schloss sich an den Zürcher Pfarrer Johann Kaspar Lavater an, der Pate eines seiner Söhne wurde. Er trat selber in die Basler Brüdergemeinde ein. Ein Bekehrter? Vielleicht, aber einer, der sogleich seine Krise erlebte. Es war die Zeit des literarischen Aufbruchs in Deutschland, eingeläutet von Goethes Werther, der Beginn des sogenannten Sturm und Drang. Huber las alles, was er fand, er begann sich vom religiösen Pietismus zu lösen und schwenkte zu einer Naturempfindlichkeit hinüber, die nicht weniger inbrünstig war.

Woher wissen wir das alles so genau? Der Kirchenhistoriker Paul Wernle schrieb schon 1922 einen ausführlichen Aufsatz über Wernhard Huber, wir kennen aber auch Hubers eigene Publikation „Funken vom Heerde seiner Laren“, 1787 in Basel gedruckt. Sie ist alles andere als ein literarisches Meisterwerk, aber insofern ein erstaunliches Dokument, als in diesem kleinen Buch so gut wie alle Zeitströmungen kurz vor der Französischen Revolution nachweisbar sind. Im gleichen Jahr half Huber in Basel die Lesegesellschaft gründen. Dann kam die Revolution, und aus dem ursprünglichen Pietisten, dem Lavater-Verehrer, dem Stürmer und Dränger, der sich auch für den falschen Grafen Cagliostro und den magnetisierenden Heilkünstler Mesmer begeistert hatte, wurde plötzlich ein wilder Republikaner. Nicht einmal drei Jahre nach dem Sturm auf die Pariser Bastille folgte die gewaltsame Revolutionierung im Birseck, der fürstliche Hofstaat in Arlesheim zerstob in alle Winde, 1797 reiste Napoleon durch die Schweiz, und 1798 fand die freiwillige Revolutionierung Basels statt. Huber gehörte zum engsten Kreis der Revolutionsfreunde und präsidierte, während Ochs noch in Paris weilte, die Basler Nationalversammlung. Er galt schon damals als feuriger Redner, und diesen Ruf behielt er auch als Mitglied des Grossen Rates zur Zeit der Helvetik in Aarau.

Seine Laufbahn wurde, als die kaum gegründete Helvetische Republik schon zu wanken begann, recht dramatisch. Der Kanton Solothurn galt als Unruheherd, Huber wurde als Regierungskommissär dorthin abgeordnet und sollte mit helvetischen sowie französischen Soldaten Ordnung schaffen. Es war ein vergeblicher Versuch; er hetzte murrenden und aufständischen Landleuten nach, und als er einzelner habhaft werden konnte, richtete er sogleich ein Kriegsgericht ein. Und dieses sprach mehrere Todesurteile, die auch vollzogen wurden. Die Parallelen zur Entwicklung des französischen Revolutionärs Robespierre sind unübersehbar: ein ganz auf spirituelle Entwicklung angelegter Mensch wird plötzlich zum blutigen Gewaltherrscher. Die Helvetik lief ja nicht friedlich aus, sondern stolperte nach 1800 von einem Staatsstreich in den nächsten, Huber war noch am Anfang dabei, aber dann zog er sich aus dem politischen Leben zurück und fand, wie Paul Wernle sagt, eine Sekretariats- und Bibliothekarsstelle in Bern.

Wernhard Hubers „Funken vom Heerde seiner Laren“ sind der „Freundschaft, der Wahrheit und dem Scherze“ gewidmet. (Sie verhalfen ihm in Basel zum Spitznamen „Laarifunggi“.) Wer Todesurteile unterschreibt, scherzt nicht mehr; zwischen dem Pietismus und einer Naturverehrung schwankend, hat Huber seine Wahrheit nie gefunden, und seine Freundschaften sind in den Stürmen des Zeitgeistes zerbrochen.

61.    Staatenlos, konfessionslos und KünstlerNach Oben

Mit 28 Jahren nicht nur General zu sein, sondern auch Oberkommandierender einer ganzen Armee, Sieger über die Truppen des Kaisers und nebenbei Totengräber der Venezianischen Republik, dazu (wie jedermann wusste) nachgerade der bestimmende Mann in Paris – das war schon eine Massierung von Ruhm, Respekt und Ansehen, die die Zeitzeugen aufregte und sie in Versuchung brachte, diesem Bonaparte um jeden Preis einmal persönlich gegenüberzustehen, einen Zipfel seines Wesens zu erwischen.

Heute würden die Pressefotografen den Eingang zum Hotel belagern oder mit Teleobjektiven auf den Dächern gegenüber sitzen. Abgestiegen war Bonaparte im Hotel Drei Könige in Basel, nachdem man ihn in Liestal mit einem Freiheitsbaum gefeiert und am St. Albantor mit militärischen Ehren und Kanonensalven abgeholt hatte. Dann wollte er den Bruder des zweiten Gatten seiner Grossmutter kennen lernen, den Pastetenbäcker Faesch, sass am Gala-Diner zwischen dem Oberstzunftmeister Peter Ochs und dem Bürgermeister Peter Burckhardt, und am Nachmittag durfte ihm der Drucker Wilhelm Haas Sohn seine aus typografischen Elementen hergestellte Landkarte von Oberitalien vorlegen. Wir haben gute Gründe anzunehmen, dass Ochs diese Begegnung einfädelte; sicher waren sie, Ochs und Haas, Gesinnungsgenossen in diesen Novembertagen 1797 – nur wenige Monate vor dem Untergang der alten Eidgenossenschaft.

Aber eben, Fotografen gab es noch keine. Dabei wäre es doch wirklich spannend gewesen, den erfolgreichsten General auch in seinem äusseren Erscheinungsbild fixiert zu haben – wie sieht der bestimmende Mann Europas im jugendlichen Alter aus? Merkwürdig sieht er aus, nicht gerade schön: im Profil sieht man eine übergrosse, leicht gekrümmte Nase, einen eher missgelaunten Mund, aber sehr intensive und grosse Augen. Die Haare sind fast unordentlich frei nach vorn gekämmt, fallen hinten über den extrem hohen Uniformkragen, der für den eher gedrungenen Körper etwas zu gross geschneidert erscheint. Die Halsbinde hat er stramm bis unter das Kinn gezogen.

Tatsächlich wurde Napoleon Bonaparte bei seinem Basler Besuch auch porträtiert, und zwar von Marquard Wocher. Wiederum kann man sich vorstellen, dass Peter Ochs seine Hände im Spiel hatte, Wocher zeichnete in seinem Auftrag später Tell Vater und Sohn als offizielle Vignette der Helvetik. Auf jeden Fall konnte im eng gefüllten Terminkalender des Generals am 24. November 1797 nur ein Porträtist zum Zug kommen, der rasch zu arbeiten wusste, keine technischen Schwierigkeiten fürchtete, einen Blick für das Wesentliche besass und sowohl in der Miniatur- wie Aquarelltechnik über reiche Erfahrungen verfügte. Für Marquard Wocher traf das alles zu.

Wer war er? Sammler von Stichen schätzen ihn als einen grossen Meister, bekannt ist sein jetzt wieder restauriertes Rundpanorama von Thun, und in der Zeit nach 1803 war seine berühmteste Bilderserie das „Vater Unser eines Unterwaldners“. Geboren wurde er am 7. September 1760, gestorben ist er am 19. Mai 1830. Er war der Sohn des Tiberius Dominikus Wocher aus Mimmenhausen, der Nachbargemeinde von Überlingen am Bodensee. Sein Vater und Onkel waren schon Maler, Marquard ging beim Vater in die Lehre. (Das führt noch heute gelegentlich zu fehlerhaften Zuweisungen einzelner Werke an den Vater oder Sohn.) Eine zusätzliche Ausbildung bekam er bei Johann Ludwig Aberli in Bern; in der Freizeit studierte er vor allem die Landschaft bei Thun. 1779 begegnete er im Atelier des Meisters dem damals 30jährigen Goethe, der Aberli als Kupferstecher überaus schätzte. Seit den achtziger Jahren verkaufte Wocher in Bern Stiche auf eigene Rechnung, wahrscheinlich war er damals bereits nach Basel übergesiedelt, wo er bis zu seinem Tode blieb.

Von 1798 stammt ein Selbstporträt, eines seiner schönsten Blätter. H. Albert Steiger, Basels bester Wocherkenner, beschrieb es wie folgt: „Ein höchst raffiniertes Aquarell, zeigt uns den sehr aufgeweckten Mann, elegant à la mode gekleidet; unter dem eher keck aufgesetzten Zylinderhut kommen die langen gelockten Haare zum Vorschein. Seine etwas scharfen Gesichtszüge lassen aber doch auf einen sehr sensiblen Menschen schliessen, ja fast weisen sie eine weibliche Feinheit auf. Der klare entschlossene Blick verrät den genauen Beobachter, dem selbst die kleinsten Details nicht entgehen können.“

Wocher war damals 38 Jahre alt. Es wurden stürmische Jahre: Revolutionierung von Basel, Helvetische Republik, die bis 1802 in Staatsstreichen unterging, Mediationsverfassung von Napoleons Gnaden, Einzug der Alliierten 1813 (schlimmster Neutralitätsbruch der Schweiz), eine neue Verfassung 1814 – das alles begleitet von gewaltigen wirtschaftlichen Krisen und ideologischen Auseinandersetzungen. 1807 schrieb Wocher: „Auf bessere Zeiten warten und darüber zu Grunde gehen.“ Aber zugleich setzte er sein Organisationstalent bei der Gründung der Schweizerischen Künstlergesellschaft in Zofingen ein und war 1812 Mitbegründer der Basler Künstlergesellschaft. Am 29. April 1800 hatte er Anna Maria geb. Fatio geheiratet, die Witwe des Architekten Johann Ulrich Büchel, der das Haus zum Kirschgarten gebaut hatte. Das Kirchenbuch in Muttenz verzeichnet ihn als „neuen helvetischen Bürger“ – zwei Jahre später ging die Helvetische Republik zu Ende, und das Grossherzogtum Baden, zu dem das Gebiet des Konstanzer Bischofs am Überlingersee geschlagen wurde, war noch nicht geboren. Von Geburt war Wocher katholisch, als Freimaurer wurde er exkommuniziert, jetzt heiratete er in einer reformierten Kirche draussen auf dem Land. Er war konfessions- und staatenlos geworden.

Im Buch von Hans Peter Treichler „Die Magnetische Zeit“ von 1988 ist beschrieben, wie Treichler das Thuner Rundpanorama persönlich aufsucht. Im Basler Jahrbuch von 1943 hat H. Albert Steiger erstmals die verfügbaren Nachrichten über Marquard Wocher zusammengetragen. Dass er seither, also seit rund 50 Jahren, die umfassendste Wocher-Sammlung aufgebaut hat, konnte er damals noch nicht sagen. Sie ist mit seinem Tod an das Kupferstichkabinett Basel gefallen. Wenn sie einmal kunstgeschichtlich aufgearbeitet sein wird, wird man einen vom Überlingersee über Bern nach Basel gekommenen Künstler entdecken, den man nach rückwärts an Füssli (geb. 1741) und nach vorwärts an Ingres (geb. 1780) messen darf. Die Chancen, dass dannzumal ein paar bisher ahnungslose Basler in alten Schränken noch Stiche, Bilder oder Dokumente von Wocher finden werden, stehen nicht schlecht. Denn als man nach seinem Tod die Erbschaft inventarisierte, ergab sich ein Passiven-Überschuss. Also wurden ziemlich sicher Kunstwerke und Schriften vergantet, die jetzt noch irgendwo stecken könnten.

62.    Vom Zwergstaat zum GrossherzogtumNach Oben

Fragen Sie einmal einen Basler, was denn nun auf der rechten Seite des Rheins dem Oberelsass gegenüberliegt, der Breisgau, die Ortenau oder die Markgrafschaft – er wird Probleme haben. Die braunen Hinweistafeln auf der deutschen Autobahn Richtung Karlsruhe machen die Sache auch nicht leichter, weil da bald Markgräflerland, bald Kaiserstuhl, bald Schwarzwald zu lesen ist. Und warum spricht man vom Markgräfler Wein oder von Kaiserstühlern, aber nicht von Breisgauer Weinen?

In solchen differenzierten Namenszuweisungen steckt immer die Geschichte. Sie sind Überbleibsel, die die Sprache aufbewahrt, auch wenn die Fakten aus dem Gedächtnis entschwunden sind. Die nördlichen Nachbarn der Basler, liebevoll Badenser genannt, sind eben auch Breisgauer, Schwarzwälder, Markgräfler und Kaiserstühler, irgendwie gehört das alles zusammen, freilich ist ein Schwarzwälder kein Kaiserstühler. Da bewegt man sich im Umkreis von landschaftlichen Begriffen, aber nicht weniger stösst man auch auf historische Relikte. Es lohnt sich, diese etwas näher anzuschauen, vielleicht stecken sogar Personen dahinter.

Nehmen wir etwa die Weine. Dass die Kaiserstühler, richtig gepflegt, sogar mit grossen Tropfen konkurrieren können, liegt zuerst an der vulkanischen Erde, in der sie wachsen. Aber schon taucht da ein Fürst wie Lazarus von Schwendi (1522-1583), auf, der die Weine in seiner Herrschaft auf beiden Seiten des Rheins besser gepflegt sehen wollte. Seine Verordnungen für den Weinbau im Kaiserstuhl und im Elsass sind bekannt; ohne seine Förderung hätte sich der Qualitätsbegriff des Kaiserstühlers nicht schon im 16. Jahrhundert durchsetzen können. Dass die badischen Weine insgesamt einen guten Namen besitzen (und sich in den letzten Jahrzehnten glücklicherweise in der Güte grossartig gesteigert haben), geht auch auf den Markgrafen Karl Friedrich (1728-1811) zurück, der sich persönlich um Weinsorten und um die Weinpflege kümmerte. Aber was hat er nun verbessert – die Markgräfler Weine oder die badischen? Beide, lautet die Antwort.

Es war Jean Daniel Schoepflin, den dieser Markgraf mit einer Geschichte seines Fürstenhauses beauftragte. Schoepflin führte das Geschlecht der Markgrafen bis auf die Herzoge von Zähringen, die grossen Herrscher des 11. und 12. Jahrhunderts, zurück. Wenn wir die Verhältnisse der Markgrafschaft in der Mitte des 18. Jahrhunderts betrachten, entdecken wir einen ziemlich zerstückelten Herrschaftsbereich. Zur unteren Markgrafschaft gehörten die alten Residenz Durlach, die neue Residenz Karlsruhe und verschiedene weitere Ämter wie etwa Pforzheim, wo sich Karl Friedrich für den Aufbau einer Schmuckindustrie verwendete. Die Markgrafschaft Hachberg bildete ein Oberamt mit Sitz in Emmendingen, zu dem auch ein Teil des Kaiserstuhls gehörte. Territorial abgetrennte Gebiete waren Sulzburg und die Herrschaft Badenweiler. Müllheim war Sitz des unteren Teils des Oberamtes, weitere Herrschaftsteile lagen um die Schwerpunkte Sausenberg und Röteln. Das heisst ganz einfach: die eigentliche Markgrafschaft war überall von vorderösterreichischen Landen oder geistlichen Besitztümern, auch des Basler Bischofs, durchschnitten. Der eigentliche Breisgau mit Breisach und Freiburg war österreichisch, also nur teilweise markgräflich.

Die lange Regierungszeit des Markgrafen Karl Friedrich von insgesamt 62 Jahren ist dadurch gekennzeichnet, dass sich die alte Markgrafschaft stufenweise erweiterte. Der Markgraf bemühte sich, einzelne Herrschaften zu kaufen oder zurückzukaufen, so etwa vom Hochstift Basel das Dorf Binzen. Eine wesentliche Vergrösserung erfuhr die (baden-durlachsche) Markgrafschaft durch das Aussterben der (badisch-badischen) Seitenlinie. Karl Friedrich erhielt dank einem rechtzeitig abgeschlossenen Erbvertrag 1762 wesentliche Gebiete im Norden seiner Markgrafschaft hinzu. Sie waren mehrheitlich von Katholiken bewohnt. Der protestantische Markgraf musste seine Verwaltung auch auf die andere Konfession einstellen; die neu hinzugewonnenen Lande, die nach mehr als 250 Jahren wieder an ihn zurückfielen, wurden von Rastatt aus verwaltet.

Karl Friedrichs Herrschaft schien glücklich konsolidiert, der wirtschaftliche Aufschwung war unübersehbar. Reisende wussten davon zu erzählen. Aber dann kamen die Revolution, die Revolutionskriege, die französischen Emigranten, die sich in diesem noch feudalen deutschen Reichsland einnisteten. Es kam der Aufstieg Napoleons, die Markgrafschaft wurde Frontland. Der Friedenskongress von Rastatt brachte dürftige Ergebnisse, der Frieden von Lunéville demütigte die deutschen Staaten. 1803, als Napoleon der Schweiz die Mediationsverfassung verschrieb, fand in Deutschland der sogenannte Reichsdeputationshauptschluss statt, an dem die Frankreich nahestehenden deutschen Fürsten ihre Territorien zu Lasten der geistlichen Landesherren zu erweitern verstanden. Damals fielen das Bistum Konstanz, Reste der Bistümer Speyer, Basel und Strassburg auf dem rechten Rheinufer, pfälzische Ämter und nassauische Gebiete, verschiedene Abteien, Reisstädte wie Offenburg, Zell und Ländereien am Neckar an den Markgrafen. Auch die Universitätsstadt Heidelberg gehörte dazu. Karl Friedrich bekam die Kurfürstenwürde, das heisst er wurde Mitglied des Kollegiums, das den deutschen Kaiser hätte wählen können.

Aber das Tempo der Politik Napoleons war schneller, als es der komplizierte Apparat des alten Reiches verkraften konnte. 1806 entstand unter Führung Napoleons der Rheinbund, der die süddeutschen Fürsten zusammenfasste und offiziell das Ende des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation bedeutete. Die Nachbarfürsten von Württemberg und Bayern nahmen den Königstitel an. Karl Friedrich musste sich, als der Rang eines Kurfürsten sinnlos geworden war, mit dem Titel eines Grossherzogs begnügen oder wollte es so. (Inwieweit er da von seinem bevollmächtigten Minister Sigismund von Reitzenstein hinters Licht geführt wurde, ist schwer zu entscheiden.)

Die Sache hatte ihren Preis: Der Bruch der Loyalität dem Kaiser gegenüber fiel Karl Friedrich unendlich schwer, und badische Landeskinder hatten jetzt mit den Franzosen gegen Österreich und später Russland zu marschieren. Durch das ganze 19. Jahrhundert erstreckte sich das Grossherzogtum Baden wie ein L vom Einfluss des Neckars über Baden-Baden und Freiburg bis nach Basel und von dort im rechten Winkel bis an den Bodensee. Sein Ende kam mit dem Ende der Monarchien nach dem Ersten Weltkrieg. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das Land Baden dann mit Württemberg zusammengelegt – nicht zu jedermanns Zufriedenheit, weil Alemannen und Schwaben doch irgendwie verschiedene Leute sind, verschiedener wahrscheinlich als die Sundgauer und Elsässer oder die Basler und Baselbieter. Unter dem Obertitel badische Weine können wir jetzt sowohl Kaiserstühler wie Markgräfler trinken, nur die Stuttgarter und Esslinger schmecken immer noch anders.

63.    Der Architekt eines StaatesNach Oben

Am liebsten hätte er sich ganz den klassischen Studien gewidmet, sich in die antike Welt versenkt. Als er 1847 starb, fand man in seinem Totenbett den platonischen Dialog Phaidon, die Lektüre seiner letzten Tage. Die schönste, wenn möglich lebenslängliche Aufgabe für ihn wäre es gewesen, als Kurator der Universität Heidelberg zu wirken, ein paarmal war ihm das auch vergönnt. Aber die Politik war stärker, riss ihn immer wieder in ihren Strudel zurück. Basel kannte er gut. Er traf sich mit Peter Ochs, wir wissen, dass sie sich später auch wieder in Paris begegneten.

Von Geburt war er ein Franke, 1766 in der Nähe von Bayreuth geboren; er hatte in Göttingen und Erlangen studiert. 1788 bewarb er sich um badische Dienste beim Markgrafen Karl Friedrich und legte glänzende Zeugnisse vor. Aus einer Adelsfamilie stammend, wurde er adliger Hofrat mit Sitz und Stimme im Hofratskollegium und zeichnete sich, nach den Zeugnissen seiner Vorgesetzten, durch eine „nachahmungswürde Gewandtheit“ aus. Diesem Kollegium lag die Verwaltung der Markgrafschaft Baden ob, soweit nicht der Markgraf selber und sein geheimer Rat sich die Geschäfte vorbehalten hatten; er beschäftigte sich mit wirtschaftlichen und kulturellen Problemen, ihm unterstanden die Strafrechtspflege und die Polizei. Der Markgraf wurde bald auf den jungen Mann aufmerksam. 1792, da war er 26 Jahre alt, wurde er Landvogt der Landgrafschaft Sausenberg und der Herrschaft Röteln, und diese war im Oberland die grösste und angesehenste. Residenzort war Lörrach, auch von daher war der junge Mann mit den Basler Verhältnissen vertraut. Als er sich noch mit einer Kusine gleichen Namens vermählen konnte, schien alles aufs beste und sogar aufs geruhsamste eingerichtet.

Sein Name: Sigismund von Reitzenstein.

