Wortlager / Markus Kutter
 
     

       

1. "In der Geschichte wird die Schweiz das Schlusswort haben."

 

Victor Hugo (1802-1885) schrieb 1859: „La Suisse dans l’histoire aura le dernier mot.“ Er schrieb das zu einem Zeitpunkt, da er als 57jähriger Mann und Mitglied der Académie Française schon weit über die Grenzen Frankreichs hinaus bekannt geworden war, sich als glühender Verteidiger einer republikanischen Freiheit mit Napoleon III überworfen hatte und als romantischer Dichterfürst mit stattlichem Vermögen dem Gesellschaftsleben in Paris aus dem Wege ging. Das Zitat stammt aus einem umfangreichen Poesiewerk, das sich „La légende des siècles“ nennt und unter dem Kapitel XXXI und den Stichworten „Siebzehntes Jahrhundert“ und „Die Söldner“ ein gereimtes Gedicht mit dem Titel „Le régiment du baron Madruce“ bringt, das mit der kaiserlichen Schweizergarde in Wien sich zu befassen vorgibt.

Im Gedicht finden sich viele Verse, die der Schweiz gelten. Victor Hugo, so macht es den Anschein, betrachtete sich als eifrigen Freund der Schweiz. Es gebe in einer Welt, in der das Ehrgefühl immer eindeutiger auf die Seite der Niedrigkeit rutsche, nur noch ein freies Volk, eines aus den Bergen, eben die Schweiz; alle anderen seien Galeerenknechte bleicher Könige geworden. Oder: Unter den Nationen im Finstern habe die Schweiz als erste ihre Lampe angezündet. Oder: „L’Helvétie est sacrée, et la Suisse est vivante.“ Oder: „Schweiz! Wenn sich endlich Europa aus eigenen Kräften selber auf den Weg macht, wirst du, strenge Ahnfrau, die junge Menschheit unter ihrem blumengeschmückten Hut auf dich zueilen sehen.“ Dennoch war Hugos Gedicht keine Verherrlichung der Schweiz, im Gegenteil.

Man muss es sich in dieser „Jahrhunderten-Legende“ zuerst ein wenig heimisch machen, um das voluminöse Stück Poesie zu begreifen. Victor Hugo dichtete historische Stoffe, aber ging mit ihnen ungeduldig und romantisch ungenau um. Er sagte es selber: Geschichte soll mehr eine Legende als ein Tatsachenbericht sein. Die Tatsachen holte er sich aus dem „Grand Dictionnaire“ von Louis Moreri von 1683, einem mit poetischen Anekdoten und bizarren Namen vollgestopften Werk. Der Baron de Madruce, der im Titel dieser 31. Legende erscheint, war kein Schweizer, sondern wahrscheinlich ein tirolischer Edelmann des 16. Jahrhunderts und befehligte überhaupt keine Schweizer am Wiener Kaiserhof. Fast alles in diesem Gedicht ist von Hugo erfunden und wahllos zusammengestoppelt.

Das eigentliche Thema des Textes ist die doppelte und zwiespältige Natur der Schweizer in fremden Kriegsdiensten. Sie sind von ihren Dienstherren begehrt, weil das Wort Freiheit bei ihnen noch einen natürlichen Klang bewahrt hat und weil sie „gut, liebevoll, einfach und weise“ leben. Jetzt aber lassen sie sich dazu missbrauchen, freie Völker im Auftrag ihrer Dienstherren zu unterdrücken. Zwei Adler treten im Gedicht auf: der eine der in vollkommener Freiheit lebende Bergadler, Symbol der alten Schweiz; der andere der doppelköpfige habsburgische Reichsadler, Verkörperung der politischen Macht, die sich Schweizer als Söldner kauft und dienstbar macht.

Victor Hugo war 1825 zum ersten Mal in der Schweiz, kam für wenige Tage kaum über die Genfer Region hinaus. Es war die Zeit, da in Luzern das Projekt des Löwendenkmals (in Erinnerung an die Schweiezr Garde von 1792) zu heftigen Kontroversen führte und die Behörden von Luzern 1824 einer Kapitulation zustimmten, laut der die Bourbonen in Neapel Luzerner Truppenkontingente anwerben konnten. Diese mussten 1849 die bourbonische Monarchie unter schweren Verlusten vor der revolutionären Bewegung in Neapel schützen.

Das zweite Mal und für längere Zeit war Victor Hugo 1839 in der Schweiz, reiste, vom Rheinland kommend, über Basel ein und besuchte von Schaffhausen bis Genf während eines Monats ganz verschiedene Örtlichkeiten. In Zürich weckten ihn morgens vier Uhr Trompetenstösse und der Marschrhythmus militärischer Formationen – der berühmte Züriputsch fand statt, die demokratisch-konservative Gegenbewegung gegen den Liberalismus, die zur Abdankung der bisherigen Regierung führte. Wir haben kein Zeugnis darüber, ob Victor Hugo begriff, was sich da unter seinen Augen abspielte. Wahrscheinlich blieb er ahnungslos, besuchte dann den Rheinfall, bestieg die Rigi, betrachtete in Luzern den sterbenden Löwen aus Stein, bewunderte das Schloss Chillon und wandelte auf den Spuren Lord Byrons.

