Der Aufsatz „Die Organisation des europäischen Statenvereins“ von
Johann Caspar Bluntschli erschien erstmals 1878 in der deutschen Zeitschrift „Gegenwart“.
Stichjahr 1878: Seit sieben Jahren war Deutschland ein Kaiserreich,
und Reichskanzler Fürst Bismarck nahm nach dem heftig geführten
Kulturkampf gegen das päpstliche Unfehlbarkeitsdogma von Pius IX.
einen innenpolitischen Kurswechsel vor, indem er sich mit dem Sozialistengesetz
gegen die bisher geschonte Sozialdemokratie wendete. In Frankreich war
der abgedankte Kaiser Napoleon III. schon seit fünf Jahren tot;
der republikanische Führer Adolphe Thiers hatte den monarchistischen
Kräften unter General Marie Edme Mac Mahon weichen müssen,
der letztere war sogar 1876 zum Präsidenten gewählt worden.
In Italien folgte auf Vittorio Emanuele II., der das Land mit der Hilfe
Cavours und Garibaldis hatte einigen können, nach seinem Tod 1878
König Umberto I. In Grossbritannien trug Königin Victoria seit
dem 1. Januar 1877 auch den Titel einer Kaiserin von Indien. Österreich
war seit 1867 eine österreichisch-ungarische Doppelmonarchie mit
zwei getrennten Reichstagen und sah sich zunehmend mit Nationalitätenproblemen
in Siebenbürgen, Böhmen, Galizien, Kroatien und Südtirol
konfrontiert; nach der Niederlage gegen Preussen im deutschen Krieg hatte
es in Oberitalien auch Venetien verloren. In der Schweiz ging es darum,
die von der 1874 revidierten Bundesverfassung geschaffenen Befugnisse
durch neue Gesetzgebungen auszuwerten, welche die Kompetenzen des Bundesstaates
zu Lasten der Kantone noch einmal verstärken würden.
Stichworte zu einer europäischen Lage, in welcher der seit bald
30 Jahren nach Deutschland ausgewanderte Schweizer Johann Caspar Bluntschli
(1808-1881) darüber nachzudenken begann, wie ein politisch organisiertes
Europa aussehen und funktionieren müsste. Das war nicht eine Idee
aus heiterem Himmel, sondern entsprang der Sorge um die europäische
Gewichtsverteilung nach dem Auftreten der beiden neuen Grossmächte
Italien und Deutschland und der Demütigung Frankreichs durch den
Verlust von Elsass-Lothringen. Zugleich entsprach es dem damals immer
häufiger gepflegten internationalen Konferenz- und Tagungsstil,
und für Bluntschli kam eine persönliche Beziehung dazu:
Im Februar 1873 war er vom belgischen Völkerrechtler Rolin-Jacquemyns
eingeladen worden, sich an der Gründung einer Internationalen Akademie
für Völkerrecht zu beteiligen. Bluntschli gefiel das so gut,
dass er sich gleich an den Entwurf von Statuten machte. Ihr Artikel 1
umschrieb die Aufgabe dieses Instituts: „Es hat die Aufgabe,
durch Aussprache allgemeiner völkerrechtlicher Grundsätze die Kenntnis,
Verbreitung und Fortbildung des Völkerrechts zu fördern, bei
Zweifeln und in Streitfällen der Staten rechtliche Gutachten zu
erteilen und je nach Umständen, so weit die Einsicht und die Autorität
der Wissenschafter reicht, an der Sicherung des Friedens und des freundlichen
Verkehrs aller Nationen mitzuarbeiten und im Kriege für die Beachtung
der völkerrechtlichen Schranken der Gewalt und für die völkerrechtlichen
Pflichten der Humanität einzustehen.“ Damit wurde ein Anspruch
sichtbar, der über blosse wissenschaftliche Erörterungen weit
hinausging – es war ein erster Entwurf für das integrierte
Europa der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
An der Gründungsversammlung vom 10. September 1873 in Gent waren
von den 39 ernannten internationalen Mitgliedern elf persönlich
anwesend; die Franzosen freilich fehlten, weil sie sich ausserstande
fühlten, mit deutschen Juristen zusammenzusitzen, zu denen sich
auch Bluntschli zählte. (Aus der Schweiz kam Gustave Moynier, einer
der Gründer des Roten Kreuzes.) Aus Schottland reiste James Lorimer
(1818-1890) an, der sich als Jurist in Edinburgh, Berlin, Bonn und an
der Akademie von Genf hatte ausbilden lassen und 1865 an die Universität
von Edinburgh berufen worden war. Bluntschli kam mit ihm in näheren
Kontakt und war höchst interessiert, als Lorimer, der liebend gern
solche internationalen Konferenzen besuchte, 1877 in der „Revue