Nur dass das Jahr seiner Amtseinsetzung als Landvogt von Röteln zugleich das Jahr war, da die unterdessen revolutionierte Französische Republik dem Kaiser in Wien den Krieg erklärte und die Besitztümer sowie Lehensrechte des Markgrafen auf dem linken Rheinufer faktisch schon an sich gezogen hatte. Nun rückten österreichische Truppen ein, um das rechte Rheinufer vor den Franzosen zu schützen. Dass die Waldstädte am Hochrhein, Teile des Schwarzwaldes, Freiburg und der Breisgau eben nicht markgräfliches, sondern vorderösterreichisches Land waren, dass sich zwischen den österreichischen und markgräflichen Gebieten noch allerhand sonstige Herrschaften befanden, komplizierte die militärpolitische Lage. Der junge Landvogt hatte alle Hände voll zu tun. 1794 kam es zwischen ihm und der österreichischen Schutzmacht zu ernsthaften Auseinandersetzungen. Dann vernahm er, dass 1795 in Basel Friedensverhandlungen zwischen Frankreich und Preussen begonnen hatten – es war ein Alarmsignal für ihn. Denn das konnte bedeuten, dass Preussen neutral wurde, der Markgraf also als Minderheitspartner in der vom Kaiser geführten Koalition immer weniger zu sagen hatte. Aus den österreichischen Schutztruppen drohten Besatzungstruppen zu werden. So eilte er nach Basel, verhandelte mit dem französischen Gesandten Barthélemy, dem preussischen Unterhändler von Hardenberg. Er dachte gleich wie Ochs: sich gegen das unterdessen militärisch erstarkte Frankreich zu stellen, war sinnlos, vor allem da der im Osten liegende Nachbar Württemberg mit Frankreich einen Nichtangriffspakt abzuschliessen bereit war.

Um was es eigentlich ging, durfte der knapp 30jährige badische Hofrat offen nicht aussprechen, aber in seinem Kopf war die Sache klar: Das Ende des Heiligen römischen Reiches deutscher Nation stand bevor, und es bot sich die Gelegenheit, aus der auf feudalen Rechten aufgebauten und zerstückelten Markgrafschaft einen modernen geschlossenen Territorialstaat zu machen. Für beides war engstes Einvernehmen mit dem Frankreich des Direktoriums und dann Napoleons die Voraussetzung.

Am 22. August 1796 wurde in Paris durch Reitzenstein der Vertrag zwischen Frankreich und der Markgrafschaft geschlossen, der Friede, Freundschaft und gutes Einvernehmen schaffen sollte. Der Markgraf trat seine linksrheinischen Besitzungen an Frankreich ab, räumte den Franzosen Brückenköpfe (wie denjenigen von Hüningen/Friedlichen) ein, und Frankreich versprach Baden bei der Erlangung territorialer Kompensationen Teile der Bistümer Basel, Konstanz und Speyer, die Säkularisation geistlicher Stifte und Herrschaften.

Der damals schon betagte Markgraf Karl Friedrich zögerte, als Reichsfürst fühlte er sich immer noch dem Kaiser in Wien verpflichtet; Reitzenstein flehte, drängte, ignorierte die ordre, nach Röteln zurückzukehren. Mit Talleyrand setzte er sich zusammen, verhandelte offen darüber, den österreichischen Breisgau nicht mehr der alten Markgrafschaft, sondern einem neuen Grossherzogtum Baden einzuverleiben, das wie ein Winkeleisen von Konstanz über die Basler Ecke bis zur Pfalz reichen sollte.

Nach Ausbruch des zweiten Koalitionskrieges und dem Sieg der Franzosen bei Marengo 1800, nachdem sich Napoleon auch mit dem jungen Zaren Alexander ins Einvernehmen gesetzt hatte und Reitzenstein in Paris Talleyrand gegenüber mit Schmiergeldern mehr als grosszügig umging, nahm das neue Grossherzogtum Baden Gestalt an. Dem immer noch zögerlichen Karl Friedrich von Baden wurde die (nur noch formelle) Kurwürde angetragen. Der Reichsdeputationshauptschluss von 1803 besiegelte die von Frankreich gewünschte Neuordnung der süddeutschen Staaten. Das Grossherzogtum Baden, dem 1805 auch der Breisgau mit der Stadt Freiburg zufiel, war nicht anders als die Schweiz ein französischer Vasallenstaat geworden. In den Heeren Napoleons marschierten badische Soldaten zusammen mit schweizerischen.

Am Kabinettstisch verteilte man Städte und Länder, hob uralte Rechte auf, tauschte ab und topfte um, schickte geistliche Fürsten in die Pension. Von heute aus gesehen mutet es mehr als zynisch an. Zweimal spielte Reitzenstein sogar mit der Idee, in das neue badische Fürstentum auch die Schweiz einzubeziehen – war nicht die westliche Schweiz uralter zähringischer Besitz? Um 1807, als der aus Arlesheim vertriebene Konrad von Andlau, einst fürstbischöflicher Gefolgsmann, sein diplomatischer Mitarbeiter geworden war, erwog er den Gedanken, neben Hessen-Darmstadt auch die Schweiz dem Grossherzogtum einzuverleiben und aus ihm ein Königreich zu machen. Auf der anderen Seite muss man sehen, dass die von Napoleon betriebene Neuordnung Westeuropas, die im Rheinbund kulminierte, nur der äussere Aspekt seines politischen Willens war. Der innere enthüllte sich dann, wenn man auf die verwaltungstechnische Bereinigung dieser auf dem Reissbrett entworfenen Staaten blickt. Da war der energische Sachverstand eines Sigismund von Reitzenstein für den Aufbau des Rechts- und Erziehungswesens im Grossherzogtum Baden nicht weniger unentbehrlich als die hellsichtige Intelligenz seines 14 Jahre älteren Zeitgenossen Peter Ochs in der Republik Basel. Sie waren sich auch insofern ähnlich, als beide sich, hätten es die Umstände zugelassen, am liebsten nur der Reform ihrer Universitäten gewidmet hätten. Die Zeitumstände, aber auch der eigene Ehrgeiz zwangen sie in die Rolle staatlicher Architekten.

64.    Auf den Spuren der süddeutsch-schweizerischen RepublikNach Oben

Die Geschichte berichtet von Dingen, die einst Ereignisse waren. Von Vorhaben, die sich nicht verwirklichen liessen, schweigt sie lieber. Das, was heute ist, weil es so geworden ist, hätte vielleicht auch ganz anders sein  können. Aber wer will davon noch reden? Wäre Herzog Leopold 1386 bei Sempach nicht zusammen mit seinen Gefolgsleuten aus dem Basler Adel gefallen, hätte Katharina von Burgund eigene Nachkommen gehabt oder wäre Strassburg nach dem Muster von Mülhausen ein zugewandter Ort der Eidgenossenschaft geworden – die heutige politische Landschaft am Oberrhein sähe wohl anders aus.

Doch stösst man gelegentlich bei der Lektüre historischer Akten auf Vorhaben, deren Realisierung so weit vorangetrieben war, dass man sich nachträglich wundert, warum sie nicht Wirklichkeit wurden. Man sieht sich durchformulierten Konzepten gegenüber, entdeckt die Spuren der Handlungsträger, findet Drucksachen, Briefe, Verhörprotokolle und schaut in ein dichtes Netz von untereinander verknüpften Ideen, Aktionen und Menschen. Alles hing nur an einem Faden, der dann riss, und so verschwanden diese Ideen, Aktionen und Menschen wieder von der Bildfläche. Sie gerieten in eine Vergessenheit, aus der sie nur die Geduld der historischen Forschung erlösen kann. Eine solche Forschung hat manchmal selber ihre merkwürdige Geschichte.

Schon liegt die Zeit hinter uns, da es ein marktwirtschaftlich westliches und ein staatssozialistisches östliches Europa gab. Republikanisch-revolutionäre Geschichtsforschung musste von der Sache her relativ leicht ein Heimatrecht an der Akademie der Wissenschaften der einstigen DDR bekommen. Dort machte sich 1962 auf Grund vorausgegangener Arbeiten anderer der DDR-Historiker Heinrich Scheel einen Namen mit seinem Werk „Süddeutsche Jakobiner. Klassenkämpfe und republikanische Bestrebungen im deutschen Süden“, dem er 1979 einen Quellenband „Jakobinische Flugschriften aus dem deutschen Süden des 18. Jahrhunderts“ folgen liess. Wo schon auf der ersten Seite eines Vorworts Marx und Engels, auf der zweiten Seite Lenin und Stalin zitiert werden, schien für den westlichen Leser Skepsis angebracht. Oder betrieb Scheel eine Art Mimikri? Denn das Material, das er vorlegte, war in seinem Umfang und in seiner Unbekanntheit eigentlich erstaunlich. In einem von den deutschen Freiheitskriegen und von Preussen dominierten Geschichtsbild tauchten plötzlich bürgerliche Republikaner aus Freiburg, Stuttgart, Ulm und Lörrach auf. Mit einer Verspätung von rund 10 Jahren gab Scheel Anstoss zur westdeutschen Jakobinerforschung von Hamburg über Mainz bis in die obere Markgrafschaft. Walter Grab, Elisabeth Fehrenbach, Axel Kuhn, Otto Büsch nahmen den von Scheel ausgeworfenen Faden auf.

Weil es sich bei diesen Forschungen um die Nachwirkung von Unterlegenen und Besiegten handelte – der deutsche Republikanismus bekam 1796-1800 keine Chance und unterlag auch 1848 –, war das ein Thema, dessen sich auch nicht an Universitäten etablierte Historiker annehmen konnten. Bisher übersehene Dokumente legte der in Reutlingen-Betzingen ansässige Hellmut G. Haasis vor („Gebt der Freiheit Flügel. Die Zeit der deutschen Jakobiner 1789-1805“, 1988), Erwin Dittler in Kehl rekonstruierte geradezu minuziös („Jakobiner am Oberrhein“, 1976) die Vorgänge in der Basler Ecke auf der deutschen Seite. 1993 fasste Uwe Schmidt in seinem Buch „Südwestdeutschland im Zeichen der Französischen Revolution“ nicht nur die bisherigen Ergebnisse zusammen, sondern legte aus übersehenen Wiener und Pariser Akten abermals neue Quellen vor.

Schreibe ich hier eigentlich einen Forschungsbericht oder eine Geschichte? Beides. Zum einen wissen wir jetzt ganz genau, dass Südwestdeutschland, besonders die badischen und vorderösterreichischen Gebiete, schon 1796 bereit waren, die zwar sanfte, aber im Kern absolutistische Herrschaft des Markgrafen, des Kaisers in Wien und der weiteren weltlichen oder geistlichen Herren umzustürzen. Zum andern sehen wir, dass parallel zur Revolutionierung der Schweiz 1798 eine Staatsumwälzung in Süddeutschland vorbereitet war, wobei Basel als die wichtigste Nachrichtenzentrale und Drehscheibe funktionierte. Das Datum des 17. Januar 1798 zum Beispiel, an dem in Liestal ein Freiheitsbaum aufgerichtet wurde, war am Grenzacher Hörnli festgelegt worden. Und zum dritten taucht in diesen Plänen das Vorhaben einer gemeinsamen süddeutsch-schweizerischen Republik auf, eines völlig neuen Staates. Wirtschaftlich hätte er die mehr gewerblich-industriell organisierte Schweiz mit dem im Getreideanbau starken Süddeutschland zusammenführen sollen. Ethnisch berief man sich auf die gemeinsame alemannische Sprache, historisch auf die einstige Herrschaft der Zähringer. Das politische Argument ging dahin, dass die Schweiz und Süddeutschland zusammen einen Staat ergäben, der von seiner Grösse her als Republik dem republikanischen Frankreich weniger ausgeliefert gewesen wäre und den als zu übermächtig empfundenen Nachbar Österreich hätte zurückdrängen können.

Süddeutsche Republikaner wie Jägerschmid, List, Bärstecher und Fahrländer weilten und wirkten zeitweise in der Schweiz selber, bewegten sich wie Irrlichter zwischen Stuttgart, Strassburg, Basel und Bern; auf schweizerischer Seite fanden sie Gehör bei Philipp Albert Stapfer, Albert Haller, César La Harpe, Remigius Frey. Auch Peter Ochs kannte diese Pläne. Er riet aber am 4. Juni 1798 als frisch gewählter helvetischer Direktor dazu, zuerst die eigene Republik zu konsolidieren, bevor man sich mit den Süddeutschen einlasen sollte.

Eine gemeinsame süddeutsch-schweizerische Republik entstand nicht, weil die französische Generalität auf beiden Seiten es Rheins verschiedene Ziele verfolgte: in der Schweiz einen Einheitsstaat gegen die alten kantonalen Oligarchien, in Süddeutschland Vereinbarungen mit den stärksten Fürstenhäusern aus militärischen Gründen. Eine solche Republik hätte auch keine Chance gehabt – denkt man heute. Aber vergisst dabei, dass die Staatsgründungen der napoleonischen Zeit von erstaunlicher Dauer waren: das Königreich Bayern, das Königreich Württemberg, das Grossherzogtum Baden und letzten Endes sogar die zum Zeitpunkt der Abdankung Napoleons definierte Schweiz.

Die von Heinrich Scheel bis Uwe Schmidt geleistete Forschungsarbeit macht es auch nötig, dass man in der Schweiz die geschichtlichen Darstellungen der Helvetischen Republik überprüft. Aus dem bundesstaatlichen Gesichtswinkel von Zürich und Bern mag das Projekt einer süddeutsch-schweizerischen Republik so absurd erscheinen wie der Plan von 1806, ein Königreich Helvetien in der Schweiz und Baden einzurichten. Aus der Basler Perspektive hingegen war es eine Option – eine riskante, unheimliche, vielversprechende?

65.    Königreich HelvetienNach Oben

1807 erschien in Paris, verfasst von einem früheren Generalinspektor der Militärfahrzeuge namens Viton, eine chronologische, genealogische und politische Geschichte des fürstlichen badischen Hauses in zwei Bänden, französisch geschrieben, typografisch sorgfältig aufgemacht und tadellos gedruckt. Schon der erste Satz der Einleitung lies die Absicht dieser Publikation, nicht einmal drei Jahre nach der Kaiserkrönung Napoleons erschienen, deutlich erkennen: „Das badische Haus ist dank seinem Ursprung das erlauchteste der regierenden Häuser Europas.“ Der Markgraf von Baden-Durlach, der die markgräflichen Linien von Hachberg-Sausenberg und Baden-Baden wieder zusammengeführt hatte, sollte als der angesehenste und ehrwürdigste fürstliche Herrscher gefeiert werden, andern Häusern wie dem habsburgischen, brandenburgischen, hessischen, aber auch spanischen, sardinischen und selbst dem Zaren weit überlegen an Würde und Ruhm – von den Bourbonen und dem englischen Königshaus ganz zu schweigen.

Das längste Kapitel in dieser Verherrlichung galt dem 1722 geborenen Markgrafen und jetzt Grossherzog von Baden Karl Friedrich, der schon 85 Jahre alt war und von dem Monsieur Viton dennoch schrieb: „Die badische Nation kann hoffen, dass dieser Fürst sie noch während langen Jahren regieren wird, und wenn der Lauf der Zeit ihn wegnimmt, wird sie in seinem Enkel, dem grossherzoglichen Erbprinzen (Karl Ludwig Friedrich), alle Tugenden entdecken, die seinen erhabenen Grossvater auszeichnen.“

Wie kam man ausgerechnet in Paris dazu, dieses süddeutsche Fürstenhaus aus Durlach und Karlsruhe derart in den Himmel zu heben und über alle regierenden Häupter Europas zu stellen? Nun, es hatte damit, genealogisch gesprochen, schon eine gewisse Richtigkeit, wenn man auf den Stammbaum blickte. Monsieur Viton unterzog sich der mühseligen Arbeit, aus Chroniken und der Literatur seiner Zeit (zum Beispiel der von Schoepflin auf lateinisch verfassten Geschichte des badischen Hauses) die Abstammungslinien dieser Fürsten in chronologischen Ahnentafeln bis in die merowingische Zeit zurückzuführen, also weit über die Zähringer (11. bis 13. Jahrhundert) hinaus. Sie können ihre Herkunft von den sogenannten Etichonen, Herzogen im Elsass im 7. Jahrhundert, ableiten, der Familie, zu der auch die heilige Odilie gehörte. Unter ihren Ahnen befindet sich Adalbert oder Alberich, Herzog des Elsasses, von Schwaben und Alemannien, gestorben 722, der wiederum als Stammvater der Zähringer und Habsburger gilt. Bei den Zähringern wird deutlich vermerkt, dass sie ja auch über die Schweiz geherrscht hätten. Ein Zähringer führte, 1030 urkundlich nachgewiesen, erstmals den Titel eines Markgrafen. Verschwägert und verschwistert war man schon mit den ottonischen Kaisern. Und was die Gegenwart anbelangt, so behauptete es Viton nicht nur, sondern weist es mit genauen Namen und Daten nach, dass die Mehrzahl der regierenden Häupter im damaligen Europa von Prinzessinnen des badischen Hauses abstammten, nämlich der in Wien residierende Kaiser, die Könige von Preussen, England und ein Grossteil der deutschen Fürsten.

Druckjahr dieser Publikation, wie gesagt, 1807 – nehmen wir an, Monsieur Viton sass schon 1805 an seinen Recherchen. Zehn Jahre vorher bemühte sich die französische republikanische Diplomatie, den König von Preussen vom habsburgischen Kaiser zu trennen; 12 Jahre vorher wurde der eigene König in Paris guillotiniert, 13 Jahre vorher erklärte Frankreich dem Oberhaupt des Deutschen Reiches den Krieg und hängte die Aristokraten an die Laterne. Und jetzt diese fleissige Ehrfurcht vor einer deutschen Fürstenfamilie, der man sogar attestierte, dass sie sich im Kampf gegen Louis XIV und Louis XV erfolgreich behauptet hatte!

Nun, im sogenannten Reichsdeputationshauptschluss von 1803 war klar geworden, dass es mit den mehr als 300 weltlichen und geistlichen Herrschaften im Deutschen Reich zu Ende war, dass kleinere und vor allem geistliche Herrschaften unter die grösseren Fürsten verteilt und säkularisiert würden, dass der neue Herr Europas, der sich 1804 selber die Kaiserkrone aufgesetzt hatte, es nur noch mit gekrönten Häuptern von berechenbarem (aber Frankreich unterlegenem) Gewicht zu tun haben wollte, und dass er sich diese im Rheinbund von 1805 gefügig zu machen gedachte. Da war der badische Markgraf als nächster Nachbar Frankreichs am Oberrhein die interessanteste Figur. Schon im Frieden von Lunéville hatte Napoleon dafür gesorgt, dass der Markgraf sein Territorium von Heidelberg und Mannheim bis nach Konstanz erweitern konnte und die früher die Markgrafschaft durchschneidenden vorderösterreichischen Besitzungen ihm zugeschlagen wurden, zudem erhielt er die Würde eines Kurfürsten.

Nun aber passierte etwas völlig Überraschendes. Während der Herzog von Bayern und derjenige von Württemberg zu Königen avancierten, reichte es dem Markgrafen nur zum Titel eines Grossherzogs, freilich „von königlicher Würde“. Das war umso überraschender, als der badische Kronprinz zugleich mit der von Napoleon adoptierten Stéphanie de Beauharnais, einer Nichte der Kaisern Joséphine, verheiratet wurde, Napoleon damit Schwiegervater von Karl Ludwig Friedrich geworden war.

Lag das – man hat es lange vermutet – an der Bescheidenheit des greisen Karl Friedrich, der nicht titelsüchtig war? War es eine absichtliche Zurücksetzung durch die französische Diplomatie, war es eine Intrige der Bayern oder Württemberger? Alles falsch. Der Schlüssel liegt beim bevollmächtigten badischen Minister Sigismund von Reitzenstein, der Stéphanie, die Gattin des badischen Kronprinzen, dazu bewog, den möglichen Titel einer Königin so lange zurückzuweisen, bis Napoleon ihr neben einem vergrösserten Baden auch die Schweiz als Herrschaftsbereich und Teil eines Baden und die Schweiz umfassenden Königreichs Helvetien anbieten würde. Napoleon schwankte, sein Schwiegersohn begann ihm schon zu missfallen, und Aussenminister Talleyrand sagte: „Toute la Suisse – non, c’est trop“. 1806 nahm dann Napoleon auch formell den Titel eines „Médiateurs de la Suisse“ an, damit waren die Befürchtungen in der Schweiz, mit Baden in eine Königreich Helvetien vereinigt zu werden, vom Tisch.

Von heute aus gesehen erscheint das süddeutsch-schweizerische Projekt eines badischen Königreichs Helvetien absurd. Historisch betrachtet waren die Herrschaftsformen der Eidgenossen links vom Hochrhein zwar auch absolutistisch, aber es waren fast ausnahmslos Republiken, die sie ausübten. Wohingegen rechts vom Hochrhein fürstliche Häupter das Sagen hatten, weltliche und geistliche bunt gemischt. Das politische Grundgefühl divergierte stark. Doch vergessen wir nicht: Die napoleonischen Staatsformen, so die Königreiche Bayern und Württemberg, dazu das Grossherzogtum Baden, waren zwar in manchen Beziehungen künstliche Schöpfungen, dauerten aber mehr als 100 Jahre bis zum Ende des Ersten Weltkrieges. Es ist nicht auszumachen, ob ein badisch-schweizerisches Königreich Helvetien nicht auch hätte dauern können.

Die Druckkosten für sein prächtiges Buch hat Monsieur Viton vermutlich ersetzt bekommen. Die Schweizerinnen und Schweizer von heute aber dürfen sich dankbar an Herrn Talleyrand erinnern, der eine gemeinsame Monarchie für übertrieben hielt.

66.    Das Spitzbuben-DreieckNach Oben

Die Grenzstadt Basel ist durch ihre politische Lage für dubiose Elemente einladend, die sich für Schmuggel, Autodiebstähle, Drogen, Geldwäscherei, Einbrüche etc. interessieren – wenn es heiss wird, kann man rasch über die normale oder grüne Grenze verduften. (Wenn demnächst die EU fremdenpolizeilich zu einem einheitlichen Raum werden sollte, kommen auf unsere Polizei ein paar neue Probleme zu.) Wie war das denn früher?