Nach 1830 hatten sich Schweizertruppen in Frankreich für Charles X geschlagen. Als die Behörden sie nach der Julirevolution heimriefen, gründete der Bürgerkönig Louis Philippe im März 1831 die Fremdenlegion, deren erster Chef ein Oberst Stoffel aus Arbon war und deren meiste Soldaten aus der Schweiz kamen. In Neapel dienten zur gleichen Zeit vier schweizerische Linienregimenter, ein Jägerbataillon und eine Batterie. Im Revolutionsjahr 1848 erlitten die Schweizer erhebliche Verluste, ein Jahr darauf kämpften sie in Sizilien. Die Revolte von 1859 führte zur Entlassung dieser Schweizer Truppe; die beiden Kammern des neuen Bundesstaates untersagten ab sofort fremde Dienste. Das hiess in erster Linie, dass kapitulierte, also mit der Bewilligung der Kantonsregierung angeworbene Truppen jetzt nicht mehr möglich waren; privat hingegen liessen sich noch immer Schweizer als Söldner anwerben und kämpften zum Beispiel 1860 zu Hunderten gegen die Garibaldiner in Italien. Und nach wie vor hatte der Papst Schweizer in seinen Diensten und setzte sie auch ein, meistens zur Unterdrückung revolutionärer Unruhen. Daneben gab es zur Zeit, da Victor Hugo sein Gedicht schrieb, noch immer Schweizer in englischen, preussischen, niederländischen und belgischen Diensten.

Es waren solche Söldner, die im Gedicht von Victor Hugo in der österreichischen Kaisergarde des 17. Jahrhunderts auftraten. Die Städte- und Eigennamen, die Hugo – häufig nur um des Reimes willen – zitierte, entsprangen mehrheitlich ebenfalls seiner Gegenwart, den revolutionären Unruhen von 1848 in Ungarn, Österreich, Italien, und sie hatten mit einer Schweizer Garde aus dem 17. Jahrhundert überhaupt nichts zu tun. Sie waren nur gut genug, um die These zu bereichern, dass die einstigen Schweizer senkrechte und redliche Freunde der Freiheit gewesen seien, nur dass sie sich jetzt von Fürsten zur Unterdrückung des Volkes missbrauchen liessen. Wie ernst es Victor Hugo mit dem Lob der alten Schweizer meinte, stand nicht immer fest; einzelne Verse lasen sich fast ironisch – wenn es zum Beispiel hiess: „La Suisse trait sa vache et vit paisiblement.“

Mit der Behauptung, dass die Schweiz in der Geschichte das letzte Wort haben würde, meinte Hugo nicht, dass das politische System, das die Schweiz in der Mitte des 19. Jahrhunderts eingerichtet hatte, zu einem Modell für die europäische Staatengemeinschaft werden könnte. Die drei Wochen, die er im September 1839 in der Schweiz verbracht hatte, zeigten ihm ja noch den alten kantonalen Staatenbund, dessen politische Mechanismen schon für die Lösung der anstehenden schweizerischen Probleme untauglich zu werden drohten. Die zwanzig Jahre, die ihn 1859 bei der Niederschrift seines Gedichtes vom letzten Besuch in der Schweizer trennten, hatten in der Folge der 48er Revolution soviel internationale politische Stürme gesehen, dass er sie bei seiner romantischen Legendenfabrikation fast zwangsweise verwerten wollte. Und nicht zu vergessen: Die Schweiz, jetzt ein wohlgeordneter und erfolgreicher Bundesstaat, hatte für den romantischen Touristen noch immer den Glanz eines sowohl archaisch unschuldigen wie militärisch kompetenten Landes.

Zehn Jahre später kam Victor Hugo noch einmal für vier Tage in die Schweiz. Anlass war der Friedenskongress von 1869 in Lausanne, der den berühmten Dichterfürsten eingeladen hatte. Am 14. September eröffnete er, nachdem die Teilnehmer ihn durch Akklamation zum Präsidenten gewählt hatten, die Sitzung und schloss sie am 18. September mit einer grossen Rede. In ihr erklärte er sich zum Bürger der Vereinigten Staaten von Europa und der Welt. Im einzelnen führte er aus: „Wenden wir uns der Zukunft zu. Denken wir an die sicheren, ja geradezu unvermeidlichen, an die bevorstehenden Tage, da ganz Europa vielleicht konstituiert sein wird wie dieses noble Schweizer Volk, das uns zu dieser Stunde empfängt. Dieses kleine Volk hat seine Grösse, es hat ein Vaterland, das sich Republik nennt, und es hat ein Gebirge, das Jungfrau heisst. Machen wir aus der Republik unsere feste Burg, und unsere unbefleckte und unbeeinträchtigte Freiheit möge wie die Jungfrau ein jungfräulicher und lichtvoller Gipfel sein.“

Was „das letzte Worte der Schweiz in der Geschichte“ nach der Vorstellung von Victor Hugo eigentlich meinte, lässt sich verbindlich nicht sagen. Es auf ihren demokratischen Föderalismus und ihre Bundesstaatlichkeit zu beziehen, ist möglich, aber nicht zwingend. Dem Gegenspieler von Napoleon III gefiel auf jeden Fall ihr freiheitlicher Republikanismus; dem Pazifisten Hugo – man lese seine grosse Rede vom 22. August 1849, die er als Präsident eines Weltfriedenskongresses in Paris hielt – imponierte es, dass sich in der Schweiz verschiedene Sprachen, Kulturen, kantonale Kleinstaaten mit ihren Völkern friedlich zusammengefunden hatten. Als ein Modell für die Konstituierung Europas wurde die Schweiz zwar zitiert, aber der romantische Victor Hugo sagte nicht, wie dieses Modell verbindlich umgesetzt werden sollte.

 
© 2004 Markus KutterNach Oben