de Droit international“ ein scharfsinniges, freilich eher utopisches
Schema für eine gesamteuropäische Regierung mit einem Zentrum
in Genf vorlegte. Lorimer vertrat die Ansicht, dass eine gesamteuropäische
Regierung ohne Beachtung des Repräsentationsprinzips und der Volksrechte
nicht mehr gebildet werden könne, das heisst dass die Zeit über
eine blosse Regierung der Regierungen (nach dem Modell des deutschen
Bundestages von 1815) längst hinausgeschritten wäre, die Völker
sogar empören müsste. Da stimmte ihm Bluntschli zu, widersprach
ihm aber, sobald Lorimer amerikanische Organisationsprinzipien auf Europa übertragen
wollte. „Europa“, so Bluntschli, „besteht
aus sehr verschiedenen Nationen, die sich nicht ebenso politisch einigen
lassen,
da sie durch ihre Wohnsitze, ihre Rasse, ihre Geschichte, ihre Kultur
und ihre Interessen, hier recht von einander geschieden sind.“ Überdies
würde das nordamerikanische Staatenmodell „die Republikanisirung
Europas voraussetzen, welche der geschichtlichen Entwickelung der europäischen
Staten widerstreitet“. In Detailfragen – Kompetenzen des
Parlamentes, Ausscheidung aller nicht-europäischen Fragen wie der
Kolonialprobleme, Bildung einer internationalen Armee, Sprachenprobleme – kam
Bluntschli Lorimers Entwurf immer utopischer vor: „Europa kann
so wenig als Union oder Föderation nach Art der Vereinigten Staten
von Amerika organisiert werden, als es eine Universalmonarchie erträgt.
(...) Die wirkliche politische Kraft und Macht muss bei den Staten bleiben.“
Bluntschli sah sich selber gefordert. So legte er, nachdem er Lorimers
Projekt gelesen und kritisiert hatte, seine eigene „Organisation
des europäischen Statenbundes“ vor. Dazu betrachtete er sich
nicht nur als Staatsrechtler legitimiert, sondern auch als Mitglied einer
badischen Kammer; seine schweizerischen Erfahrungen mit der mediatisierten
Schweiz, dem Bundesvertrag von 1815, den verschiedenen Verfassungsrevisionen
oder Versuchen dazu, schliesslich mit der Bundesverfassung von 1848 stellten
ein Anschauungsmaterial dar, mit dem ein deutscher oder französischer
Professor nicht gleichziehen konnte. Klar war für Bluntschli: „Die
Form eines Bundesstates nach Art der Union der Vereinigten Staten von
Amerika oder der schweizerischen Eidgenossenschaft und ebenso die Verfassung
eines Bundesreiches mit einem Hauptstate, nach Analogie des deutschen
Reiches sind für Europa nicht anwendbar.“
Das Denken in den Kriterien der historischen Rechtsschule hielt Bluntschli
davon ab, sich auf theoretisch möglichst konsequente Modelle zu
versteifen; er glaubte zum Beispiel nicht, dass das Prinzip der Gewaltentrennung
konsequent durchgeführt werden könnte. Jedes staatliches Gebilde
versuchte er immer als eine Art von Organismus von eigener Gesetzlichkeit
zu begreifen und unterschied deshalb die völkerrechtliche Gesetzgebung
von der Bewahrung des Völkerfriedens und betrachtete die Handhabung
von internationalen Verwaltungssachen sowie die internationale Rechtspflege
als verhältnismässig autonome Bereiche. Er nahm etwas vorweg,
das fast 100 Jahre später die Europäische Union wirkungsvoll
umzusetzen lernte, wenn er sagte: „Es ist sehr viel leichter,
für
völkerrechtliche Institutionen zu sorgen, welche die kleinen Verwaltungssachen
und Prozesse erledigen, als Organe zu schaffen, welche die statlichen
Lebensfragen zu entscheiden berufen sind.“ Zu den kleinen Angelegenheiten
rechnete er „alle Anordnungen über internationale Verkehrsverhältnisse, über
Auslegung von Handels- und Zollverträgen, über Strassen, Eisenbahnen,
Posten, Telegraphenwesen, Schifffahrtsverkehr auf offener See oder in
den Seehäfen und auf den Strömen, über Auslieferung von
Verbrechern, über die Fragen der Stats- und Landesangehörigkeit
von Privaten, das gesammte internationale Privat- und Strafrecht, Grenzregulirungen,
Sanitätsinteressen, Entschädigungsstreitigkeiten, Mass und
Gewicht, Münzwesen, Ceremoniel u.s.f.“ Er schied also die
Geschäfte aus, in denen die EU nach 1952 besonders aktiv werden
sollte.