Gehen wir einmal ins Jahr 1819 zurück und lesen die „Geschichte der Verbrecher X. Hermann, F. Deisler, J. Föller und Jos. Studer, durch das Kriminalgericht zu Basel den 14. Juli 1819 theils zum Tode, theils zur Kettenstrafe verurtheilt“. (Marco Niemz hat mich freundschaftlich auf diese Publikation aufmerksam gemacht.) Die Schweighausersche Buchhandlung in Basel hat sie, nach den Prozessakten bearbeitet, „zur Warnung“ herausgegeben. Es ist ein Büchlein von gegen 120 Seiten – Verbrechen in aller Breite und bis in die Tiefen der Lebensläufe hinein zu schildern, ist keine Erfindung der Neuzeit. Sogar die Portraits der Missetäter sind reproduziert, eigentliche Fahndungsbilder, denen auch zu entnehmen ist, dass die verurteilten Männer an den Hand- und Fussgelenken durch eiserne Manschetten, die mit Ketten untereinander verbunden waren, gefesselt wurden. Das Basel der beginnenden Biedermeierzeit, das sich altväterlich behutsam geben wollte, freilich auch eine stramme Zensur eingeführt hatte, kannte in criminalibus keinen Spass. Das liberale Strafrecht, das Peter Ochs bereits 1812 entworfen hatte, war unbeachtet in der Schublade des Bürgermeisters Bernhard Sarasin verschwunden.

Die vier Missetäter, von denen drei unter riessiger Anteilnahme des Publikums vom 4. August 1819 öffentlich enthauptet wurden, nannten sich Xavery Hermann, Ferdinand Deisler, Jacob Föller (auch Feller geschrieben) und Joseph Studer, Zudem waren zwei Frauen in das Verfahren verwickelt, nämlich Rosina Leber und Maria Waidele. Sowohl der Autor wie der Verfasser der Bildlegenden machen sofort klar, was es mit dem Prozess Spezielles auf sich hatte (und weshalb auch ich von dieser Geschichte berichte): Die Missetäter waren Elsässer, nämlich Hermann, Föller und Studer, währenddem Deisler aus dem badischen Inzlingen kam; die Frau Leber, geborene Hermann, stammte aus Colmar, Frau Waidele, geborene Fernbach, war eine Schwarzwälderin. Angehalten, also verhaftet, wurden sie zum Teil in Basel oder an der Grenze. Die Entrüstung darüber, dass die Delinquenten Ausländer waren, ist im Bericht noch heute spürbar.

Auffällig ist das Datum des Urteilsspruchs, nämlich der 14. Juli. Das kann schwerlich ein Zufall sein, denn dass am 14. Juli im Revolutionsjahr 1789 die Bastille gestürmt worden war, blieb unvergessen. Was aber hatten solche Gauner 30 Jahre später mit der Französischen Revolution zu tun?

Der erste Koalitionskrieg Frankreichs mit den deutschen Fürsten von 1792 brachte für das Deutsche Reich Verluste an linksrheinischem Gebiet, nach 1803 begann dann die Zusammenlegung und Neuorganisation zahlreicher deutscher Fürstentümer, die Napoleon weiterführte. Dadurch entstanden Rechtsunsicherheiten und fast so etwas wie polizeilich-juristische Freiräume, die die damaligen Ordnungskräfte überforderten. Nach 1792, also nach dem Kriegsbeginn, etablierten sich am Rhein auffällig viele Gauner- und Diebesbanden, zu denen natürlich auch durch die Revolution entwurzelte Leute stiessen. Für die wachsende Kriminalität konnten somit in den Köpfen vereinfacht denkender Bürger die Franzosen verantwortlich gemacht werden. Es war symbolisch gemeint, wenn man solche Kriminelle an einem 14. Juli zum Tod verurteilte. Die berühmteste Figur aus dem Verbrechermilieu, der sogenannte Schinderhannes, der 1803 mit 19 Genossen guillotiniert worden war, repräsentierte in diesem Sinn eben auch das anarchische revolutionäre Element. Schillers „Räuber“, die den Skandal gesetzloser Banden auf die Bühne brachten, wiederspiegeln vorwegnehmend die hohe Kriminalitätsrate der Jahre 1798 bis 1815, die so kleine Gemeinwesen wie die Republik Basel noch lange danach erregten.

Zu dem Misstrauen Ausländern gegenüber kommt noch eine zweite Diskriminierung. Das in Basel gedruckte Büchlein vermerkt vor jeder Biografie der einzelnen Gauner, welcher Religion sie waren. „Xaver Hermann von Kolmar“ steht da, und in Klammern wird hinzugefügt „Katholik“. Geradezu pedantisch sammelt der Verfasser alle negativen Vorzeichen: Colmarer ist er, katholisch ist er, vom Bläsitor in Basel zieht er nach Allschwil, das eine Zeitlang auch französisch war, dann übersiedelt er auf französisches Gebiet bei Benken, konstruiert sich selber eigentliche Diebeswerkzeuge, bis er am 11. März 1818 „im Solothurnischen Dorfe Flüe, bei dem dortigen Bäcker und Wirth, während er mit dem Maire von Leimen eine Bouteille Wein trankt“, verhaftet werden konnte. Schliesslich wurde man der ganzen Bande der vier Spitzbuben habhaft. Hermann und Föller gestanden zuerst, Deisler und Studer leugneten noch. Der Bericht fährt fort: „Man sah sich daher genöthigt, schärfere Massregeln eintreten zu lassen, welche mit den oft ganz kurzen, zuweilen nur in einer einzigen Frage bestehenden Verhören bei Beiden die beste Wirkung hervorbrachten“ – ganz offensichtlich wurde im Basel von 1818 noch gefoltert. Doch waren die drei Todesurteile von 1819 die letzten, die in Basel gefällt wurden.

Die Publikation zählt fast genussvoll die einzelnen Einbrüche und Vergehen des diebischen Quartetts auf. Am 19. Mai 1817 zum Beispiel erbrachen sie den Opferstock im Münster, zu dem sie sich mit Nachschlüsseln Eintritt verschafft hatten. In der Nacht vom 23. auf den 24. Mai 1814 wollten sie ein Warenlager an der Stadtmauer ausrauben, wurden aber durch einen Herrn Frossard aus Lausanne gehindert. In der Nacht vom 8. zum 9. Juni 1817 stahlen sie bei Fräulein Dienast am Fischmarkt silberne Bestecke etc.

Man muss sich bei all diesen Schilderungen immer wieder vor Augen halten, dass Basel zu jener Zeit eine Stadt in der Grössenordnung von weniger als 20'000 Einwohnern war, und dass die Organisation der Polizei noch sehr im argen lag – ganz abgesehen vom Fehlen der heutigen Kommunikationsmittel wie Telefon, Kopierer und Fax. Aber schon damals stellten sich Datenschutzprobleme. „Die Stellung von Bürgern, die Auslieferung der Pässe, die Aufzeichnung der Namen und äusseren Kennzeichen in das Polizeiregister ist verdachterregenden Eingewanderten eine alllzulästige und gefahrdrohende Sache.“ Dagegen steht die erschreckend hohe Kriminalitätsrate: „Im Jahr 1818, belaufen sich die eingefangenen und zum Theil ausgelieferten Verbrecher jeder Art auf 108; angehaltenes Gesindel in der Stadt auf 2101; Im Kantone auf 593; zusammen daher auf 2816 Köpfe.“

Der Ruf, dass die Grenzstadt Basel für kriminelle Vorhaben ein besonders attraktiver Ort sei, stammt nicht von heute, sondern hat sogar als Spitzbuben-Dreieck seine eigene Geschichte.

67.    Eine Traube mit vielen BeerenNach Oben

Warum industrialisierte sich eine Stadt wie Mülhausen schon im 18. Jahrhundert und eine durchaus vergleichbare Stadt, wie Schlettstadt bis in unser Jahrhundert, praktisch nicht? Das sind die naiven Fragen, auf die die Geschichtswissenschaft nicht immer sofort eine Antwort bereithält. Beide waren ja Reichsstädte, und im späten 15. und frühen 16. Jahrhundert waren wahrscheinlich technisch-gewerbliche Kenntnisse in Schlettstadt – man denke an den Buchdruck – verbreiteter als in Mülhausen. Im Augenblick, da man die schweizerische Geschichte zu Hilfe ruft, findet man vielleicht eine Antwort.

Mit 1515, dem Jahr der Schlacht von Marignano, war Mülhausen zugewandter Ort der Eidgenossenschaft geworden, zusammen mit seinem eher kleinen Stadtbann, einem Dörflein da, ein paar Äckern dort und Teilen des Hardwaldes dazu. Staatspolitisch war Mülhausen für die Eidgenossen eine Exklave, schon der Weg nach Basel führte über fremdes Territorium, und da liessen sich dann immer wieder habsburgische, murbachisch-fürstäbtliche und später französische Zollposten nieder, um die Ein- und Ausfuhr nach Mülhausen zu besteuern. Man konnte Mülhausen die Korn- und Weinzufuhr unterbinden, man konnte zuziehenden Eidgenossen den Transit erschweren – die Geschichte des eidgenössischen Mülhausens ist voll von solchen Schikanen. Also war es auch logisch, dass die Stadt sich früh um die Produktion von Gütern ausserhalb des landwirtschaftlichen Bereiches kümmerte, von Waren, die auf dem grösseren Markt gesucht waren und gegebenenfalls auch eine Zollbelastung ertrugen. (Da könnte Mülhausen fast ein Modell für die Schweiz von heute sein, die sich an den Grenzen zum europäischen Markt schwertut.)

Gewerbliche Organisation und industrielles Schaffen brauchen letzten Endes immer einzelne Menschen, die die gegebenen Voraussetzungen auch zu nutzen wissen. Und manchmal sind das ganze Familien. Da taucht aus dem Nebel der Geschichte ein Zürcher Küfer auf, der am 12. Dezember 1604 Bürger von Mülhausen wird, ein offenbar schon wirtschaftlich denkender Mann, dass er aus Hottingen mit etwas sauren Trauben ins Elsass mit den süsseren Trauben umzieht, und im Wappen führt er eine Traube samt Rebmesser. Sein Name: Hartmann Koechlin. Seine Nachkommenschaft ist riesig, fast nicht mehr zu zählen, auch wenn sie einen Augenblick, als ein Nachkomme namens Samuel, Sohn des Hirschenwirtes in Mülhausen, im Alter von wenigen Monaten seine beiden Eltern an Typhus verlor und als Weise aufwuchs, zu verlöschen schien. Von ihm, der dann zahlreiche Kinder und Kindeskinder hatte, stammen sozusagen als zweitem Stammvater die Koechlins in Mülhausen, Basel, Lörrach und der übrigen Welt ab.

Für das Dreiland am Oberrhein ist die Familie Koechlin exemplarisch durch ihre Aktivitäten in allen drei nationalen Teilbereichen, in Mülhausen, in Basel und in Lörrach. Die Einbürgerungspolitik Basels vor der Französisches Revolution war beängstigend restriktiv und insofern sogar erfolgreich, als die Bürgerschaft abzunehmen begann. Eine der wenigen Neuaufnahmen ins Bürgerrecht betraf 1782 Hartmann Koechlin (1755-1813) von Mülhausen; er fand Gnade vor den Augen der gnädigen Herren, weil er der Schwiegersohn des Stadtschreibers Isaak Iselin (1728-1782) war, des damals berühmtesten Baslers. Seither gibt es Koechlins in Mülhausen und in Basel, ihr Spielfeld, wenn man es so sagen darf, war die Wirtschaft dieses Oberrheins, wo man Grenzen nur kennt, um sie zu überwinden.

Eine der auffälligsten Figuren ist Nicolas Koechlin (1781-1852) von der Mülhauser Linie. Ihm verdankt Basel den Anschluss an die Eisenbahn von Elsass-Lothringen. Es war ein wenig wie heute mit den Autobahnen: die Deutschen und Franzosen führen sie bis an die Grenze, und dann sollen die Basler schauen, wie sie sie abnehmen. Knapp 20jährig gründete Nicolas Koechlin eine Stoffdruckerei, die schon 1806 in Masevaux eine Tochtergesellschaft etablierte; 1809 kaufte er in Lörrach, zusammen mit einem  Basler Teilhaber Merian, ein älteres Unternehmen auf, das Koechlin 1819 allein übernahm. Als ein moderner Mann seiner Zeit war Koechlin napoleonisch gesinnt, Oberst der Nationalgarde, stellte aus seinem persönlichen Vermögen 200'000 Franken für die Verpflegung der belagerten Festung Hüningen zur Verfügung, brachte aber zugleich seine Familie zur Sicherheit in die Schweiz und meldete sich persönlich bei Napoleon. Der Kaiser war gerührt über soviel Loyalität. Dessen Verbannung nach St. Helena brachte Koechlin nach Mülhausen zurück, wo er 1820 noch eine Spinnerei gründete, später Webereien und Bleichereien, die er auch in Lörrach und Masevaux ausbaute. Seine Belegschaft zählte auf dem Höhepunkt seines Wirkens nicht weniger als 5000 Arbeiter, Angestellte und Reisende; Agenten Koechlins sassen in Moskau, New York, Mexiko, Rio, London, Alexandrien, Indien, Peru. Mit Jean Dollfus aus Mülhausen und Christoph Merian aus Basel zusammen baute er das „Nouveau Quartier“ in Mülhausen, wo heute noch die Société Industrielle de Mulhouse in einem von ihm geschenkten Gebäude residiert. Dort empfing er dann 1828 Karl X., den nachrevolutionären König von Frankreich, und wurde – zum zweiten Mal nach Napoleon – chevalier der Ehrenlegion.

Der Industrielle, Offizier, Bankier – er besass auch ein eigenes Bankinstitut –, der Politiker – er war Député von 1830 bis 1841 –, der gesellschaftlich souveräne und schöne Mann wusste auch, wie man den nicht ganz so weltmännischen Baslern die Eisenbahn zu verkaufen hatte. Er lud die Spitzen der Basler Gesellschaften zur Einweihung des Bahnhofes nach St. Louis ein und arrangierte das Festbankett im Basler Casino. Da kam dann der ganze Basler Tross von St. Louis in den Kutschen nach Basel zurück, voran die flotten Husaren in der Galauniform – wer wollte da noch etwas gegen einen Anschluss Basels an die elsässische Eisenbahn haben?) Eiligst brachen die Basler in die alte Stadtmauer ein riesiges Tor, durch das die Dampflok einfahren konnte. Das erste Bahngeleise auf helvetischem Boden war eben nicht die sogenannten Spanischbrötlibahn von Zürich nach Baden, sondern die Linie Basel-St. Louis, die zugleich den Anschluss an die internationale Linie bis Strassburg brachte.

Die Traube im Wappen Koechlin hat viele Beeren. Ein Nachkomme in Amsterdam namens Henry Koechlin versucht, über die sich noch immer ausbreitende Deszendenz den Überblick zu wahren und muss laufend Nachträge zur Genealogie publizieren. Die Basler, die noch wissen, dass die Firma Novartis aus dem Zusammenschluss der Ciba-Geigy mit der Sandoz entstand, dürfen sich daran erinnern, dass die älteste Chemiefirma Basels und darum auch etwas alväterische Geigy unter Carl und Hartmann Koechlin nach dem Zweiten Weltkrieg einen so imposanten Aufschwung nahm, dass sie schliesslich als ebenbürtiger Partner mit der Ciba fusioniert werden konnte, aus der dann, zusammen mit Sandoz, die Novartis hervorging. Dass deren Betriebsstätten jetzt neben Basel auch in Hüningen und Grenzach stehen, ist nichts anderes als die Fortführung einer Tradition, die im Hause Koechlin schon bald 200 Jahre Gültigkeit hat.

68.    Abschied aus NotNach Oben

Personen- und Ereignisgeschichte hat den unnachahmlichen Vorteil, dass sie sich leicht erzählten lässt. Mentalitäten, ökonomische Verschiebungen und Stimmungslagen sind historisch schwerer verständlich zu machen, weil sie schwieriger fassbar sind. Es sei denn, man könne auf Institutionen oder Erscheinungen zurückgreifen, die indirekt solche Situationen, die für „das gemeine Volk“ (der Ausdruck war vor 200 Jahren nicht despektierlich gemeint) charakteristisch waren, zum Ausdruck bringen.

Dazu gehören die Auswanderungen aus der Schweiz und dem ganzen Oberrhein. Es gab sie schon immer, die schweizerischen Söldner waren auf ihre Weise auch Auswanderer, Auswanderer waren die schweizerischen Bauern, die nach dem Dreissigjährigen Krieg in das unterbevölkerte Elsass und die oberrheinischen Lande zogen.

Der Drang zur Auswanderung wurde durch politische Ereignisse erheblich verstärkt. Die faktische Unterwerfung der Schweiz nach 1798 unter das französische Regiment und das Napoleon zugestandene Recht, 18'000 Soldaten in der Schweiz auszuheben, brachten so etwas wie einen Auswanderungsschub. Der normale Weg führte diese schweizerischen Familien über Basel, es gab noch keine Eisenbahnen; die teuren Postkutschen-Verbindungen konnte sich ein Auswanderer in der Regel nicht leisten. Also war man auf den Wasserweg nach Amsterdam angewiesen.

Das Jahr 1816 war ein richtiges Hungerjahr, die klimatischen Bedingungen waren miserabel; aus Zeitzeugnissen wissen wir, dass die Kinder wie Vieh in die Wiese getrieben wurden, um Gras zu essen. Damals entschlossen sich völlig verzweifelte Familienväter, das Abenteuer einer Auswanderung nach Amerika zu wagen. Des einen Elend aber war schon immer des andern Geschäft: In Basel etablierten sich eigentliche Agenturen, die den auswanderungswilligen Schweizern und Badenern das Blaue vom Himmel versprachen.

Die Reise ging von der Basler Schifflände über Breisach und die Pfalz bis nach Holland, wo die Auswanderer auf die Schiffe zu warten hatten, die sie in die Neue Welt zu transportieren versprachen. Für viele Frauen, Männer und Familien war schon das eine Reise ins Unbekannte: Man wusste nicht, wie verlässlich die Vertragspartner waren, dem Rhein entlang wurde zwar noch deutsch gesprochen, aber mit den holländischen Kapitänen war die sprachliche Verständigung plötzlich schwieriger. Der schweizerische Handels-Consul von Planta in Amsterdam hatte alle Hände voll zu tun, er musste schweizerischen Auswanderern, die sich in der Grossstadt Amsterdam nicht mehr zu helfen wussten, jede Art von Unterstützung gewähren.

Die Überfahrt ging damals vorwiegend nach Philadelphia. Die Passage für eine erwachsene Person kostete 170 Gulden, Kinder unter vier Jahren waren frei, Kinder zwischen vier und 14 Jahren zahlten 85 Gulden. Wer nicht über das nötige Bargeld verfügte, musste sich als Erwachsener für 190 Gulden verpflichten, und das bedeutete, dass er in Amerika eine entsprechend salarierte Stelle bedingungslos anzutreten hatte.

Aber beginnen wir beim Ausgangspunkt der Reise, an der Basler Schifflände. Die Schiffe, mit denen man die Reise auf dem Rhein unternahm, waren speziell für Auswanderer konstruiert. Das hiess, dass man möglichst viele Personen auf einem solchen Schiff, eine Art von grossem Weidling, unterbringen wollte. Ein Schiffsmeister Jakob Hindenlang entwarf im Frühjahr 1816 sogar ein Schiff mit zwei Etagen, das eine Länge von gegen 20 Meter und eine Breite von um die 3,40 Meter hatte. Aber der Rat traute dieser Schiffskonstruktion nicht und verlangte, dass das obere Verdeck wieder entfernt werden müsse. Erste Destination war Amsterdam.

In Amsterdam waren die Auswanderer noch lange nicht am Ziel ihrer Wünsche. Die versprochenen Schiffe lagen häufig noch nicht im Hafen, andere waren für die Ausfahrt auf keine Weise vorbereitet. Der Hungerwinter 1816/17 verlangte auch in Amsterdam seinen Tribut, die Auswanderer kampierten in äusserster Not in Kasernen, wo sich niemand um ihr Schicksal kümmerte. Die niederländische Regierung erliess 1817 eine Verfügung, „dass keine Auswanderer, welche die Absicht haben, sich in die Meerhäfen der Niederlande zu begeben, um sich da selbst für die Vereinigten Staaten einzuschiffen, das Königreich betreten dürfen, insofern nicht bekannt in Holland wohnende Personen für die Kösten, welche ihr Aufenthalt daselbst bis zur Einschiffung verursachen wird, Bürgschaft leisten werden“. Das wirkte bis nach Basel zurück, wo die Regierung Auswanderer nur noch zulassen wollte, wenn sie den Nachweis über die notwendigen finanziellen Mittel erbringen konnten.

Dann erst begann die Reise über das grosse Wasser. Aus dem Basler Jahrbuch von 1941 kennen wir einen ausführlichen Bericht von einer Atlantiküberquerung, die Eduard Wirz wieder ausgegraben hat. Tag für Tag können wir die Ereignisse nachlasen und sehen, dass die Überfahrt insgesamt 102 Tage dauerte. Die Lebensverhältnisse waren schlimm, an Komfort fehlte es an allen Ecken und Enden.

In einem Auswandererlied der damaligen Zeit lautet ein Vers wie folgt:

Ist gleich unsere Reise beschwerlich

bis in Nordamerika,

so ist dessen End doch herrlich,

bald sind wir demselben nah.

Der Tagebuchschreiber, dessen Bericht diese Daten entnommen sind, gehörte freilich zu einer begüterten Klasse. Ärmere Auswanderer standen vor der Notwendigkeit, ihre Überfahrt mangels Geld mit einem festen Anstellungsverhältnis bei Amerikanern zu bezahlen, bei dem natürlich der Kapitän das Geld samt Provision einstrich. Einem andern Bericht ist zu entnehmen, dass ein Mädchen sich auf nicht weniger als sechs Jahre verpflichten musste. Eduard Wirz zitiert ein entsprechendes Dokument: „Diejenigen, so ihre Überfahrt bezahlt hatten, begaben sich fort, die Unglücklichen aber, welche die Überfahrt und den Unterhalt abverdienen mussten, damit der Schiffskapitän oder Unternehmer sich dadurch bezahlt machen konnte, mussten den Verkauf ihrer Person abwarten. Aus Mitleiden besuchte ich mit einem Freund diese Unglücklichen; es war ihnen schon eine Wohltat, da sie ihre Sprache reden hörten. Mancher von ihnen hätte sich gern an uns verkaufen lassen.“

Es war eine mildere Version eines eigentlichen Sklavenhandels. So war in einer Anzeige zu lesen: „Zu verkaufen eine tüchtige Dienstmagd, die noch drei und ein halbes Jahre zu dienen hat. Sie ist eine gute Spinnerin.“ Aber es gab auch Auswanderer, die nach Ablauf ihrer Dienstzeit völlig frei wurden. Ihre Nachkommen sind zum Teil die heutigen Bürgerinnen und Bürger der Vereinigten Staaten von Amerika, andere starben vergessen und verschollen im Wilden Westen.

69.    Pestherd SchweizNach Oben

Flüchtlingshatz, informelle Mitarbeiter, Asylantendrangsal scheinen der Gegenwart abgelauschte Wörter zu sein. Aber sie waren schon früher im Schwang und oft von einer gefährlichen politischen Brisanz.

Wir sind in den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts. Die Schweiz, vom Wiener Kongress 1815 anerkannt und in ihren Grenzen garantiert, war noch immer ein Staatenbund. Fremdenpolitik war im wesentlichen Kantonssache. Grenzkantone wie Basel, Genf, Tessin hatten damit naturgemäss mehr Schwierigkeiten als die Kantone im Innern der Schweiz. Noch gab es keine Eisenbahnen, Flüchtlinge kamen zu Fuss, per Schiff oder auf Pferdefuhrwerken ins Land. Es gab aber einen Kanton, für den politisches Asyl suchende Flüchtlinge ganz besonders heikle Probleme stellten, weil er auch ein Grenzkanton war, aber zugleich der jüngste unter allen Mitgliedern des eidgenössischen Bundes. Der Halbkanton Basel-Landschaft.

1830 war n Paris die Julirevolution ausgebrochen. Die liberalen Ideen bekamen einen revolutionären Schub. In der Verwirklichung liberaler Grundsätze war Basel behutsam und umständlich, den Landschäftlern riss nicht zuletzt unter dem Eindruck der Julirevolution der Geduldsfaden. Bürgerkriegsähnliche Auseinandersetzungen folgten, die Tagsatzung, zum Teil auch unter dem Eindruck des französischen Geschehens, fasste den Trennungsbeschluss. Nun mussten plötzlich die Aufständischen von gestern die Regierung von heute bilden. Wenn da ein ausländischer Flüchtling, der wegen seiner republikanischen Gesinnung von einem konservativen Regiment drangsaliert worden war, an die Tür pochte, wurde sie ihm aufgetan. Ordentliche Aufnahmeverfahren und gar systematische Kontrolle der Asylsuchenden waren allerdings kaum möglich, denn der neue Kanton musste sich verwaltungstechnisch erst einmal organisieren und eine funktionierende Polizei von Langenbruck bis zum Birsfeld einrichten. Dieses Birsfeld, das heutige Birsfelden, war bis nach Muttenz und Pratteln hinein überhaupt ein sensibler Punkt, weil da Flüchtlinge aus Deutschland jederzeit unbemerkt über den Rhein setzen konnten.

In Europa war es ungemütlich. In Deutschland führte Fürst von Metternich aufgrund der Karlsbader Beschlüsse von 1819 ein ganz und gar nicht liberales Regiment mit Polizeischikanen, Interventionen und unerbittlicher Zensur. Die Studenten revoltierten, am 27. Mai 1832 fand auf dem Hambacher Schloss ein von 20'000 Leuten (darunter vielen Frauen) besuchter Burschentag statt, der sechs Wochen später den Bundestag der Fürsten in Frankfurt zu neuen Verboten für politische Vereine und Volksversammlungen führte. Auch das Hissen der Flagge schwarz-rot-gold für ein freies und einiges Deutschland wurde unter Strafe gestellt. (Was nicht ganz zwei Jahre später deutsche Handwerksgesellen im Steinhölzli bei Bern nicht hinderte, diese Flagge zu schwingen und dafür die Papierfähnchen der Staaten des deutschen Bundes zu verbrennen.) Aufstände wurden aus Belgien, Polen, Italien und von der Pyrenäenhalbinsel gemeldet, die unterdrückten Republikaner wurden zu Flüchtlingen. Sie drängten in liberale Staaten, also nach Frankreich und in die Schweiz.

Ein Aufsatz von Ernst Würgler-Preiswerk in den Baselbieter Heimatblättern von 1951 schildert die damalige Lage. Den konservativen ausländischen Mächten war jedes Mittel recht, in die schweizerische Politik einzugreifen. Ein deutscher Flüchtling, Baron von Eyb, war besonders aktiv, versuchte überall Verschwörungen anzuzetteln. Schliesslich schnappte ihn die Zürcher Polizei. Beim Verhör ergab es sich, dass der Herr von Eyb ein falscher Baron war und eigentlich Zacharias Aldinger hiess. Der österreichische Gesandte bei den Eidgenossen, Graf vom Bombelles, hatte ihn als agent provocateur oder informellen Mitarbeiter selber eingeschleust. Der französische Gesandte in der Schweiz, der Herzog von Montebello, trieb das gleiche Spiel, sein Agent hiess Auguste Conseil, den diesmal die Berner entlarvten.

Die erst vor kurzem getrennten Basel-Stadt und Basel-Landschaft waren in einer entgegengesetzten Position. Den Städtern sass noch der Neutralitätsbruch von 1813 in den Knochen, wo sich die alliierten Armeen samt Kosaken in der Stadt breitgemacht hatten. Die Landschaft schwelgte im Triumph revolutionärer Gefühle. Ein Deutscher namens Julius Alhard Gelpke hatte schon am Göttinger Aufstand teilgenommen, war am 3. April 1833 am republikanischen Überfall auf die Frankfurter Hauptwache, der kläglich scheiterte, beteiligt gewesen. So floh er in die Schweiz, wo er der Zürcher Polizei gar nicht in den Kram passte. Was tun? Er ging nach Liestal, erhielt gegen eine Gebühr von tausend Franken am gleichen Tag das Gemeindebürgerrecht von Tecknau und später das Baselbieter Bürgerrecht. (Seinem Enkel verdanken die Basler die moderne Rheinschifffahrt.)

Aus der Selbstbiografie Gelpkes erfahren wir auch, wie deutsche und polnische Flüchtlinge in der Schweiz an revolutionären Projekten für die Nachbarstaaten bastelten. Einer Aufforderung von Giuseppe Mazzini folgend wollten sie im piemontesischen Savoyen mit Waffengewalt einen Umsturz anzetteln. Die Genfer Miliz wusste es zu verhindern, die gefangenen Rabauken wurden wieder ins Innere der Schweiz zurückgeschickt, wo die Bevölkerung auf polnische Freischärler bereits mit Unmut zu reagieren begann. Eine Flüchtlingshatz zeichnete sich ab, Asylanten waren nicht mehr willkommen; dem Fürsten Metternich kam das zupass.

Die Liste der Namen von vorwiegend deutschen, aber auch polnischen Flüchtlingen, die in den neugeborenen Kanton Basel-Landschaft strömten und ihre revolutionären Ideen weiter verbreiteten, ist imposant. Sie dienten dem jungen Staatswesen als Lehrer und Pfarrer (viele Basler Pfarrherren hatte man in die Stadt zurückgeschickt), Ärzte und Advokaten, Rechtskonsulenten – und Schriftsteller. Ein Wilhelm Sauerwein reimte republikanische Gedichte, die die neue Zeitung „Der Unerschrockene Rauracher“ der Staatsdruckerei Banga fleissig abdruckte. Das Regierungsgebäude von Liestal glich zeitweise einem Verschwörerlokal. Metternich sprach von einem Pestherd Schweiz. Es hagelte diplomatische Noten. Wo der ausländische Wunsch nach Ausweisungen zu heftig wurde, griffen die Landschäftler immer wieder zum Instrument der raschen Einbürgerung. Dann konnte der die auswärtigen Geschäfte führende eidgenössische Vorort darauf hinweisen, dass schweizerische Kantonsbürger nicht ausgewiesen werden durften.

Die Vorstellung, dass die Schweiz sich seit dem Verschwinden Napoleons geruhsam in einem internen Prozess bis zur Gegenwart entwickelt hätte, ist falsch. Gerade in der Basler Ecke entdeckt man beim näheren Zusehen, wie das deutsche und französische, ja sogar italienische und polnische Geschehen tief in das kleinstädtische und dörfliche Leben hineinwirkte.

70. Das Werk des alten FaustNach Oben

Bei Goethe erlebt der alt gewordene Doktor Faust den Abschluss der von ihm veranlassten Deicharbeiten und Meliorationsvorhaben nicht mehr. Er ist zu alt, er kann nur noch ermunternd ausrufen:

Vom Lager  auf, ihr Knechte! Mann für Mann!

Lasst glücklich schauen, was ich kühn ersann.

Ergreift das Werkzeug, Schaufel rührt und Spaten,

Das Abgesteckte muss sogleich geraten ...

Mit jedem Tage will ich Nachricht haben,

Wie sich verlängt der unternommen Graben.

Und was tun die Arbeiter? Sie gewinnen dort Land, wo Wasser das Land bedroht, unwirtlich macht oder gemacht hat. Es ist das alte Bild eines auf Kultur und geordnete Wirtschaft bedachten Menschen im Kampf gegen die unheimliche und zerstörerische Natur. Friede stellt sich dann ein, wenn Natur und Menschenwerk im Gleichgewicht gegeneinander abgegrenzt ruhen – sagen wir es noch einmal in einem dichterischen Bild, diesmal von Joseph Viktor von Scheffel, dem Verfasser des „Trompeters von Säckingen“:

Schaum und Brandung, feste Städte,

Burg und Fels und stilles Kloster,

Und die Rebe reift am Hügel,

Und der Wächter grüsst vom Turme,

Und die Wimpel flattern lustig ...

Nun war der Rhein unterhalb von Basel seit Urzeiten nicht so, wie er heute ist, schon gar nicht mit seinem Kanal links vom alten Flusslauf. Sondern er war eben das immer wieder verschobene Geflecht von Armen und Strängen, durchsetzt mit Inseln, Auenwäldern und angeschwemmtem Geschiebe. Dieser wilde Rhein war ein Tummelplatz für Fischer, Weidlingfahrer, Schmuggler und Naturfreunde, aber ein Ärgernis für Transportschiffer, Ingenieure und Militärs. Was war das für eine lausige Grenze zwischen Nationalstaaten! Aber auch der zivile Besucher hatte gelegentlich zu klagen. Einer der berühmtesten hielt in seinem Lebensbericht fest: „Die Rheininseln waren denn auch öfters ein Ziel unserer Wasserfahrten. Dort brachten wir ohne Barmherzigkeit die kühlen Bewohner des klaren Rheins in den Kessel, auf den Rost, in das siedende Fett, und hätten uns hier in den traulichen Fischerhütten vielleicht mehr als billig angesiedelt, hätten uns nicht die entsetzlichen Rheinschnaken nach einigen Stunden wieder weggetrieben.“ Der oberrheinische Hans im Schnakenloch hiess in diesem Fall Johann Wolfgang und mit Nachnahme Goethe.

In den napoleonischen Kriegen waren Rheinbrücken und Rheintransporte strategische Faktoren. Nach den napoleonischen Kriegen lagen Frankreichs Staatsgrenze und – was noch wichtiger war – Frankreichs Zollgrenze am Oberrhein. Die erste Anwendung der Dampfmaschine geschah auf Schiffen. Die alte Schifffahrt hatte schon den Oberrhein benutzt, aber sie war beschwerlich gewesen – wer einen Weidling flussaufwärts stachelt, weiss warum. Es gab Basler, die fuhren mit ihren Waren bis zur Rheinmündung und verkauften dort ihre Fahrzeuge als Brennholz. Treideln heisst das gute alte Wort, was ein Schiff vom Ufer aus mit einem Seil flussaufwärts schleppen heisst. Im Juli 1832 landete erstmals ein Dampfschiff, die „Stadt Frankfurt“, in Basel; Wilhelm Geigy aber hatte entsetzt zusehen müssen, wie es vor Breisach auflief und mit zusammengeborgten Ketten weggezerrt und wieder flott gemacht werden musste.

Da kommt jetzt die andere Figur ins Spiel, Johann Gottfried Tulla, geboren 1770 und 1828 in Paris gestorben. Er war Ingenieur, Gründer der Ingenieurschule in Karlsruhe und befasste sich mit der Korrektur des Oberrheins. Ihm ging es aber nicht in erster Linie um die Schifffahrt, sondern er wusste aus eigener Anschauung, wieviel Wassernot bei Bauern und Städtern der durch seine Ebene mäandrierende Strom – oft bis zu zwei Kilometern breit – verursachte. Schönstes schwarzbraunes Ackerland ertrank im Wasser. Er begann zu rechnen, zu zeichnen, skizzierte Durchstiche durch U- und S-förmige Schlaufen. Es war für die damalige Zeit ein wahrhaft gigantisches Projekt.

Dessen Verwirklichung erlebte Tulla nicht mehr, aber 1818 wenigstens den Anfang nördlich von Karlsruhe mit 3000 Arbeitern. So konnte er auch nicht mehr lesen, was anno 1856 die Städte Neuenburg, Breisach und Burkheim, zusammen mit verschiedenen Dörfern, dem badischen Landtag schrieben: „Bei Neuenburg und ähnlich am ganzen oberen Rheintal war vor der Rektifikation der Rhein in zwei grosse Arme geteilt und von üppigen, überaus ertragreichen und sehr ausgedehnten Inseln getrennt, jetzt fliesst derselbe in einem regulären Flussbett, ausschliesslich durch die Gemarkung der Stadt und über die abgehobenen vormaligen Inseln dahin, während dagegen an ertragbarem Gelände sehr wenig gewonnen wurde; hat man nämlich auch allerdings die eine oder andere Fläche dem Wasser abgewonnen und trocken gelegt, so besteht dagegen der gewonnene Boden fast allerwärts am Oberrhein nur in öden Kies- und Sandbänken, steril und sogar kaum kulturfähig, weil durch die plötzliche Absperrung des Wassers die Verschlammung und Auftragung mit Erde (humus), die der Vegetation zugänglich wäre, gehindert und unmöglich gemacht wurde, während die schönsten, mit ausgedehnten Ablagerungen fruchtbaren Bodens bedeckten Inseln und Halbinseln, welche nicht nur mit Weiden und Erlen, sondern sogar mit Eichen und Ulmen reich bewachsen waren, zum Zweck der Korrektion dem Rhein geopfert worden sind.“

Offenbar ein zweischneidiges Schwert, die Rheinkorrektion von Tulla. Was sagt Mephistopheles, wie der alte Faust sein Werk des Deichbaus vollendet glaubt?

Die Elemente sind mit uns verschworen,

Und auf Vernichtung läuft’s hinaus.

Schon der Geschichtsschreiber von Breisach, Günther Haselier, wundert sich darüber, dass die über Jahrzehnte laufende Rheinkorrektur des Ingenieurs Tulla nie eine umfassende Darstellung gefunden hat. Auch die Angaben über Johann Gottfried Tulla in den Lexika sind meist dürftig. Seinen ersten Nachruf verfasste 1830 wiederum ein Ingenieur-Major namens Jakob Scheffel, und dieser war niemand anders als der Vater des oben zitierten Joseph Viktor von Scheffel. Faust und Tulla, Goethe und Scheffel – herauszufinden wäre noch, ob Goethe die Pläne des Johann Gottfried Tulla von 1825 gekannt hat – wahrhaftig, da liegt eine nicht gemachte Hausaufgabe für das ganze Dreiland vor.

71.    Ein Strassenname – weiter nichts?Nach Oben

Ganz in der Nähe des Allschwilerplatzes liegt in Basel, im sogenannten Hegenheimer Quartier, die Stöberstrasse. Und nun fragen Sie einmal einen Basler oder einen Elsässer, wer Herr (oder Frau?) Stöber war. Offenbar doch eine Person, die zu ihrer Zeit so wichtig war, wie es General Guisan, Karl Barth oder Karl Jaspers nach dem Zweiten Weltkrieg waren. Stöber, Stöber ... eigentlich keine Ahnung.

Da betreten wir den nicht ganz unproblematischen, gelegentlich von Steinen und Dornen besetzten Boden des deutschen Gedankens im Elsass des 19. Jahrhunderts. Das Elsass war bis zur Reunion mit Frankreich nach dem Dreissigjährigen Krieg weitgehend, aber nie vollständig deutschsprachig. Nach dem Wiener Kongress 1815 blieb es französisches Territorium, 1871 wurde es wieder deutsch, 1918 wieder französische, 1940-1945 sollte es wieder deutsch werden. Als Franzosen geborene Elsässer mussten in deutschen Uniformen Dienst tun, als Deutsche geborene Elsässer mussten die französische Uniform anziehen, Elsässer mussten auf Elsässer schiessen – ganze Biografien ganzer Familien sind dadurch gezeichnet. Die Gegenwart gibt Anlass zur Hoffnung, dass diese Akten geschlossen bleiben. Sprachliche Probleme und solche der Schulung bleiben freilich bestehen, Frankreich tut sich da schwerer als die Bundesrepublik Deutschland, die es einfacher hat. Und die Schweizer schauen zu; Basel nimmt den französisch-deutschen Dialog kaum wahr und selten ernst. Eigentlich schade.

Aber zurück zu Stöber, besser zu den Stöbers, denn es waren insgesamt drei: der Vater Daniel Ehrenfried Stöber (1779-1835), die Söhne Adolf (1810-1892) und August (1808-1884) Stöber. Strassburg war ihnen allen Heimatstadt. Aber das Oberelsass oder besser der Sundgau geriet bei Adolf und August Stöber ins Blickfeld, nachdem sie beide in Mülhausen Ämter und Würden gefunden hatten. August Stöber wurde Oberststadtbibliothekar in Mülhausen. Wieder muss man sich bei einem so prächtigen Amtstitel daran erinnern, dass Mülhausen, 1798 Frankreich auf durchaus demokratische Weise beigetreten, erst von 1871 bis 1918 wieder zu einem deutschen Reichsland unter direkter preussischer Verwaltung gehörte.

Wer sich mit den Stöbers beschäftigt, entdeckt bald, dass es sich da nicht um vergessenswerte Provinzdichter handelt, sondern um hochangesehene Literaten des klassischen historischen und philologischen 19. Jahrhunderts. Der Vater Stöber gab mit Hebel und Zschokke zusammen eine Zeitschrift heraus, die Söhne korrespondierten mit Jeremias Gotthelf, Wilhelm und Jakob Grimm; Gustav Schwab, der deutsche Sagendichter, richtete Briefe an Adolf Stöber. Die Basler Karl Rudolf Hagenbach, Wilhelm Vischer und Wilhelm Wackernagel, der grosse Philologe, zählten zum Korrespondenten- und Besucherkreis der Söhne Stöber. Wilhelm Wackernagel bemühte sich darum, August Stöber als Professor für die Basler Realschule zu gewinnen, Stöber aber blieb Mülhausen treu. Dafür erwogen die Briefpartner um 1843 als Fortsetzung der Elsässischen Neujahrsblätter die Herausgabe eines „Oberrheinischen Jahrbuches“, das gleichzeitig für Baden, die Schweiz und das Elsass bestimmt gewesen wäre. Stöber: „So hätte doch dieser Landtheil ein Vereinsorgan, in Ermangelung einer sonstigen literarischen Zeitschrift, welche nicht werwirklicht zu werden scheint.“ Eine Regio schon vor 150 Jahren.

Die Elsässischen Neujahrsblätter, um deren Bestand sich August Stöber Sorgen machte, standen auch Schweizer Schriftstellern offen. 1845 erschien „Christens Brautfahrt“, 1847 „Der Besuch auf dem Lande“, 1848 „Der Notar in der Falle“. Verfasser war Albert Bitzius aus Lützelflüh im Emmental, bekannt als Jeremias Gotthelf. Über das Elsass verbreitete sich der Ruhm Gotthelfs auch nach Deutschland, da Stöbers Stuttgarter Gönner Wolfgang Menzel, einer der bekanntesten Literaturkritiker seiner Zeit, diese Publikationen angeregt hatte. Am „Basel Schiesset“, also dem Schützenfest von 1844, nahm Gotthelf teil, fand aber die Zeit nicht mehr, nach Mülhausen zu reisen (er übernachtete an der Augustinergasse 21). Die persönliche Bekanntschaft zu Stöber kam erst 1847 zustande, sie blieb distanziert und kühl.

Die Revolution von 1848 in Frankreich, die bekanntlich bald in das Zweite Kaiserreich mündete, sah Stöber auf der Seite der französisch-republikanisch Gesinnten, das schuf politisch eine spürbare Distanz zu Gotthelf, der Revolutionen nichts abgewinnen konnte.