Für die Erledigung solcher Aufgaben, die angesichts des grossen
Problems der europäischen Friedenssicherung untergeordnet sein mussten,
konnte er sich durchaus gemeinsame internationale Anstalten vorstellen.
Sie würden sich zum Beispiel mit dem Telegraphenwesen oder mit Massen
und Gewichten befassen und könnten selbständig in irgendeine
europäische Stadt verlegt werden. Für die nötige Koordination
wäre eine ständige europäische Bundeskanzlei zuständig, „in
welcher alle Geschäfte mit ihren Akten zusammen laufen“.
Die ersten 40 Jahre seines Lebens war Bluntschli im Europa der Heiligen
Allianz nach der Weisheit des Fürsten Metternich aufgewachsen. In
ihr war das Gleichgewicht der Kräfte auf Österreich, Frankreich,
Russland, Preussen und Grossbritannien verteilt gewesen. Nach 1848 und
dann vor allem nach 1866 hatte sich eine neue Gewichtsverteilung ergeben.
Bluntschli sah sechs Grossmächte in Europa: Das Deutsche Reich,
Frankreich, Grossbritannien, Italien, Österreich-Ungarn und Russland.
Dazu kamen als westeuropäische Staaten ohne Grossmachtrang Spanien,
Portugal, Belgien, die Niederlande, Dänemark, Schweden-Norwegen,
die Schweiz. Souveräne osteuropäische Staaten waren die Türkei,
Griechenland, Rumänien, Serbien und Montenegro; als halbsouveräner
Oststaat kam Bulgarien dazu. (Die Kleinststaaten wie Liechtenstein, San
Marino, Monaco und Andorra liess Bluntschli beiseite.) Es waren also
insgesamt 18 Staaten, die Bluntschli für einen europäischen
Staatenbund in seine Rechnung setzte. Als Staatspersonen sollten sie
im Prinzip gleichberechtigt sein, aber die Grossmächte, die durch
ihre Macht über Heer und Flotte befähigt waren, in die Geschicke
Europas und der Welt tätig einzugreifen, trugen eine andere Verantwortung. „Dieser
Unterschied muss auch in der Organisation Europas beachtet werden. Während
das Princip der gleichen Mitgliedschaft alle Staten verbindet, treten
die Grossmächte voran, wenn es sich um die Aktion handelt.“
Der europäische Bundesrat sollte demnach nach Bluntschlis Vorstellung
so zusammengesetzt sein, dass jeder Staat, auch die zusammengesetzten
wie Serbien-Montenegro, nur über eine Stimme verfügte, die
Grossmächte aber über deren zwei. Somit hätte der Bundesrat
24 Stimmen, von denen die Hälfte auf die Grossmächte, die andere
Hälfte auf die übrigen Staaten fiel.
Dem europäischen Bundesrat sollte nach der Vorstellung Bluntschlis
ein europäisches Repräsentantenhaus gegenüberstehen, er
nannte es einen europäischen Senat. Man sollte darauf achten, dass
diese Versammlung nicht über 120 Mitglieder käme, weil „nur
Männer, welche des Völkerrechtes und der grossen politischen
Verhältnisse in Europa kundig sind, passen dahin. Solche Männer
gibt es nicht allzu viele.“ Völkerrechtliche Normen, also
auch die staatenübergreifenden Gesetze, müssen von beiden Kammern
mehrheitlich verabschiedet worden sein, bevor sie der Bundesrat als völkerrechtliches
Gesetz verkünden könnte. Das Präsidium des Bundesrates
sollte alljährlich unter den Grossmächten wechseln, so dass
jede Grossmacht in Europa in einer Periode von sechs Jahren während
eines Jahres den Vorsitz im Bundesrat einnehmen würde.