Eine entscheidende Wende im Leben August Stöbers brachte eine Tagung in Frankfurt am Main von 1846. Es war die sogenannte Germanistenversammlung, an der Jakob Grimm, das Haupt der deutschen Altertumsforschung, zum Generalpräsidenten der Versammlung gewählt wurde. Der Balladendichter Uhland stellte die Brüder Stöber Jakob Grimm vor. Am dritten Tag hörten sie den Vortrag von Wilhelm Grimm über das Deutsche Wörterbuch. Von nun an stellten sich die Stöbers auch in den Dienst der Brüder Grimm und lieferten Beiträge zum Deutschen Wörterbuch. Sie begannen, Volkslieder, Märchen, Sprüche und Sagen zu sammeln. Daraus entstanden ganze Publikationen, die „Alsabilder“ und die „Sagen des Elsasses“, erstmals 1852 in St. Gallen gedruckt.

Stöber hatte sich speziell mit Geiler von Kaysersberg befasst, einem Dichter des 16. Jahrhunderts. Den Brüdern Grimm konnte er eine ganze Reihe von Zitaten für das Wörterbuch liefern. Ernsthaft trug er sich mit dem Plan eines elsässischen Wörterbuches, das dem deutschen Dialekt hätte gelten sollen. Selber schrieb er in der Mundart; „D’Fürsteberger v’rgesse“ hiess sein Theaterstück von 1882, das im Mülhauser Dialekt verfasst worden war. Die Brüder Grimm waren voller Anerkennung, Jakob schrieb 1855: „Wie dankbar muss Ihnen Deutschland sein und bleiben, dass Sie eifrig darauf bedacht sind, material für unser alterthum, für geschichte, sitten und poesie auf einem ergibigen rechen boden zu retten.“

Das war Balsam für die Stöbers. Von heute aus gesehen ist es merkwürdig, dass die fruchtbarste historische und literarische Auseinandersetzung mit dem deutschsprachigen Elsass in die Zeit fiel, da das Elsass französisch war. Seit mehr als einem halben Jahrhundert ist es das wieder. Da und dort sind kleine Zeichen auszumachen, dass das im Ganzen rückläufige deutsche Sprachgut der Elsässer zu neuer Blüte erwachen könnte. Somit darf die Basler Stöberstrasse ihren alten Namen behalten.

72.    Die UnvergesseneNach Oben

Tonbandaufnahmen oder gar Videos von ihr besitzen wir nicht, aber ihr Portrait ist bekannt. Der Ruhm einer Schauspielerin, die von 1821 bis 1858 lebte, hat sonst lediglich Spuren in den geschriebenen Erinnerungen ihrer Zeitgenossen hinterlasse. Sie hat ihnen einen überwältigenden und unvergesslichen Eindruck gemacht. Gestorben ist sie im Alter von bloss 37 Jahren an der Tuberkulose in Cannes. Eine Zeitlang erinnerte auf der Pfaueninsel bei Potsdam ein Denkmal an sie; die Nationalsozialisten zerstörten es 1935, weil sie aus einer jüdischen Familie stammte.

Mit dem Künstlernamen hiess sie Elisa Rachel, geboren wurde sie als Rachel Felix im aargauischen Mumpf. Ihre Eltern waren arme Elsässer, eigentliche Bettler ist auch zu lesen. Die Familie zog offenbar im Dreiland am Oberrhein herum, vor allem im Elsass. Mit einer Schwester zusammen sang Elisa Rachel als Strassenmusikantin, begleitet von einer Harfe. In den dreissiger Jahren des 19. Jahrhunderts erregte die Stimme dieses Mädchens in Paris Aufsehen, sie wurde entdeckt und ans Konservatorium geschickt. 1838, also im Alter von 17 Jahren, gehörte sie bereits der Comédie Française an, später machten sich der preussische und der russische Hof eine Ehre daraus, sie spielen zu sehen. Denn unterdessen hatte sie sich von der Strassensängerin zur Schauspielerin der klassischen Dramen von Racine und Corneille entwickelt – ein weiter Weg vom armseligen Wirtshaus in Mumpf, in dem sie auf die Welt gekommen sein soll. 1855 trat sie auch in Amerika auf, nun bereits weltweit gefeiert und als die Grösste ihrer Zeit bewundert.

Ein acht Jahre jüngerer Mann, geboren in den Rheinlanden, sass unter ihrem Publikum 1850 in Berlin, später wieder in Paris und sogar in den USA. Er versäumte keine Möglichkeit, sie auf der Bühne zu erleben. Aber ihre unmittelbare Bekanntschaft wollte er nicht machen, er schrieb: „Wenn jemand mir angeboten hätte, mich bei der Rachel persönlich einzuführen, so würde nichts mich bewogen haben, die Einladung anzunehmen.“ Als eifriger Theatergänger verglich er sie auch mit den anderen berühmten Schauspielerinnen seiner Zeit, diese hätten sich abgemüht, die Rachel nachzumachen, etwa Sarah Bernhardt. Aber, so schreibt er, „es war der Unterschied zwischen dem wahren Genie, das unwiderstehlich überwältigt und vor dem wir uns unwillkürlich beugen, und dem grossen Talent, das wir bloss bewundern.“

Der Mann, der das später in seinen Lebenserinnerungen festhielt, war damals polizeilich gesucht, und als er in Berlin einen Theatersitz im Parterre einnahm, möglichst nah beim Ausgang, um der Polizei sofort entwischen zu können, hielt er sich in den Pausen stets einen Operngucker vor die Augen oder verbarg sein Gesicht hinter einem Taschentuch, als ob er an Zahnweh litte. Denn die preussische Polizei hätte ihn liebend gern geschnappt. Er galt als gefährlicher Revolutionär. Er war 1848, damals 19 Jahre alt, schon mit Marx zusammengetroffen, dessen Ausführungen er als gehaltvoll, logisch und klar empfand, von dem er aber auch sagte: „Aber niemals habe ich einen Menschen gesehen von so verletzender, unerträglicher Arroganz des Auftretens.“ Er kannte Wagner persönlich, der infolge seiner Beteiligung an den revolutionären Ereignissen von Dresden nach Zürich geflüchtet war. In London sass er wenig später mit dem italienischen Freiheitskämpfer Mazzini zusammen. Die preussische Polizei suchte ihn vor allem seiner revolutionären Aktivitäten in Bonn und Frankfurt wegen. Er galt als besonders gefährlich, weil ihm bei der Niederwerfung der badischen Revolution der Ausbruch aus dem von Preussen belagerten Rastatt durch die Kanalisation geglückt war, und weil der Verdacht bestand, dass er seinen nicht weniger revolutionär gesinnten akademischen Lehrer Gottfried Kinkel, der in Berlin/Spandau inhaftiert war, befreien könnte – was ihm tatsächlich gelang.

Aber noch ahnte niemand, dass dieser sprachbegabte, historisch und literarisch gebildete junge Mann, der sich mit freundlicher Geschmeidigkeit durch ganz Europa bewegte, bei Schönenbuch auch schwarz über die grüne Grenze in die Schweiz gelangte, erst am Anfang seiner Karriere stand. 1860 wurde er in den USA Gehilfe Abraham Lincolns, dann Gesandter in Spanien. Er stieg zum Generalmajor der amerikanischen Bundestruppen auf, kämpfte im Sezessionskrieg, wurde Senator von Missouri, sogar Innenminister unter Präsident Hayes von 1877 bis 1881. 1868 lud ihn der damals schon mächtigste Mann Europas, der preussische Ministerpräsident Bismarck, ein, und Bismarck gestand ihm lachend, dass die Befreiung Kinkel ihm sogar Spass gemacht habe, am liebsten würde er mit ihm nach Spandau fahren, um sich an Ort und Stelle alles erzählen zu lassen. Und dann schilderte Bismarck seinem Gast, den er zum ersten Mal sah, unverblümt die internationale Lage, ausgeschmückt mit deftigen Anekdoten, sagte den deutsch-französischen Krieg voraus, den Sturz Napoleons III. und die Einigung Deutschlands.

Das alles wissen wir aus erster Hand, weil Carl Schurz (1829-1906), der deutsche Revolutionär und spätere amerikanische Innenminister, auf deutsch geschriebene Lebenserinnerungen verfasst hat. Sie sind eine Quelle ersten Ranges für die Geschichte der deutschen und badischen Revolution von 1848 und des amerikanischen Sezessionskrieges. Man erlebt Politik aus erster Nähe, und gerade darum staunt man, dass der Schauspielerin Elisa Rachel aus der Feder von Carl Schurz eine so lange und enthusiastische Würdigung zuteil wird. In der Nummer 885 seiner Zeitschrift „Die Fackel“ von 1932 druckte Karl Kraus über acht Seiten den Text von Schurz wieder ab als „das sachlich und sprachlich edelste Beispiel deutscher Theaterkritik“. Und er fand sich, was bei Kraus selten der Fall war, auch bereit zu glauben, „dass nie ein grösseres Bühnenwunder als diese Frau die Menschheit verzückt hat“. In den Worten von Carl Schurz: „Man sah, man hörte und man war überwunden, unterjocht, zauberhaft, unwiderstehlich. Die Schauer des Entzückens, der Angst, des Mitgefühls, des Entsetzens, mit denen die Rachel ihre Zuschauer übergoss, entzogen sich aller Analyse. Die Kritik tastete in hilfloser Verlegenheit umher, wenn sie unternahm, die Leistungen der Rachel zu klassifizieren, oder sie mit irgendeinem herkömmlichen Massstabe zu messen. Die Rachel stand ganz allein in ihrer Eigentümlichkeit.“

Das Bettlermädchen aus Mumpf, die elsässische Strassensängerin und die Schauspielerin auf der Bühne der Welt braucht kein weiteres Denkmal. Wo ein Carl Schurz und ein Karl Kraus für Nachruhm sorgen, sind Erinnerungstafeln überflüssig. Kraus war traurig darüber, dass die Tonfilmtechnik um 1850 noch nicht existiert hatte. Und Schurz pflegte seinen Freunden immer wieder zu sagen: „Aber ihr hättet die Rachel sehen sollen!“

73.    Ein EisenbahnstandortNach Oben

Vom 27. Juli 1852 datiert der Vertrag zwischen dem Grossherzogtum Baden und dem Kanton Basel-Stadt über die Einführung der Badischen Staatsbahn auf Basler Gebiet. Und wenn die Basler Schwierigkeiten mit der sogenannten Zollfreistrasse von Weil nach Lörrach hatten oder haben, sollte man den Artikel 34 dieses Vertrages noch einmal lesen:

„Die grossherzogliche badische Regierung erhält das Recht, zur Verbindung der Stadt Lörrach und des Wiesenthals mit Weil, eine Strasse auf dem dazwischen liegenden schweizerischen Grund und Boden zu bauen.“

Es gibt Leute, die sagen: Wozu soll Geschichte gut sein? Wir leben jetzt und müssen mit den Problemen der Gegenwart fertig werden. – Ein Vertrag wie der soeben zitierte zeigt, dass die Lage von heute fast immer auch geschichtlich bedingt ist. Besonders die Anlage von Verkehrswegen wirkt über lange Zeit; bald 2000 Jahre alte Römerwege liegen häufig unter unseren prächtigen Asphaltstrassen.

Die vor gut 150 Jahren aufgekommenen Eisenbahnen machen noch immer Geschichte. Basel wurde dank ihnen zum Goldenen Tor der Schweiz. Golden wurde es genannt, weil man sich von der Eisenbahn Geschäfte in Hülle und Fülle versprach.

Die erste Eisenbahn auf Schweizer Boden war die (bescheidene) Verbindungsbahn von St. Louis nach Basel in das Gebiet beim St. Johannstor. Noch gab es keine Verbindung Basel-Olten durch den Hauenstein, wie ihn dann die Centralbahn baute; auch endete die Badische Staatsbahn noch nicht bei der heutigen Mustermesse. Es gab noch kein Warteck, an dem man auf die Ankunft der Reisenden wartete. Bis gar der Gotthardtunnel gebaut werden konnte, die Nord-Süd-Achse also von Basel bis Chiasso reichte, vergingen weitere Jahrzehnte.

Schaut man heute auf die Karte von Süddeutschland und der Schweiz, ist es auffallend, dass von München, Augsburg und Stuttgart keine ganz grossen Linien über St. Gallen und Zürich Richtung Gotthard führen. Die Topografie erklärt schon einiges, der Splügen läge näher als der Gotthard. Aber wieder liefert die Geschichte, das heisst liefern bald 150 Jahre zurückliegende Entscheidungen, die Gründe für die heutige Situation.

Es geht um Eisenbahngeschichte. Nachdem am 15. September 1830 die Strecke Manchester-Liverpool feierlich eröffnet worden war, begann in ganz Europa das Eisenbahnfieber. Friedrich List, den die Nationalökonomen als eine Art Gründervater verehren, hat es geschürt. Er wurde 1789 geboren, war ein Handwerkersohn aus dem schwäbischen Reutlingen, fand als junger Rechenrat in Württemberg früh Anerkennung, so dass er 1816, im Alter von 27 Jahre, schon Professor für Staatskunde an der Universität Tübingen wurde. Er lebte bis 1846. List war bei den Behörden unbeliebt, weil er unkonventionell dachte. Er wollte die Binnenzölle in Deutschland aufheben, freien Handel einführen, die Staatsverwaltung kontrollieren. Der König von Württemberg schikanierte ihn; 1825 wanderte er nach Amerika aus, kam 1833 nach Deutschland zurück. Er war wohl einer der ersten, der für ganz Deutschland ein Eisenbahnnetz entwarf. Dessen südliche Anschlüsse gingen von Augsburg nach Lindau und von Karlsruhe über Kehl nach Basel. List wollte nicht Theoretiker bleiben, er plante die Stiftung einer Aktiengesellschaft „zu dem Zwecke, die Herstellung der Mannheim-Baseler Eisenbahn zu negociieren“. In der Zweiten Kammer des Badischen Landtages wurde der Antrag vom Staatsrat Carl Friedrich Nebenius abgewiesen: „Die Anlegung einer Eisenbahn gehört nicht zu den dringenden Bedürfnissen in unserem Lande.“

Nun muss man sich, um den weiteren Gang der Dinge zu verstehen, über die Lage der drei süddeutschen Monarchien klar werden: im Westen das Grossherzogtum Baden, das wie in Winkeleisen vom Bodensee über das Basler Rheinknie bis nach Heidelberg reichte, dahinter das Königreich Württemberg und östlich davon das Königreich Bayern. Diese drei Monarchien standen seit Napoleon in einem Konkurrenzverhältnis. Als 1835 in Bayern die Strecke Nürnberg-Fürth eingeweiht werden konnte, brach Aufregung aus, die Ulmer fürchteten um ihre Bedeutung als Verkehrsknotenpunkt.

Erst recht musste gehandelt werden, als auf der anderen Seite der Grenze, nämlich in Frankreich, die Eisenbahn Strassburg-Basel Wirklichkeit wurde. Auf beiden Seiten des Rheins war eine Streckenführung ideal, denn das Gelände war eben. Auf keinen Fall aber wollte man die Initiative den Franzosen überlassen. 1838 wurde im Badischen Landtag das Eisenbahngesetz verkündet: Von Mannheim bis Basel sollte eine Eisenbahn, und zwar eine Staatsbahn, gebaut werden. Das führte zur merkwürdigen Situation, dass sich das bisher von Eisenbahnen verschonte Basel plötzlich als Teil im System ausländischer Bahnunternehmen begreifen musste. Eigene Eisenbahnpläne auf privatwirtschaftlicher Basis bekamen mächtigen Auftrieb.

Süddeutschland musste immer in zwei Hauptrichtungen denken und planen: auf einer West-Ost-Achse wie von Karlsruhe über Stuttgart nach München, und auf den Nord-Süd-Achsen Karlsruhe-Basel, Ulm-Friedrichshafen, Augsburg-Lindau. Das heisst, dass von Norden nach Süden ein politischer Wettkampf ausbrach. Da konnte sich Basel, Endstation der Chemins de fer d’Alsace-Lorraine und der Badischen Staatsbahn, von der Topografie bevorteilt fühlen. Beide Bahnen mussten hier ankommen. Alfred Escher aus Zürich wollte das nicht gefallen. Er versuchte durch direkte Interventionen in Karlsruhe die Badische Staatsbahn dazu zu bewegen, nicht in Basel, sondern in Lörrach zu enden. Dann würde er mit seiner eigenen Gesellschaft auf dem deutschen Rheinufer eine Bahn von Lörrach über Grenzach nach Waldshut bauen, um sie bis Zürich weiterzuführen. Wutgeheul in Basel war die Antwort.

Man darf sich fragen, weshalb Basel die beiden Endpunkte aus Frankreich und Baden nicht schon von Anfang an zusammenlegte. Die Antwort ist einfach: der Rhein trennte die beiden Linien. Die Antwort ist auch technisch bedingt: Die Badische Staatsbahn war nicht auf Normalspur, sondern von Anfang an auf einer breiteren Spur gebaut worden. Das hatte mit den verschiedenen englischen Lieferfirmen zu tun und schuf, als die Badische Staatsbahn doch noch auf Normalspur umgerüstet werden musste, erhebliche Probleme.

Erst viel später gelang in Basel der Zusammenschluss der drei Netze einesteils durch die Verbindungsbrücke oberhalb der Stadt und andernteils durch die Verlagerung des französischen Bahnhofs zum Centralbahnhof. Auf dem Basler Steinen- und Spalenring dampften ursprünglich französische Lokomotiven. Und der wichtigste Terminal der zukünftigen NEAT (Neue Alpen Transversale) wird voraussichtlich wieder in Basel liegen. Aus geschichtlichen Gründen.

74.    Wer das Gas nach Basel brachteNach Oben

Es sind immer Leute, die Geschichte machen, und manchmal sind es ganze Familien. Regio-Geschichten entstehen besonders gern dann, wenn wir die Wanderungen von Familien und einzelnen Personen durch das heutige Gebiet des Dreilandes am Oberrhein verfolgen und sehen, wie sie von da nach dort in immer wieder anderen Funktionen auftauchten.

So etwa die Dollfus. Sind das nicht Mülhauser? Gewiss. Aber ursprünglich waren es, soweit sich das zurückverfolgen lässt, Süddeutsche. 1534 ist ein Gaspard Dollfus in einem Verzeichnis als Bürger von Rheinfelden erwähnt. 1515 wurde ihm ein Sohn geschenkt, der den Namen Hans bekam und später eine gebürtige Rheinfelderin heiratete.1540 kam deren Sohn, wiederum ein Hans, auf die Welt. Die Dollfus waren unterdessen reformierten Glaubens geworden, aber Rheinfelden war eine streng habsburgische Stadt, den Einflüssen der Gegenreformation besonders ausgesetzt. So verliess Hans Dollfus unter Verzicht auf sein Bürgerrecht die Stadt, zog zuerst nach Neuenburg am Rhein und schlug 1553 seinen Wohnsitz in Mülhausen auf, wo er in zweiter Ehe eine Mülhauserin namens Elisabeth Fimmel heiratete. Sein Sohn Hans, der wieder eine Mülhauserin heiratete, wurde 1586 Mitglied des Rates, er gilt als Stammvater der Mülhauser Familie Dollfus.

Im 18. Jahrhundert sehen wir seinen Nachkommen Jean-Georges Dollfus als Inhaber eines Färbereibetriebes, aber er starb bei Ausbruch der Revolution ganz unvermutet. Sein ältester Sohn Jean-Gaspard musste die Firma in jugendlichem Alter übernehmen, hatte aber kein Glück in geschäftlichen Dingen. 1812 bekam er einen Sohn, wiederum mit dem Namen Gaspard, 1825  aber verlor er seine Firma und sein ganzes Vermögen. Der junge Gaspard musste seine Ausbildung aus Geldnot abbrechen. Seine Schwester Climène war mit Jakob Kern in Aarau verheiratet, der eine Reisszeugfabrik gegründet hatte, dort konnte Gaspard eine Lehrstelle antreten. 1835 kehrte er nach Mülhausen zurück und wurde Mitarbeiter in der Maschinenfabrik André Koechlin & Cie. Er machte Karriere, sein ungewöhnliches mechanisches Verständnis fand Anerkennung. In Ettlingen bei Karlsruhe richtete er eine Baumwollspinnerei ein, nachher folgte in Augsburg die Errichtung einer mechanischen Spinnerei und Weberei, die als letzten Schrei auch eine Gasbeleuchtung bekommen sollte.

In Augsburg lernte Dollfus Adèle de Bret kennen, die Tochter eines Redaktors aus einer alten hugenottischen Familie, mit der er sich 1841 verheiratete. Unternehmerisch tat er sich mit Ludwig Sander zusammen, gemeinsam gründeten sie die Maschinenfabrik Augsburg-Nürnberg, noch heute als MAN bekannt. Dollfus war alles andere als ein einfacher Charakter, er besass ein fast depressives Temperament. 1844 zerstritt er sich mit seinem Partner und musste ein neues, diesmal eigenes Betätigungsfeld suchen. Er fand es in der damals modernsten Energieversorgung, dem Gas.

Das erste Projekt war eine Gasbeleuchtung für München. Es wurde abgelehnt. Dann kam Stuttgart an die Reihe, dort hatte Gaspard Dollfus mehr Glück, 1845 konnte seine Gasfabrik ihren Betrieb eröffnen. Sogleich verlegte er auch seinen Wohnsitz nach Stuttgart. Dann kam, nach einigen Schwierigkeiten, der Bau der Gasfabrik in Nürnberg und anschliessend in Wiesbaden dazu. Er war zum Gasfachmann geworden.

1848 erschien in der Allgemeinen Augsburger Zeitung ein Inserat, laut dem die Stadt Aarau einen Wettbewerb für eine neue Brücke ausgeschrieben hatte, und zwar eine Hängebrücke. Dollfus war fasziniert von der Idee, arbeitete sich rastlos in die Materie ein und erhielt den Auftrag. Sogleich zog er von Stuttgart nach Küttigen am Fuss der Staffelegg. Am 29. Dezember 1850 konnte die Brücke für den Verkehr freigegeben werden, Dollfus erhielt als Anerkennung einen silbernen Pokal. Aber schon war er wieder unterwegs, diesmal Richtung Basel, wo er sein Domizil im hinteren Rosshof einrichtete.

In Basel war man seit 1839 unzufrieden mit der mangelhaften Ölbeleuchtung der Strassen. 1850 taten sich die Bankhäuser Ehinger und La Roche mit weiteren Personen und Dollfus zusammen, um der städtischen Beleuchtungskommission ein Projekt zur Einführung der Gasbeleuchtung zu unterbreiten. 1852 kam es zum Vertrag. Die Stadtgemeinde, die es damals noch gab, musste Fr. 330'000.— zur Verfügung stellen, als Bauplatz wählte man die ehemalige Richtstätte vor dem Steinentor. Die Gasproduktion hatte erhebliche Immissionen zur Folge, eine Zeitlang erwog Dollfus die Produktion von Holzgas, das für die damals blühende und auf Abgase empfindlichen Seidenbandindustrie weniger nachteilige Folgen gehabt hätte. Dann aber entschied er sich aus technischen Gründen für Steinkohlengas. Als die Klagen über Geruchsbelästigungen nicht aufhörten, wurde die Gasfabrik 1860 vor das St. Johanns Tor in die Nähe der elsässischen Grenze verlegt.

Die Basler Gaslampen brannten erstmals am 15. Dezember 1852. 14 Laternenmänner waren bei Einbruch der Dämmerung unterwegs und entzündeten die Lampen mit einem an langen Stangen angebrachten Öllicht. Den Bau der neuen Gasanstalt übertrug Gaspard Dollfus einem entfernten Verwandten aus der Familie Le Bret namens Heinrich Gruner. Das Unternehmen gedieh auch finanziell, nur hatte Dollfus übersehen, dass sich die Behörden ein Einsichtsrecht in die Bücher vorbehalten hatten und er eigentlich nur Pächter war. Schon 1864 liess der Stadtrat einen Vorschlag für die Übernahme der Gasanstalt in Eigenverwaltung ausarbeiten. Dollfus wehrte sich mit Händen und Füssen, freilich umsonst. Am 1. Februar 1868 ging die Gasfabrik an die Stadt über, diesmal von einem staatlichen Direktor geleitet.

Auch wenn Dollfus ein eher introvertierter Mensch war – oder vielleicht gerade darum –, blieb er bei seiner fast rabiaten Erfinderlust. Das nächste Werk von nationaler Bedeutung war die Sitternbrücke bei St. Gallen, auf der die Nordostbahn verkehren sollte. Mit einer Länge von 163 Metern und einer Höhe von 60 Metern über dem Wasserspiegel war sie eine technisch schwierige Konstruktion. Dollfus entschied sich für eine Gitterbrücke, also einem aus Stäben zusammengesetzten Tragkörper. Am Abend vor der Einweihung fuhr er allein mit einem Lokomotivführer über die Brücke, hätte sie nicht gehalten, wäre er das erste Opfer gewesen.

Noch spannender wurde die unermüdliche Erfindertätigkeit von Gaspard Dollfus als Inhaber einer chemischen Fabrik. Nach 1856 waren ja die Teerfarben aufgekommen, die man aus Rückständen der Gasgewinnung entwickelte. 1860 begann er mit dem Bau seiner Fabrik. Dollfus erlebte die Genugtuung, dass ihm und seinem Schwiegersohn Lepetit an der Pariser Weltausstellung von 1867 eine Anerkennung für das neue Jodgrün zuteil wurde. Nach dem plötzlichen Tod seiner Gattin und der Übergabe der Gasfabrik an den Staat verlor Dollfus seinen industriellen Ehrgeiz. Er heiratete aber noch ein zweites Mal, zog sich dann 1871 auf ein Gut im Welschland zurück. Seine chemische Firma verkaufte er schliesslich an Louis Durand und Edouard Huguenin; in unserem Jahrhundert kam sie an die Firma Sandoz, die in der Novartis aufging.

Von Mülhausen quer durch Süddeutschland in die Schweiz und über Basel schliesslich ins Welschland – es ist eine geradezu beispielhafte Reise eines oberrheinischen Erdinders. Die Basler verdanken ihm die zu ihrer Zeit supermoderne Gasversorgung und eine Farbstoff-Fabrik.

75.    Hans im SchnokelochNach Oben

Und jetzt versuchen Sie einmal, folgenden Text zu lesen:

Le Schang du dru d'kusäng a du se gill weh,

E se gill a, il wudra ba,

E se gil wudra, il lawwra ba,

Le Schang du dru d'kusäng a du se gill weh.

Was soll das heissen, und was für eine Sprache ist das? Also transkribieren wir sie zuerst einmal auf französisch:

Le Jean du trou d’cousins a tout ce qu’il veut,

Et ce qu’il a, il voudra pas.

Et ce qu’il voudra, il n’aura pas,

Le Jean du trou d’cousins à tout ce qu’il veut.

Es ist das Lied vom Hans im Schnakenloch (cousins = Schnaken), gewissermassen die elsässische Nationalhymne, die man im Dialekt auch auf markgräflicher und baslerischer Seite singen kann:

Der Hans im Schnooggeloch hett alles, was er will,

und was er will, das hett er nit,

und was er hett, das will er nit,

Der Hans im Schnooggeloch hett alles, was er will.

Woher stammt denn die französische Fassung? Ein weiter nicht bekannter Leser A.Z. schrieb dem Strassburger Karl Bernhard im letzten Jahrhundert – Bernhard gab von 1860 bis 1862 eine Zeitschrift mit dem Titel „Der Hans im Schnokeloch“ heraus – einen Leserbrief, in dem er schilderte, wie 1681, als Louis XIV. in Strassburg einzog, die Buben den neuen Herren zeigen wollten, dass sie schon französisch konnten. Sein Urgrossvater sei im Bubenzüglein selber mitgelaufen und hätte seinem Grossvater diese Version vom Hans im Schnokeloch berichtet, und dieser berichtete sie dann weiter an seinen Enkel.

Falls die Geschichte wahr und nicht einfach eine launige Erfindung des unbekannten A.Z. ist, geht der „Hans im Schnokeloch“ also bis ins 17. Jahrhundert zurück. Dann dürfte sie vermutlich noch einiges älter sein, weil Volkslieder dieser Art schon im 15. und 16. Jahrhundert verbreitet waren.

Ein simples Volkslied – und plötzlich steckt man mitten in einer literarischen Debatte. Dass Goethe schon unter den Rheinschnaken litt, die seine Ausflüge mit gebratenen Rheinfischen störten, wurde gesagt. 1842 gab der in meinen Texten auch schon erwähnte August Stöber bei Schuler in Strassburg ein „Elsässisches Sagenbuch“ heraus, in dem „Der Hans im Schnokeloch“ gedruckt zum ersten Mal auftritt. Verfasst haben soll es der Bruder des Herausgebers, Adolf Stöber, aber vermutlich war er weniger der Dichter als eben ein literarischer Schmetterlingssammler, wie es zu seiner Zeit die Brüder Grimm waren, mit denen die Stöber-Brüder Kontakt hatten. Die Brüder Grimm wurden nicht müde, die beiden Stöber zu ermuntern, nach alten Liedern zu suchen und diese aufzuschreiben. Adolf Stöber konnte freilich der Versuchung, die gängige Volksweise durch angehängte eigene Verse zu erweitern, nicht widerstehen, und so findet sich auch eine Strophe über die Auswanderung des unzufriedenen Hans nach Amerika. Die aber stammt sicher nicht aus dem 17., sondern deutlich erkennbar aus dem 19. Jahrhundert:

Jez bli’t em noch sind Güet. Was macht er? Schla uff Schla

Verkäuft er alles, Matt unn Feld,

Unn macht sin ganzi Hab ze Geld,

Unn setzt sich uff e Schiff for nooch Amerika.

Man darf sich fragen, welche Realität hinter der Figur des Hans im Schnokeloch steht, das heisst ob er wirklich gelebt hat. Ein Text von Eduard Mars aus dem Jahr 1859 gibt Auskunft – oder sagen wir besser: eine Auskunft, weil vielleicht noch ganz andere Hintergründe mitspielen, falls es sich nämlich doch um ein altes Volkslied handelt. Mars schreibt von einem Wirt mit dem Vornamen Hans, der in Strassburg ein Lokal mit dem Namen Schnokeloch“ führte und vermutlich um 1819 auf dem Friedhof St. Gallen in Strassburg begraben wurde. In diesem Gasthaus verkehrte ein Stammgast, der Daniel Grimmeisen hiess, und der soll seine gelegentlichen Reklamationen, Küche und Service betreffend, in gereimter Form gesungen haben. In guter Laune stimmte er auch das gereimte Lob des Wirtes an. Diese Lieder, also eigentliche Gelegenheitsgedichte, wurden nach Meinung von Marie-Joseph Bopp, der sich nach dem Zweiten Weltkrieg um die Geschichte von „Hans im Schnokeloch“ bemühte, nie gedruckt, aber sollen im betreffenden Lokal handschriftlich gesammelt und in ein Buch eingetragen worden sein.

Für Karl Bernhard, dessen Zeitschrift ja den gleichen Titel wie das Volkslied trug, war es fast so etwas wie ein Auftrag, in jeder Nummer neu gedichtete Verse über den „Hans im Schnokeloch“ zu publizieren. Da erfand er weitere Themen, es war die Sprache von der Redefreiheit des Hans im Schnokeloch, von der Renovation seines Lokales, von seinen geschäftlichen Problemen, von einem Brandunglück, vom Wunsch, eine brave Frau zu bekommen, und schliesslich tauchte sogar die Partnerin des Hans auf, natürlich eine Grete. Im Lied selber finden sich am Schluss Hans und Grete zu einem Paar, das offenbar auch Nachwuchs bekommen hat, denn die entsprechende Strophe (veröffentlicht von Karl Bernhard) lautet so:

Der Hans im Schnokeloch sitzt d’heim un spielt eins uff.

Er spielt doch nur e-n-alti Lir.

S’Fleisch isch nitt wolfel, s’Brot isch dihr,

Der Hans im Schnokeloch wurd Babba druff und druff.

Strassburg liegt schon etwas ausserhalb des Gebietes, das wir als die oberrheinische Regio betrachten. Aber es stösst unmittelbar an sie an. Ein Schnakenloch war auch der ganze Oberrhein mit seinen stillgelegten Wassern. Die Thematik des „Hans im Schnokeloch“ mit Haus und Küche, Frau und vor allem der eigenen Unzufriedenheit an einem für die meisten Europäer geradezu paradiesisch fruchtbaren Ort ist noch immer ein Thema für eine grenzüberschreitende Region, der es in allen drei Teilen ökonomisch gut geht.

Somit darf der „Hans im Schnokeloch“ – hoffentlich – auch fürderhin an Basler Kinderbetten gesungen werden. Die Kraft des Volksliedes hat gar verschiedene Zeiten unbeschädigt überstanden, aber ohne die Mitarbeit literarisch interessierter Leute aus dem letzten Jahrhundert hätten sich seine Spuren wohl verwischt. Dem verstorbenen Basler Fritz K. Mathys gebührt der Dank, dass er in einer seiner vielen Schubladen die kleine Dokumentation über den „Hans im Schnokeloch“ aufbewahrt und mitgeteilt hat.

76.    Holz und HeidelbeerenNach Oben

Wer hat das geschrieben: „Das Tal und seine Häuser sind noch ganz unverändert, wie in den Tagen meiner Kindheit, ich kenne jeden Weg, jeden Felsblock, jeden Strudel im Bächlein; es sind die gleichen Blumen auf den Wiesen, und auch die Wolken kenne ich alle; wie damals, so sind sie noch, so türmen sie sich über den Bergen, vor 40 Jahren habe ich sie genau so gesehen und teilweise gezeichnet, da ist nichts alt geworden. (...) Es sind auch merkwürdig schöne öde Einsamkeiten an die hiesigen Berghalden. So war es gestern, als ich mit meiner Schwester einen Weg ging, den wir oft gegangen als Kinder, um Holz und Heidelbeeren zu suchen. Man sieht keine Häuser mehr, nur Viehweiden, rieselnde Quellen und ringsum dunkle Tannenwälder, aus denen der melancholische Gesang einer Baumlerche ertönt. Der Himmel war mit schweren jagenden Wolken behangen, durch die die Sonne von Zeit zu Zeit wandernde Lichter über die Berghalden hinziehen liess.“

Offenbar Worte eines Malers, da er vom Abzeichnen spricht. Geschrieben hat er das im Alter von 59 Jahren. Aber welche Landschaft wird da beschrieben? Berghänge, Tannenwälder, Bäche und Felsblöcke, Blumen auf den Wiesen, der Himmel voll Wolken? Er fährt fort: „Ich liebe Bernau vor anderen Schwarzwaldtälern, weil es nicht eingeschlossen ist, sondern man einen grossen Himmelsraum überblickt.“ Es schreibt Hans Thoma, geboren am 2. Oktober 1839 im Schwarzwaldort Bernau, gestorben ist er 1924 in Karlsruhe. Sein Name klingt noch in unseren Ohren, auch wenn seine Bilder in der Erinnerung etwas verblasst sind. Böcklin war zwölf Jahre älter als er, Anselm Feuerbach zehn Jahre, Albert Anker acht Jahre – in dieses künstlerische Umfeld gehört er, in die historisierende, zugleich realistische und ideal Landschaftsmalerei. Sie war einmal das Entzücken unserer Gross- und Urgrosseltern, und die noch etwas unbeholfene Reproduktionstechnik des späten 19. und des frühen 20. Jahrhunderts, hat sich, vor allem in Deutschland, wie wild auf Thomas Bilder geworfen. Sie standen für innig, redlich, heimatverbunden, liebevoll und wahr, sie wirkten – so deutsch. (Wie Albert Anker eben schweizerisch wirkte.) Thoma wurde zum Inbegriff eines durch und durch deutschen Malers, eines unverdorbenen Bauernsohnes aus dem Schwarzwald.

Das denkt man heute noch. Nur, wie kam er eigentlich zur Malerei? Da wird die Geschichte schon etwas weniger deutsch. Denn ein Schlüssel für Thomas Malkunst liegt in Basel. In Thomas eigenen Worten: „Basel war die erste Stadt, war das Tor, durch welches ich aus der Bernauer Einsamkeit in die Welt eintreten musste. Um es nüchtern zu sagen: ich wurde nach Basel getan, um ein Handwerk zu lernen.“ Er war 14 Jahre alt, als er in Basel eine Lithografenlehre antrat und sich tagelang über das Pult beugen musste. Aber das Heimweh nach dem Schwarzwald liess ihn nicht los, es zog in nach Bernau zurück. Ein Jahr später lockte wieder Basel, diesmal begann er die Lehre bei einem Anstreicher und Dekorationsmaler. Seinem Meister gestand er sein geheimes Berufsziel, zu dem ihn die Bildersammlung im neu errichteten Museum an der Augustinergasse beflügelt hatte: er wollte Maler werden. Der Meister lachte ihn aus: „Da kannst du lange warten.“ Über Bernau kam er zu Wilhelm Schirmer an die Karlsruher Kunstschule. Aber Schirmer starb kurz danach. „Da regte sich in mir unbewusst das Alemannentum, und ich zog nach Basel hin.“ Er wollte Zeichenlehrer werden, aber die Basler Behörden, auf ihre Reglemente eingeschworen, anerkannten ihn nicht – zum Glück, wie es der 85jährige später anlässlich seiner grossen Werkschau in Basel feststellte.

1866 finden wir Thoma in Düsseldorf. Seinen eigentlichen Stil, der ihn später so berühmt machten sollte, hatte er noch nicht gefunden. Eine Reise nach Paris öffnete ihm die Augen. Dort fand er den Weg zu Gustave Courbet, den er in seinem Atelier besuchen ging. „Die Eindrücke, die ich dort hatte, haben mich mächtig berührt, es war für mich eine Erweiterung des Lebenselements.“

Das Bernauer Schwarzwaldkind, dessen Lebensweg immer wieder über Basel führte, fand erst zu sich selber in Paris, nachdem er die tief im dem französischen Jura verbundenen Bilder Courbets gesehen hatte. Courbet war 20 Jahre älter als Thoma. Seine Malerei war tonig dunkel, sozusagen durchdrungen vom jurassischen Kalkstein und dem Schatten in den Tälern des Doubs – jetzt wusste Thoma, wie er malen würde. Er zog 1879 nach München, trat mit dem Kreis um Wilhelm Leibl und Arnold Böcklin in freundschaftliche Berührung. Es entstanden die grossen Schwarzwald- und Taunuslandschaften, er wurde berühmt und übersiedelte nach Frankfurt. Wie Böcklin wollte er mythische Gestalten, Heldenfiguren, musizierende Engel und tanzende Faune in seinen Bildern unterbringen, die ganzen Requisiten einer allegorischen Malerei – da wird die künstlerische Distanz zu Böcklin doch deutlich sichtbar. Aber die grossen Landschaften, „Das Albtal im Schwarzwald“ und „Der Rhein bei Säckingen“, haben bis heute ihren Rang behalten.

1924 fand in Basel eine grosse Ausstellung für den jetzt weit herum berühmten Hans Thoma statt. Es war eine Rückschau auf sein Gesamtwerk, das schon 1909 mehr als 900 Nummern umfasst hatte. Thoma liess sich gerührt und gern feiern. Basel war für ihn so etwas wie das heimliche Zentrum seines Lebens. Er schrieb die für diese Stadt fast rührend liebenswürdigen Zeilen: „Der Zauber, der mich an die Stadt Basel bannte, erhöhte und verklärte sich, Basel gehörte mit zu den Hauptstädten, in denen echt alemannisch gesprochen wird, ganz so, wie im oberen Schwarzwald, also auch in Bernau. So ist es kein Wunder, dass ich mit Basel wie durch ein magisches Band verbunden war und heute noch bin.“

Rudolf Riggenbach, vor Jahrzehnten bekannt als Dingeding, war es, der dieses schriftliche Zeugnis in der ehemaligen National-Zeitung vom 1. Oktober 1939, also zum 100 Geburtstag von Hans Thoma, wieder aufschrieb, und Fritz K. Mathys verdanke ich es, dass er diesen Aufsatz aus der Tiefe seines Archives ans Tageslicht befördert hat. Kindlers Lexikon der Malerei von 1976 sagt über Thoma: „Die Innigkeit, Schlichtheit und Poesie seiner Werke verliehen Hans Thoma in Deutschland eine so hohe Wertschätzung und Volkstümlichkeit, wie sie kaum ein Künstler seiner Generation erfahren hat. Der Name Hans Thoma wurde um die Jahrhundertwende nahezu als Inbegriff deutscher Art und Kunst angesehen.“ Schwarzwälder ja, Basler ja, unter jurassischem Einfluss stehend ja, Alemanne ja – ist er somit nicht vor allem der Inbegriff eines vollwertigen Bürgers des Oberrheins, dessen Weg zu sich selber über Basel und Paris führt, und der erst in der Fremde das Bild seiner Herkunft findet? Mit dem unverkennbaren Duft nach Holz und Heidelbeeren.

77.    StädtegründerNach Oben

Der Offizier Munacius Plancus gründete nach Caesars Tod, vermutlich im Jahr 44 vor Christus, als römischer Statthalter in Gallien die Stadt Augst im Raurikerland. Mehr als 1000 Jahre später gründeten die Herzoge von Zähringen Freiburg im Breisgau. Karlsruhe war eine Gründung der Markgrafen von Baden, die eine Vorliebe für den Vornamen Karl hatten. Das Kleinbasel mit seinen drei Parallelstrassen zum Rhein und den regelmässigen Querstrassen ist so etwas wie ein Manhatten des 13. Jahrhunderts. Wir sind in einem Land der Städtegründer.

Fährt man von Basel und Mülhausen in Richtung zur burgundischen Pforte und zweigt bei Dole nach links in die Forêt de Chaux ab, kommt man durch einen noch heute eindrücklichen Wald nach Arc-et-Senans in eine – nun was? Eine Stadt ist es nicht, auch kein Dorf, ein solches liegt eher daneben, und von der durch den französischen König geplanten Anlage ist nur ein Halbkreis des inneren Kernstücks gebaut worden und erhalten geblieben. Als was darf man es bezeichnen? Es ist eine Industriestadt des 18. Jahrhunderts, eine durch und durch systematisch geplante Salzsaline, entworfen von einem Stararchitekten der Zeit, Claude-Nicolas Ledoux (1736-1806). Im Zentrum steht auf antiken, aber mit Kuben durchsetzten Säulen das Haus des Direktors, links und rechts schliessen Lagergebäude an, im Halbkreis darum sind Dienstgebäude für Ställe, Speditions- und Verpackungszwecke, für die Angestellten und die Steuerbeamten angeordnet. Eine Neugründung im Wald, dessen Holz als Energie für die Verdampfung der Salzsole und die Auskristallisierung des Salzes notwendig war. Die weitere Stadt, das wissen wir von den erhalten gebliebenen Plänen, hätte sich in einem zweiten Umkreis mit Wohn- und Kulturhäusern sowie einer Kirche um dieses Herzstück herum anschliessen sollen.

So etwas wie ein Dirigentenwechsel macht diese Anlage noch heute aufregend: Nicht mehr der König, der Fürst oder sein Beauftragter residiert im Zentrum einer Siedlung, sondern der Direktor, der für das Schicksal einer Unternehmung verantwortliche Mann. Die industrielle Anlage ist um ihn herum gruppiert, weiter aussen hätte sich, um es jetzt modern zu sagen, die übrige Arbeitnehmerschaft niederlassen sollen, mit den für sie notwendigen sozialen Institutionen. Nicht eine bestehende Stadt – nehmen wir als Beispiel Mülhausen – wurde zunehmend industrialisiert, sondern eine Industrie wollte sich weniger auf der grünen Wiese als mitten im Wald eine Stadt erschaffen.