Wie sehr Bluntschli auf eigene Erfahrungen zurückgreifen konnte,
zeigt sich in ganz praktischen Details. Er wollte dem europäischen
Bundesrat keine Residenz in einer der grossen Weltstädte oder Hauptstädte
einer Grossmacht anweisen, sondern nur Städte, „deren Bevölkerung
keinerlei Druck auf die Berathung zu üben vermag“. Er dachte
an Städte wie Brüssel oder Gent, Zürich, Genf, Baden-Baden
oder Leipzig, Nancy, Florenz oder Den Haag. Zum Sprachenproblem meinte
er, dass es niemand verwehrt sein dürfte, in seiner Muttersprache
zu reden, doch wenn die Redner wünschten, „von allen oder
doch der Mehrzahl verstanden zu werden, so werden sie französisch
oder englisch oder deutsch sprechen müssen“. Denn diese drei
Sprachen hätten in Europa die meiste Verbreitung; wenn ausnahmsweise
jemand in einer anderen Muttersprache spräche, „so wäre
dafür zu sorgen, dass seine Rede in einer dieser allgemeinen Sprachen
verdolmetscht würde. Man hilft sich in der Schweiz und auf internationalen
Konferenzen und Vereinen schon lange auf diese Weise.“
Bluntschli sah die Organisation Europas immer nur in Form eines Staatenbundes,
auf keinen Fall eines Bundesstaates. Darum insistierte er auch darauf,
dass dem Bund kein Steuerrecht und keine eigentliche Finanzhoheit zukomme,
sowenig wie eine militärische Hoheit. Damit verband sich bei Bluntschli
die Vorstellung, dass für die gewaltsame Durchsetzung von Beschlüssen
gegen einen renitenten Staat die sechs Grossmächte eine besondere
Verantwortung übernehmen müssten. Aus dem Bundesrat selber
sollte das Kollegium der Grossmächte hervortreten und mit militärischen
oder anderen Mitteln für den Vollzug der erklärten Beschlüsse
sorgen. Ihm schwebte vor, dass die sechs Grossmächte untereinander
und insgesamt ein Gleichgewichtssystem darstellten, aus dem auch keine
der Grossmächte auszubrechen sich verlockt sehen konnte.
Bluntschli setzte keine übertriebenen Hoffnungen in sein Konzept: „Der
neue Vorschlag einer europäischen Bundesverfassung ist nicht glänzend
und nicht ungewöhnlich, er ist nüchtern und bescheiden; aber
indem er sich an die realen Mächte hält und diesen die Erfüllung
der höheren Idealen Aufgaben anvertraut, ist er, wie ich hoffe,
eher ausführbar und wirkungsvoller als die früheren Pläne.“ (Da
griff er weit in die Geschichte zurück, dachte an die Pläne
des französischen Henri IV und seines Ministers Sully oder an den
Abbé de Saint-Pierre.) Die wichtigste Zielsetzung bestand für
Bluntschli darin, dass die Gefahr der Dominanz einer Grossmacht über
ganz Europa endgültig gebannt sein sollte, also keine napoleonische
Hegemonie oder kein Übergewicht des neu ernannten deutschen Kaisers.
Nach allem, was wir wissen, war der Plan des nach Deutschland und in
eine gesamteuropäische Internationalität ausgewanderten Zürchers
eines der ersten Konzepte, wie sich ein Vereinigtes Europa im letzten
Viertel des 19. Jahrhunderts organisieren liesse. Das Erlebnis der Verwandlung
des alten Staatenbundes der schweizerischen Kantone zum Bundesstaat von
1848, das in Bern funktionierende Zweikammersystem des eidgenössischen
Stände- und Nationalrates, die Ausscheidung der Kompetenzen zwischen
Bundesorganen und den souveränen Kantonen, sogar Namensbildungen
wie „Bundesrat“ oder „Bundeskanzlei“ spielten
bei Bluntschli mit, aber prägten seinen Entwurf nicht entscheidend.
Anders als in der Schweiz von 1848 formulierte er den Unterschied zwischen
Grossmächten und den übrigen Staaten; klarsichtig begriff er,
dass eine supranationale Organisation dieses Europas nach amerikanischem
Muster ohne die Republikanisierung von Deutschland, Österreich und
Italien gar nicht möglich wäre, und dass die Fülle der
ganz realen Aufgaben in den sogenannten „kleinen Angelegenheiten“ lag,
die er noch nicht, wie 100 Jahre später, als in erster Linie wirtschaftlichen
Charakters zu bezeichnen wagte.
Dass die Kabinette in Paris, Berlin, London, Wien, Turin oder St. Petersburg
vom Entwurf Bluntschlis ernsthaft Notiz nehmen würden, war nicht
zu erwarten. Auch der Schweiz hatte er sich schon seit längerer
Zeit entfremdet. Die Ehre bleibt ihm, dass er als einer der ersten unter
modernen Vorzeichen ein geeintes Europa entwarf, das nicht einmal 100
Jahre später unbewusst einzelne seiner Hinweise beherzigte.
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