Bleiben wir beim früher eidgenössischen, jetzt in die Französische Republik aufgenommenen Mülhausen. Schon in der napoleonischen Zeit, dann in der nachrevolutionären Monarchie erlebte es industriell einen mächtigen Aufschwung, wurde mit Spinnereien, Webereien, Baumwolldruckfabriken, mechanischen Werkstätten, Chemie und Eisenbahnen zum kontinentaleuropäischen Manchester. 1826 wurde die Société Industrielle de Mulhouse gegründet, noch heute die aktivste Unternehmervereinigung im oberen Elsass.

Jean Zuber der Sohn legte ihr Ende September 1851 eine Untersuchung über die Arbeiterwohnungen vor, inspiriert vom Buch des Engländers Henri Roberts „The dwelling of the labouring classes“, zusammen mit einem in England durch den Prinzgemahl Albert realisierten Arbeiterwohnhaus in Form eines Plans. Die Société Industrielle warf sich sogleich auf das Thema, setzte eine Kommission ein, für die Jean Dollfus vier Modellhäuser bauen liess. Sie sollten auch bewohnt werden, um praktische Erfahrungen zu sammeln; die Bewohner wurden ausführlich befragt. Ein grundsätzliches Problem stellte sich: Sollten die Häuser nur vermietet oder auch verkauft werden, beide Male im Hinblick auf die Arbeiterschaft zu möglichst niedrigen Ansätzen? Man entschied sich für die zweite Lösung und übertrug das ganze Geschäft einer Aktiengesellschaft.

Die Cité ouvrière in Mülhausen begann 1853 und baute weiter bis gegen die Jahrhundertwende. Arbeiter wurden zu Hausbesitzern, sie konnten ihr eigenes, nach unsern Vorstellungen extrem bescheidenes Haus auch ratenweise abzahlen. Bis 1897 waren nicht weniger als 1243 Häuser gebaut und grösstenteils verkauft.

In der nächsten Generation und bis ins erste Viertel des 20. Jahrhunderts fand – der Ausdruck ist erlaubt – so etwas wie eine Explosion des Siedlungsgedankens statt. Explosion insofern, als die Konzepte sich unter dem Einfluss der englischen Gartenstädte erweiterten und modifizierten, als sich neue Trägerschaften wie die Genossenschaften herausbildeten und als die Idee von Neusiedlungen mit einheitlicher Architektur die nationalen Grenzen übersprang.

Im Ersten Weltkrieg hatte der Verband Schweizerischer Konsumvereine VSK Rückstellungen bilden können, die, wenn sie nicht für soziale Zwecke ausgegeben würden, steuerpflichtig geworden wären. Das gab 1919 den Anstoss zur Siedlung „Freidorf“ im schweizerischen Muttenz, geprägt vom Architekten Hannes Meyer, der später Bauhaus-Dozent in Dessau und Architekturprofessor im sowjetischen Moskau wurde. Ebenfalls 1919 begann Hans Bernoulli in Basel die Wohnsiedlung „Im Langen Loh“, es schlossen sich „Hirzbrunnen“ (1924) und „Im Vogelsang“ (1925) an, die letztere berühmt durch ihre fast klösterliche Abgeschlossenheit hinter Backsteinmauern. Während im Elsass schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts dank der Kaliindustrie ganze Dörfern oder Dorferweiterungen mit Direktions-, Ingenieur- und Arbeiterhäusern gebaut wurden, entstand auf der Leopoldshöhe im deutschen Weil am Rhein eine ursprünglich für die Eisenbahner bestimmte Gartenstadt der Deutschen Reichsbahn; Planer und Architekt war der Karlsruher Adolf Lorenz. Wieder war die englische Gartenstadtbewegung Vorbild, der erste Bauabschnitt wurde 1915 an die Hand genommen.

Die Fortsetzung erweiterte das internationale Spektrum noch einmal. 1931 plante der tschechische Schuhfabrikant Thomas Bata im aargauischen Möhlin eine Bata-Kolonie mit Fabrik und Wohnsiedlung aus einem Guss. Er selber stürzte 1932 auf einem Privatflug in die Schweiz ab, aber seine Pläne wurden ausgeführt. Batas Credo: „Jeder Mensch, sofern er nicht in der Grossstadt wohnt, sollte für sich selbst ein Haus haben, das ihm ein gesundes Wohnen ermöglichst.“

Diese neuen Siedlungen aus den letzten 150 Jahren haben die Grösse mittelalterlicher Städte. Der Oberrhein auf allen drei Seiten erwies sich als ein besonders glückliches Experimentierfeld, und aus den Experimenten wurden städtebauliche Realitäten. Als das alte Hüningen unter Louis XIV der Festungsstadt Hüningen weichen musste, wurden die Einwohner in das Neudorf, das Village neuf, umgesiedelt; als die Basler Chemie in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts ihre Produktionsstätten oberhalb von Basel im unteren Fricktal ausbaute, entstanden Siedlungen wie R 100 bei Rheinfelden (Geigy) und Liebrüti (Roche).

Ganz einfach: Diese Ecke Europas gehörte schon immer den Städtegründern.

78.    Man kann alles, wenn man willNach Oben

Als der Basler Centralbahnplatz am Anfang des 21. Jahrhunderts einen neuen Trambahnhof mit ganz anderer Verkehrsführung bekam, der Platz also nach dem sogenannten Masterplan-SBB wieder mehr den Fussgängern gehören sollte, war kurz davon die Rede, dass das Strassburger Denkmal auf ihm einen neuen Standort finden könnte, statt weiterhin am Strassenrand allein in einem Parkfragment zu stehen. Das Strassburger Denkmal: eine Frauen und Kinder schützende Figur aus Marmor, am Sockel mit zwei Bronzetafeln zusätzlich geschmückt – hat das nicht etwas mit dem deutsch-französischen Krieg von 1870 zu tun? Die Reliefs zeigen die Fahrt der Zürcher nach Strassburg im Weidling mit dem warm gehaltenen Hirsebrei und – auf der anderen Seite – ein paar Herren in der Kleidung des 19. Jahrhunderts in Begleitung von Militärpersonen. Der Künstler, der das Denkmal gestaltete, hiess Frédéric Auguste Bartholdi und ist derselbe, der die Freiheitsstatue vor New York schuf. So ungefähr lauten die Erinnerungen.

1991 waren es 100 Jahre her, dass Baron Gruyer aus Montpellier, ein gebürtiger Strassburger, dem schweizerischen Gesandten in Paris zu Handen des Bundesrates seine Absicht bekundete, der Schweiz den Dank für die im September 1870 den Strassburgern gewährte Hilfe durch die Errichtung eines Denkmals auszudrücken. Es sollte in Bern, Zürich oder Basel aufgestellt werden. Der Bundesrat wollte noch weitere Details wissen und beschloss dann am 8. Juni 1891, das Anerbieten anzunehmen, unter der Bedingung freilich, dass er nicht das für ein Denkmal notwendige Geld, sondern eben das Denkmal selber erhalte. Offenbar scheute er eine politisch befrachtete Kunstdiskussion. Doch den Entwurf für das Denkmal wollte er dann schon gesehen haben. Ferner entschied der Bundesrat, dass das Denkmal in Basel aufgestellt würde, wozu der Regierungsrat des Kantons Basel-Stadt am 17. Juni 1891 seine Zustimmung gab. 1895 war es soweit, das Denkmal konnte enthüllt werden. Der damalige Staatsarchivar Rudolf Wackernagel setzte sich hin, bearbeitete alle Akten und die aus dem Nachlass von Gottlieb Bischoff stammenden Papiere für eine Gedenkschrift, die der Basler Regierungsrat zum Zeitpunkt der Denkmalenthüllung feierlich publizieren liess.

Der stolze Satz „Man kann alles, wenn man will“ stammt laut Wackernagel von diesem Mann, Dr. Gottlieb Bischoff (1820-1885). Bischoff war während der badischen Revolution 1848 Chef der eidgenössischen Polizei gewesen, wurde später Basler Polizeidirektor, dann Staatsschreiber. Er war, wie Wackernagel schrieb, „nie und nimmer ein Amts- und Bureaumensch“. Baden und das Elsass waren für ihn Teile der unmittelbaren Nachbarschaft, das Schicksal von Strassburg berührte ihn tief. Nach dem Beginn des deutsch-französischen Krieges hatten im August 1870 die für die Franzosen ungünstigen Kämpfe bei Weissenburg, Wörth und Speicheren stattgefunden, jetzt schloss sich der Belagerungsring vor allem aus badischen Truppen um das befestigte Strassburg. Es war noch ein Krieg ohne Luftwaffe, also ein Artillerie- und Stosstrupp-Krieg. Die deutschen Belagerer zählten um die 40'000 Mann; die Garnison in Strassburg selber belief sich auf 23'000 Soldaten. Wie Kavaliere aus dem Dreissigjährigen Krieg deklarierten die Oberkommandierenden einander die jeweiligen Vorhaben: General von Werder auf der deutschen Seite gab die bevorstehende Beschiessung bekannt und forderte das befestigte Strassburg zur Übergabe auf; General Uhrich auf der französischen Seite lehnte es ab, bat aber um Evakuierung von Frauen, Kindern und Greisen, was wiederum die deutsche Seite refüsierte. So begann am 23. August die Beschiessung, die die Strassburger in die Keller trieb und zur Zerstörung der Gemäldegalerie, der Stadtbibliothek, des Bahnhofs, des Gymnasiums und sogar des grossen Daches des Münsters und anderer Kirchen führte. Die Schweiz und vor allem die Basler waren erregt und geschockt, zu Frankreich so gut wie zu Deutschland hatten sie ja engste persönliche Beziehungen, man konnte dieses Unglück nicht einfach hinnehmen, sondern musste etwas tun.

Das war die Stunde für Gottlieb Bischoff. Am Anfang glaubte er, dass der Grosse Rat von Basel-Stadt aktiv werden sollte, dann reiste er nach Bern, um sich mit dem befreundeten Bundesrat Jakob Dubs darüber zu besprechen, wie die ganze Schweiz mitmachen könnte. Dubs wollte zuerst den Bundesrat offiziell zur Hilfe bewegen, aber der Bundesrat insgesamt scheute sich, diplomatisch zugleich auf deutscher wie auf französischer Seite aktiv zu werden. Privaten Bemühungen hingegen sicherte er seine volle Hilfe zu. Abermals sah sich Bischoff gefordert. Die welsche Schweiz war in ihren Sympathien eindeutig auf der Seite der Franzosen; in der deutschen Schweiz war der Widerstreit der Gefühle für beide Seiten unentwirrbar, gerade das schien Bischoff eine günstige Voraussetzung. Also holte er sich Gesinnungsfreunde vor allem in Basel, Bern und Zürich. Er stellte die entsprechenden Comités auf die Beine: „Es wäre doch himmelstraurig, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vor seinen Augen und Ohren eine Bürgerschaft solchem Elend ausgesetzt sein zu lassen“.

Der Bundesrat erklärte sich am 7. September 1870 bereit, das Comité zu unterstützen und dessen Deputierten Empfehlungsschreiben an General von Werder und an den Maire von Strassburg auszustellen. Schon am 8. September reisten die Delegierten von Basel weg, nämlich der Gemeindepräsident von Büren aus Bern, der Zürcher Stadtpräsident Römer und Bischoff selber. Die Raschheit der Entscheidungen und der einzelnen Massnahmen will uns Angehörigen einer sogenannt hektischen Zeit fast unglaublich vorkommen. Schon am 10. September konnten die Schweizer mit dem Oberkommandierenden von Werder verhandeln. Am 11. September, einem Sonntag, wurde die Delegation mit Trompeten durch den Belagerungsring geleitet, das Festungstor von Strassburg öffnete sich, und die Commission municipale mitsamt dem Maire Humann empfing die Schweizer in Galakleidung. Anschliessend besprachen sich die Delegierten mit General Uhrich persönlich. Das Ergebnis aller Verhandlungen war, dass bereits am 15. September die ersten 254 Personen Strassburg verlassen konnten und in Basel eintrafen, befördert von der Badischen Eisenbahn; weitere Transporte folgten bis zum 22. September.

Von Basel aus wurden insgesamt 1778 Personen teils in die Schweiz weitergeschickt, teils in Basel selber untergebracht. Privatquartiere gab es insgesamt 261, die übrigen Personen verteilten sich in Gasthöfen, Spitälern und im Klingental. Nach der Kapitulation von Strassburg wurden die Flüchtlinge bis Mitte November wieder nach Strassburg zurückgeführt. Die Gesamtrechnung belief sich auf (damalige) Fr. 219'421.17; den grössten Betrag dazu hatte Basel mit insgesamt Fr. 29'325.19 geleistet. Somit steht das Strassburger Denkmal in Basel an einem legitimen Ort, und Bischoff selber hatte bewiesen, dass alles möglich ist, wenn man nur will.

79.    Hölle, und dann ReklamefahrtenNach Oben

Das schrillste Echo kam aus Wien im November 1921 und trug den Titel „Reklamefahrten zur Hölle“. Da war zu lesen:

„Sie erhalten am Morgen Ihre Zeitung.

Sie lesen, wie bequem Ihnen das Überleben gemacht wird.

Sie erfahren, dass 1 1/2 Millionen eben dort verbluten mussten, wo Wein und Kaffee und alles inbegriffen ist (...)

Sie fahren im bequemen Personen-Auto aufs Schlachtfeld, während jene nur im Viehwagen dahin gelangt sind.

Sie hören, was Ihnen da alles zur Entschädigung für die Leiden jener geboten wird und für ein Erlebnis, wovon sie bis heute Zweck, Sinn und Ursache nicht zu erkennen vermochten (...)

Sie bekommen unvergessliche Eindrücke von einer Welt, in der es keinen Quadratzentimeter Oberfläche gibt, der nicht von Granaten und Inseraten durchwühlt wäre.“

Die Redaktoren der damaligen „Basler Nachrichten“ müssen, sollten sie das gelesen haben, vielleicht doch zusammengezuckt sein – die Redaktoren meine ich, nicht die Inseraten-Acquisiteure. Denn tatsächlich war es ein Inserat, aber ein ausdrücklich von der Zeitung selber verantwortetes, mit dem vom 25. September bis zum 25. Oktober 1921 Reklamefahrten zum ermässigten Preis von Fr. 117.— ohne Passformalitäten durch die „Basler Nachrichten“ in die Schlachtfelder Frankreichs bis nach Verdun veranstaltet wurden – alles inbegriffen, tadellose Unterkunft und Verpflegung. Der Krieg war noch nicht drei Jahre vorher zu einem Ende in Hoffnungs- und Ratlosigkeit gekommen. Die Soldaten und Zivilisten waren erschöpft, krank, körperlich und seelisch aufgerieben, und da veranstalteten die unversehrten Schweizer Schlachtfelder-Rundfahrten. Karl Kraus, der Herausgeber und Verfasser der Vierteljahresschrift „Die Fackel“ tat etwas, was er selten tat: er reproduzierte das genannte Inserat aus Basel und sprach vom „Valutenbrei, der sich Menschheit nennt“.

Das stillste Echo hängt im Basler Kunstmuseum: das Gemälde von Niklaus Stoecklin von 1919 mit dem Titel „Der Hartmannsweilerkopf“. Eine öde, verschneite Landschaft unter einer fast schwarzen Wolkendecke mit einem Granattrichter, in dem ein geplatztes Geschoss liegt, und ein verdrehter Schlauch, vermutlich von einer Gasmaske ringelt sich im gefrorenen Schnee.

Das dokumentarische Echo haben 1988 die Editions du Rhin in Mülhausen aufgelegt, eine von Thierry Ehret verfasste Zusammenstellung von Kriegsfotos 1914-1918 mit dem Titel „Autour de l’Hartmannswillerkopf“. Der Hartmannsweilerkopf, französisch le Vieil-Armand, ist das am nächsten bei Mülhausen und also Basel gelegene Schlachtfeld, eine weitgehend im Wald liegende Erhebung von gegen 1000 Meter hinter Sennheim und Soultz, auf der Luftlinie zwischen Thann und Guebwiller, Schauplatz einer, wie Ehrt sagt, unglaublichen Schlächterei.

Unmittelbar nach dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges dringen französische Truppen in das damalige deutsche Reichsland Elsass von Belfort her ein, erobern am 8. August 1914 Mülhausen. Aber schon am 9. August werden sie wieder vertrieben. Die l’Armée d’Alsace kommt am 19. August zurück, am 24. muss sie der deutschen Übermacht abermals weichen. Im November 1914 stabilisiert sich die Front auf 700 Kilometern von Belgien bis zur Schweizer Grenze. Es beginnt der Grabenkrieg, bei dem die Front im Oberelsass auf den ersten Anhöhen der Vogesen festfährt, Graben gegen Graben, bisweilen nur wenige Dutzend Meter voneinander entfernt. Die blutigsten Auseinandersetzungen finden 1915 bis im April statt, 4500 französische, 12'000 deutsche Soldaten sterben. Man kämpft, also ob sich der Weltkrieg hier entscheiden müsste. Doch 1916 entdecken beide Heeresführungen, dass der Hartmannsweilerkopf strategisch eigentlich gar nicht interessant ist. Die Truppen richten sich gemütlicher ein, versuchen einander nur noch mit Kopfschüssen umzubringen. Es sind mehr Landwehr- und Reservetruppen, da der grosse Krieg sich viel eher bei Verdun und an der Somme entscheiden wird. Der Hartmannsweilerkopf entpuppt sich als ein stupides Prestigeobjekt ohne wirkliche militärische Bedeutung.

Das Buch von Thierry Ehret zeigt Bilder dieser Soldaten, Kämpfe, Befestigungsanlagen, Durchzüge, zeigt auch die Verwundeten, Toten und die Zerstörungen in den armseligen Dörfern rund um Thann. Es sind Fotos nach alten Postkarten, offizielle und Amateurbilder, Soldaten-Erinnerungsbilder, herausgesucht von Tausenden von privaten Dokumentationen. Das Überraschende und sogar Ergreifende: Es sind Fotos von beiden Seiten der Front, also französische und deutsche Bilder, alles unbekanntes Material, nach 75 Jahren aus dem Dunkeln ans Licht gezogen. Neun Fotografen auf der französischen und 16 Fotografen auf der deutschen Seite sind namentlich genannt; zahllose Sammler und Privatpersonen haben ihre verstaubten Alben geöffnet.

Mehr als 90 Jahre liegt die so dokumentierte Geschichte zurück. Die Weltkriegsjahre 1939-1945 haben ihre Wunden schlecht vernarben lassen: ein abermals von Deutschland besetztes Elsass musste Soldaten auch nach Russland schicken. Wie soll man da über den Hartmannsweilerkopf frei von Emotionen erzählen können? Das Bild kann es; die gleicherweise auf der deutschen wie französischen Seite aufgenommenen Fotos zeigen die gleiche Art von Männern, die gleiche Tristesse, die gleiche Armseligkeit, die gleiche Verblendung. Und der Text im Vorwort und den ausführlichen Legenden, die von einer seltenen Genauigkeit sind, weicht keinen Millimeter von der dokumentarischen Treue ab, fällt kein Urteil, sondern bringt nur Fakten bis hinunter zu den Regimentsbezeichnungen und den Namen der abgebildeten Personen, wo sie eruierbar waren.

Dass die Geschichte des Oberrheins viel zu wenig über die nationalstaatlichen Grenzen blickt, kann man als eine nicht gemachte Hausaufgabe bezeichnen. Für diesmal trifft der Vorwurf nicht zu. Thierry Ehret hat hier eine Hausaufgabe auf eine Weise erledigt, die staunen macht und Hoffnung birgt. Und wenn die Basler heute gelegentlich wieder den Hartmannsweilerkopf oder die neueren Soldatenfriedhöfe des Zweiten Weltkrieges auf den Höhen der Vogesen besuchen, darf der Aufschrei von Karl Kraus aus dem fernen Wien weiter im Ohr gellen. Sie sollen auf leisen Sohlen gehen und begreifen, was es für ein unwahrscheinliches Geschenk ist, dass drei verschiedene Länder sich ein so herrliches Stück Erde ohne Waffenlärm teilen.

80. Nun muss er schaffen, der Vater RheinNach Oben

Manchmal hat man einfach beim Antiquar Glück, ein Buch springt einem entgegen und sagt: Schau mal, so war das damals. Als Druckort ist Mülhausen angegeben, das Druckdatum ist das Jahr 1932. Sogar Bilder hat das Buch, Lithografien und technische Zeichnungen in der damaligen, schon erstaunlich guten Reproduktionstechnik. Es handelt vom Kraftwerk Kembs, von der ersten Etappe des Grand Canal d’Alsace und ist von einem Herrn Koechlin, wahrscheinlich René Koechlin, dem Vizepräsidenten des Verwaltungsrates der Usine Hydroélectrique de Kembs, einem Freund in der Schweiz handschriftlich gewidmet.

Am Schluss des Buches befinden sich Karten. Die eine zeigt im extremen Hochformat den Rhein von Basel bis Strassburg mit allen, zum Teil erst geplanten Kraftwerken, also Kembs, Othmarsheim, Fessenheim, Vogelgrün, Marckolsheim, Sundhouse, Gerstheim, Strassburg. Eingetragen sind ferner alle Kanäle, der Kanal von Hüningen nach Mülhausen, der alte, landeinwärts gelegene Rhein-Rhône-Kanal, der von Strassburg über Neu-Breisach bis Mülhausen geht, mit Abzweigungen nach Colmar und Ensisheim; auf der deutschen Seite der Leopoldskanal von Freiburg am Kaiserstuhl vorbei in den alten Rhein – jetzt realisiert man plötzlich, was für ein ausgeklügeltes System von zum Teil vielhundertjährigen Wasserwegen, Schleusen und Landeplätzen dieses Rheintal doch ist. Die andere Karte zeigt im Detail die erste Staustufe von Kembs mit Schleuse und Kraftwerk, aber auch mit allen Dämmen, Deichen, Entwässerungskanälen, den Aufschüttungen, Gesteins- und Sandschichten sowie den verschiedenen Wasserständen in der Schifffahrtsrinne und im eigentlichen Staubereich. Dazu natürlich die Strassen, Eisenbahnen, Werkbauten, Kraftwerkbauten.

Wahrhaftig, da wurde der alte Vater Rhein gnadenlos in den Arbeitsdienst genommen und für ganz neue Aufgaben verpflichtet. Wer heut dem Strom entlang auf dem linken oder rechten Ufer wandert, radelt oder sein Auto kutschiert, sollte sich auch in der romantischsten Passage bewusst bleiben, dass er sich durch eine hundertprozentige Kunstlandschaft bewegt. Vom wirklich alten Rhein, dem historischen Rhein der Römer oder demjenigen Napoleons, ist nichts geblieben. Ihn hat zuerst die Korrektion des badischen Ingenieurs Tulla begradigt, und nach dem Ersten Weltkrieg kam als zweiter, nicht weniger einschneidender Eingriff der Bau des Grand Canal d’Alsace auf der französischen Seite, der – auch das vergisst man gern – erst einige Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg als eine ganze Abfolge von Staustufen und Elektrizitätswerken fertig gebaut wurde.

Wenn man diese Schrift heute liest, ist es mehr als offensichtlich, dass sie zu einer Zeit des ungebrochenen Glaubens an die technischen Möglichkeiten geschrieben wurde. Ganz im Vorübergehen erwähnt der Text die alten Dämme, die frühere Jahrhunderte errichteten, um sich vor Überschwemmungen zu schützen. Um diesen Missständen abzuhelfen, hatten sich das Land Baden und die Französische Republik zur Rheinkorrektur nach den Plänen von Tulla entschlossen. Damals baute man neue Dämme, niedrigere auf beiden Seiten des begradigten Flusslaufes, der auf 180 bis 250 Meter Breite festgelegt wurde, dann weiter entfernt höhere Dämme für die Hochwasser, die der Rhein nach wie vor mit sich zu führen pflegte. Das Buch schildert auch die Nachteile der Tulla-Korrektion: die Verkürzung des Flusslaufs um 81 Kilometer zwischen Basel und Mannheim, und dann folgt ein kurzer Satz der Besinnung: „auf diese Weise hat man das Gleichgewicht des Flusses zerstört.“ Denn nun wurde das Gefälle, das vorher von Basel bis Strassburg 0,64 Promille und von Strassburg bis Mannheim 0,2 Promille betrug, erheblich steiler. Somit erhöhten sich Geschwindigkeit und Transportkraft des Rheines, er frass sich tiefer in sein Bett ein.

Bei Istein, 9 km unterhalb der schweizerischen Landesgrenze, ergab sich ein spezielles Problem. Dort unterquert eine felsige Schwelle den Rhein. Im ursprünglichen Rhein machte sie sich weiter nicht bemerkbar, im korrigierten Rhein kam sie, je tiefer er sich frass, desto näher an die Wasseroberfläche, also bildeten sich stromschnellenartige Wellen. Nur noch zwei Meter über diesem Felsenriegel floss das Wasser durch, demnach musste es sich dort gewaltig beschleunigen. Dieses Hindernis hätte die ganze Rheinschifffahrt verunmöglicht. Das vermerkte der Text nicht ohne Stolz, weil somit erst der zwischen Basel und Kembs funktionierende Kanal die Schiffahrt wieder möglich machte. Vorher musste die Rheinschifffahrt nach Basel auf dem Hüninger Kanal abgewickelt werden; im Extremjahr 1929 kamen über den Rhein nur noch 7570 Tonnen Fracht nach Basel, über den Hüninger Kanal dagegen 611'020 Tonnen. Klar ist auch, dass der gerader, enger und tiefer gewordene Rhein mit der erhöhten Wassergeschwindigkeit vermehrte Anforderungen an die Leistungsfähigkeit der Schiffsmotoren stellte. Von Strassburg an mussten die Motoren rheinaufwärts mehr als doppelt soviel leisten.

Von Basel an aufwärts war es der Leitgedanke, den Rhein in erster Linie zur Elektrizitätsgewinnung einzusetzen. Von Strassburg an abwärts dachte man vorrangig an die Schifffahrt. Für die Strecke Basel-Strassburg, die eine Höhendifferenz von 118 Metern aufweist, würde man an beides zugleich denken: an die Stromerzeugung und die Schiffbarmachung. Da konnte man an alten Ideen anknüpfen. Schon 1837 wurde der Académie des Sciences in Paris ein entsprechendes Projekt unterbreitet, das dann René Koechlin 1902 nach neusten Erkenntnissen umarbeitete und der Société Industrielle von Mülhausen vorlegte, die es an die damals deutsche Regierung von Elsass-Lothringen weiterleitete. Die Mülhauser waren immer industriell interessierte Leute, sie gründeten 1910 eine Gesellschaft „Forces Motrices du Haut-Rhin“ mit einem Kapital von 20 Millionen Mark, um das Vorhaben auch praktisch zu realisieren. Dann kam der Erste Weltkrieg. Daniel Mieg von Mülhausen vergass die alten Pläne nicht; seinem Einfluss ist es zuzuschreiben, dass in den Artikeln 358 und 359 im Friedensschluss von Versailles Frankreich das Recht bekam, aus dem Rhein, dem gemeinsamen Grenzfluss, die für den linksrheinisch gelegenen Grand Canal d’Alsace notwendigen Wasser abzuleiten. Unter Einbezug von Baslern und Schweizern wurde im Hinblick auf die Schifffahrt die Staustufe Kembs als erste Etappe so konzipiert, dass die aufgestauten Wasser rückwärts bis zur Birsmündung oberhalb von Basel spürbar werden mussten.

1928 begann man mit dem Bau unter dem Zuzug verschiedener schweizerischer Firmen. Die eigentlichen Hochbauten wurden vom August 1931 an errichtet, und 1932 liefen die ersten Generatoren. Deutsche, Schweizer und Franzosen wirkten zusammen, um den alten Vater Rhein in die Pflicht zur Stromerzeugung zu nehmen.

81. Die Mildtätigkeit des SpekulantenNach Oben

Das mittelalterliche Leben in den oberrheinischen Städten ist nur noch in Spuren vorhanden. Zu diesen Spuren gehören gewisse Strassen- und Häusernamen. So gibt es in Basel ein Imber- (Ingwer-) und Pfeffergässlein. Aber – kleine Überraschung – der Basler Pfefferhof liegt nicht am Pfeffergässlein, sondern im St. Alban-Tal, in dem die Mühlen liefen und die Papiermühle heute wieder läuft.

Man muss sich also eine Nachbarschaft von spätmittelalterlichen Papierern und Gewürzhändlern vorstellen, wobei für die ersteren Lumpen und Hadern, für die zweiten Muskatnüsse und Pfefferkörner angeliefert wurden? Es ist wieder einmal zu schön, um wahr zu sein. Der Pfefferhof ist zwar ein altes Haus, aber seinen Namen hat er aus dem 20. Jahrhundert. Und die Geschichte, die dahinter steckt, ist keine Basler Geschichte, sondern eine solche aus Mülhausen und dem Sundgau, nahm ihren Anfang in Nancy und hat sogar etwas mit den Burgunderkriegen zu tun.

Ihr Held ist ein Basler namens Gustav Rensch (1871-1953), der am 11. Juli 1914 mit Pfeifern und Trommlern nach Nancy an die Erinnerungsfeier der Schlacht reiste und im Kostüm eines Fahnenträgers die „alten Schweizer“ anführte. Der ebenfalls anwesende französische General Foch fand soviel Gefallen an diesem Schweizer, dass er ihn im kostümierten Aufzug zum Festbankett einlud. Als dann ein nächtliches Défilé von rund 8000 Mann mit Fackeln stattfand, nahm Foch den verkleideten Rensch im Kettenhemd und Harnisch neben sich auf den Balkon – die Menge war gerührt: Schau, die Schweizer von Murten sind wieder da!

Aber am 25. Juli 1914 folgt nach dem Mord von Sarajevo das Ultimatum von Österreich-Ungarn an Serbien. Zwei Tage später wird der Kriegszustand erklärt. Auch Russland mobilisiert. Am 31. Juli erklärt der deutsche Kaiser den Krieg; die Basler Polizei fasst Gewehre und Bajonette. Die Strassen nach Hüningen und St. Ludwig – das Elsass ist seit 1871 deutsch – werden verbarrikadiert, das Basler Tram fährt nicht mehr über die Grenze. Am 1. August mobilisiert die Schweiz. Rensch wird eingezogen und erhält als Lebensmittelkaufmann den Auftrag, Reis für die Versorgung der Bevölkerung einzukaufen. Am 2. August erklärt Deutschland Frankreich den Krieg.

Rensch ist auf dem Basler Platzkommando einer der wenigen Franzosenfreunde, übrigens aus begreiflichen Gründen. Seine Vorfahren, geborene Schlettstädter, dienten in der königlichen und der republikanischen Armee Frankreichs. Und so ist er mehr als zufrieden, als er hört, dass die französische Armee erst Altkirch und dann Mülhausen einnimmt. In seinem Tagebuch notiert er: „Ich will in das Kriegsgebiet und habe den heissen Wunsch, die Tricolore auf dem Rathaus in Mülhausen flattern zu sehen.“

Damit ist vorerst nichts, denn die Deutschen haben Mülhausen zurückerobert. Und jetzt beginnt die denkwürdige Tätigkeit des erfolgreichen Kaufmanns Gustav Rensch. Er kann es einrichten, dass ihm Papiere für Besuche im noch deutschen Oberelsass erteilt werden. Er besucht einzelne Dörfer, die Stadt Mülhausen, trifft sich dort mit den Behörden, deren französische Gesinnung er instinktiv spürt. Er erinnert sich an das 1506 geschlossene Bündnis zwischen Basel und Mülhausen, das auf „Liebe und Freundschaft“ gegründet sein sollte, und entschliesst sich, die Milchversorgung Mülhausens von Basel aus zu organisieren. Der Basler Regierungspräsident, Dr. F. Mangold, der ACV und Herr Banga, Besitzer der Basler Molkerei, machen mit. Täglich können 20'000 Liter Milch spediert werden. Aber Rensch sucht auch Kontakt mit den Franzosen, überquert im Jura die Grenze, schlägt sich bis Belfort zum General Thevenet durch, um mit ihm die Milchversorgung Mülhausens auch für den Fall zu sichern, dass die Stadt wieder französisch würde. Er fährt nach Colmar, Strassburg, organisiert Milch-, Käse- und Fleischtransporte, schlängelt sich zwischen deutsch- und französischgesinnten Beamten durch, zieht die Firma Bell in den Lieferantenkreis ein. Franzosenfreundlich, wie er nun einmal ist, sammelt er auch militärische Informationen, die er dann nach Belfort weitergibt. Dadurch macht er sich beim deutschen Militär verdächtig, wird verhaftet und ins Lörracher Amtsgefängnis gesteckt. Er kommt auch politisch unter Beschuss – liefert etwa die Schweiz Fleisch ins Elsass und somit ins Deutsche Kaiserreich? Die Folge ist, dass Schweizer Importeure 1915 in ein Zwangssyndikat vereinigt und Exporte ins Elsass nur noch über ein deutsches Büro in Bern geleitet werden.

Rensch war auch Tafelsenf-Fabrikant. Zum Einkaufen der Rohstoffe konnte er nach Marseille und Paris reisen, umgekehrt machte er als Mitglied des Syndikates auch Geschäfte mit in der Schweiz liegenden Gewürzen, die er an deutsche Firmen zu exportieren verstand. Es ging um Pfeffer. Getreulich notiert er seine Gewinne, einmal 7500, dann 35'000 Franken. Mit diesem Geld erwarb er die Liegenschaft im St. Alban-Tal, die er „Zum Pfefferhof“ taufte. Rensch machte auch mit der Basler Polizei und dem Lohnhof Bekanntschaft, da er in Lausanne gedruckte Literatur, deklariert als Pfeffer, nach Deutschland geschmuggelt hatte. Die Milchlieferungen nach Mülhausen waren Anfang 1918 gefährdet, da die Basler Kantonalbank den Kredit an die Stadt Mülhausen nicht mehr verlängern wollte.

Das Tagebuch des Gustav Rensch, 1937 in Basel verlegt und in Mülhausen gedruckt, zeigt in zusammengezogener Form die Ereignisse Ende 1918: Grippe und Generalstreik in der Schweiz, die Durchreise der Refugianten durch Basel, den Waffenstillstand vom 11. November und die langsame Auflösung der deutschen Verwaltung im Elsass. Rensch findet Anerkennung und Dank: Am 16. November 1918 wird er offiziell vom Lysbüchel abgeholt und fast im Triumph nach Mülhausen gefahren, wo schon die Trikoloren hängen, während deutsches Militär singend nach den Grenzübergängen abmarschiert. Er erlebt den offiziellen Einmarsch der französischen Truppen und sitzt am 14. Juli des folgenden Jahres unter den Ehrengästen auf der Estrade der Mairie Mülhausen: ein Basler, der die Freundschaft und Liebe zu Mülhausen nie aufgegeben hat.

Die Bezeichnung „Spekulant“ wirkt im Blick auf diese Tätigkeit alles andere als freundlich. Aber wir können dem Tagebuch auch entnehmen, dass er bei Kriegsende ein Geschäft mit Ölkuchen in der Grössenordnung von 300'000 Franken versuchte, das prompt schief ging. Und schliesslich dürfen wir uns daran erinnern, dass die ehrbaren Kaufleute in Basel schon seit Jahrhunderten ihre Handelsgeschäfte gerne als Speculations-Geschäfte bezeichneten. Ehrenrührig war das für niemand.

82. Der Vorgänger Nach Oben

Christian Wurstisen, der Historiker des späten 16. Jahrhunderts, gab seiner „Bassler Chronick“ den Untertitel einer Geschichte der „oberen Teutschen Lande“. Das heisst ganz einfach, dass er Basels Geschichte nicht als eine Unterabteilung der Schweizer Geschichte verstand, obschon Basel damals bereits seit mehr als einem Menschenalter zur Eidgenossenschaft der XIII alten Orte gehörte. Für Wurstisen war es eine Geschichte, die sich eben auch im Raum Strassburg-Besançon und Baden-Villingen-Freiburg abspielte. Heute würde man sagen: Basler Geschichte war für Wurstisen auch eine mitteleuropäische, elsässische, breisgauische, burgundische und eidgenössische Geschichte, eine Regio-Geschichte. Die „oberen Teutschen Lande“ erstreckten sich für ihn vom Gotthard bis an die Donau und den Neckar und zogen sich dem Rhein entlang weiter nach Lothringen.

Die Eingrenzung dieser über 400 Jahre alten Perspektive (um von noch früheren Zeiten zu schweigen) vollzog sich etappenweise: durch den Dreissigjährigen Krieg, die Reunion des Elsass mit Frankreich, durch die Eroberungs- und Zerstörungskriege unter Ludwig XIV. und Ludwig XV., dann durch die Französische Revolution, die ein nationalstaatliches Frankreich den deutschen Fürsten gegenüber begründete, und wo diese Fürsten sukzessive auf ihre linksrheinischen Besitzungen verzichten und Napoleon gehorchen mussten. Es entstanden nach 1815 eine territorial klar abgegrenzte Schweiz, ein Grossherzogtum Baden und später eine Deutsches Reich. Das Elsass war im deutsch-französischen Krieg, im Ersten und Zweiten Weltkrieg noch einmal Spielball zwischen dem von Preussen dominierten Deutschen Reich und Frankreich – seit 1945 ist Ruhe eingekehrt. Aber diese Ruhe heisst auch, dass das geschichtliche Bewusstsein am Oberrhein dreigeteilt ist: in einen französischen, süddeutschen und schweizerischen Blickpunkt. Erst in der Mitte der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts begann man sich, zuerst in Basel, wieder auf das zu besinnen, was wir heute die Regio oder das Dreiland am Oberrhein nenne. Eine späte Erkenntnis?

Hier soll ein Kränzlein gewunden werden für einen Mann mit dem Namen Franz August Stocker aus Möhlin. Er lebte von 1833 bis 1892. Auf die Welt kam er in Frick als der Sohn des Adlerwirtes und Posthalters, ging in Aarau zur Schule. Dann versuchte er sich eine Zeitlang als Buchdrucker in Frick, kam aber auf keinen grünen Zweig. Anfang der sechziger Jahre trat er in Aarau in die Redaktion des von Heinrich Zschokke 1804 gegründeten „Schweizerboten“ ein, liess sich 1871 als Redaktor an die „Basler Nachrichten“ berufen, erwarb 1876 das Basler Bürgerrecht. Er war ein begeisterter Theatermann, gab bei Sauerländer in Aarau „Das Volkstheater der Schweiz“ heraus, eine umfangreiche Sammlung von Theaterstücken, wie das 19. Jahrhundert sie liebte.

Aber nicht nur darum verdient er hier erwähnt zu werden. Sondern sein eigentliches, originelles und anspruchsvoll konzipiertes Werk besteht in einem Jahrbuch, das von 1883 bis 1892 in insgesamt neun Bänden herauskam und den Titel „Vom Jura zum Schwarzwald“ trug. Jeder Band, der offenbar jeweils gegen Ende Jahr erschien, hatte um die 300 Seiten. Der Titel „Vom Jura zum Schwarzwald“ ist etwas missverständlich, da Stocker ebensogut den dritten Fixpunkt „Vogesen“ hätte anführen können – viele Geschichten spielen nämlich im Elsass, zum Beispiel in Hegenheim, Rappoltsweiler, Blotzheim, Hüningen, Mülhausen und Strassburg.

Stocker war vom Temperament und von der Berufung her Journalist, als solcher wollte er auch wirken. Aber sein historisches Interesse war ungewöhnlich; er scheute sich nicht, auch selber in die kleinsten Archive zu steigen und dort die Akten nachzuschlagen. Fast mustergültig ist, was er da zum Beispiel über das Schloss in Hegenheim herausfand. Er konnte die Besitzverhältnisse über die Herren von Hegenheim im 14. und 15. Jahrhundert, die Herren von Bärenfels im 15., 16. und 17. Jahrhundert, die Herren von Barbier im 17. und 18. Jahrhundert, die Schoffenberg und schliesslich den Baron von Leoprechting Anfang des 19. Jahrhunderts fast lückenlos nachweisen. Die frühste Urkunde, die Stocker über Hegenheim fand, datiert von 1230. Hegenheim war im Armagnakenkrieg 1444 Quartier des französischen Dauphins, des späteren Ludwig XI.; 1643 kampierten dort im Dreissigjährigen Krieg die Schweden. 1692, nachdem die französische Krone das Lehen an sich gezogen hatte, wurde es dem Sieur Laurent de Barbier übertragen, der Kommandant des Fort St. Peter in Freiburg im Breisgau war.

Schon nur diese Miniaturgeschichte von Hegenheim, die Franz August Stocker minutiös rekonstruierte, zeigt seinen Fleiss und seine historische Gewissenhaftigkeit. Imponierend an der ganzen Reihe dieser Jahrbücher aber ist die Beharrlichkeit, mit der Stocker die verschiedensten Autoren aus Basel, der ganzen Schweiz, aus Süddeutschland und aus dem Elsass dazu bewegen konnte, ihm Beiträge zu liefern. Vielfach sind es Pfarrherren, aber auch Professoren wie Andreas Heusler aus Basel, Literaturwissenschafter wie Albert Gessler oder August Stöber, Historiker wie Fritz Wernli, Politiker wie Martin Birmann, basellandschaftlicher Ständerat. Vielleicht ein Drittel der Texte in den neun vorliegenden Bänden stammt von Stocker selber, die anderen zwei Drittel zeigen verschiedene Autoren. Wie stark dieses Jahrbuch an seiner Schaffenskraft hing, ersieht man daran, dass nach seinem plötzlichen Tod 1892 die ganze Reihe sofort zum Stillstand kam – der schwarz umrandete Nachruf auf ihn ist der letzte Artikel.

Es sind also schon etwas mehr als 100 Jahre vergangen, seit Stocker der historischen, literarischen und volkskundlichen Einheit der Regio ein Denkmal zu errichten gedachte. In seinen eigenen Worten war er „niedersteigend an die lachenden Ufer des Rheins und der Aare und hinüber zu den welligen Bergen des Schwarzwaldes mit dem dunklen Tann an den Hängen und Schluchten; dann hinunter in das fruchtbare Tafelland des freundlichen Elsasses; mitten drin wie eine Perle im Smaragdkranze der anmuthigen Landschaft, die Stadt Basel mit ihren Kirchen und Thürmen und einem Gewirr hochragender Häuser und Giebel: Das ist, mit einem Male gesagt, das begrenzte Gebiet, das wir in unsern periodisch wiederkehrenden Blättern in Geschichte und Sage, in Land und Leute zu schildern gedenken.“

Das „begrenzte Gebiet“ weitete sich unter Stockers Blick in eine nach den verschiedensten Richtungen geöffnete Übergangslandschaft, so gut wie an jeder Stelle von Geschichte durchwachsen. Und so darf er auch für diese Texte, die Sie jetzt auf dem Bildschirm abrufen können, als eine Art von Vorgänger gelten.

 

 
© 2004 Markus KutterNach Oben