Das ist die Geschichte einer Frau, zugleich die Geschichte eines Traums, einer
Beharrlichkeit über alle Zweifel und Widerstände hinweg.
Es ist eine Geschichte von Reichtum, Naturbewahrung und Naturzerstörung,
eine Geschichte zudem, in die drei grosse Kriege unbarmherzig eingreifen
und die grosse Politik individuelle Schicksale zur Seite schiebt.
Es ist eine elsässische Geschichte, somit eine französische und deutsche,
am Rand gelegentlich schweizerische Geschichte. Sie spielt auf einem
Territorium nordwestlich von Mülhausen bis gegen Cernay, Ungersheim,
Meyenheim, eine halbe Autostunde von Basel entfernt. Es ist eine Geschichte,
die zeigt, was die Entschiedenheit einzelner Menschen vermag, aber
zugleich wie deren Vorhaben Kräfte wachrufen, denen sie sich schliesslich
beugen müssen.
Es ist eine Geschichte von Reich und Arm: von den wenigen, die handeln können
und selber entscheiden, und von den vielen, die – um ihr Leben zu fristen – keine
andre Wahl haben. Es ist eine Geschichte an der Bruchstelle zwischen
einer von den Vorvätern übernommenen Landwirtschaft und einer
bergmännischen Industrie, die plötzlich über die Leute
hereinbricht und die Gesellschaft nicht weniger als ganze Landschaften
verändert. Technik, Wissenschaft, staatliche Büros, Eisenbahnen,
Kanäle, Kapital und Militär spielen mit; die Kräfte,
die daneben Verständnis und Rücksicht suchen, Hilfe anbieten
und das Gute wollen, geraten mehr als einmal unter die Räder.
Diese Geschichte begann vor rund 100 Jahren, jetzt neigt sie sich ihrem Ende
zu und sucht den Ausgang in einer abermaligen Veränderung aller
Gegebenheiten. Die Menschen, die sie einst in Bewegung setzten, entschwinden
ins Vergessen, werden langsam namenlos, obschon Häuser und ganze
Dörfer, umgestaltete Landschaften und industrielle Bauen noch
immer ihr Wirken bezeugen.
Das
Elsass
Das Elsass. Von den Höhen des Schwarzwaldes ein flaches Tal, ausgeleert
von Basel bis Strassburg, im Hintergrund abgegrenzt von den in blauem
Dunst stehenden Vogesen. An ihrem Fuss haben sich die Weindörfer
eingenistet, eines nach dem andern. Wer aus Frankreich kommt, steigt
erst durch karge Täler hinauf, die auf der andern Seite des Kamms
plötzlich lieblich werden. Als hätte eine unsichtbare Hand
Fruchtbarkeit und Anmut ungleich verteilt. Die ganze Nordwestschweiz
der Region Basel kann als eine Treppe vom Jura hinunter zum Rhein verstanden
werden. Oberhalb von Basel liegen am Hochrhein die sogenannten Waldstädte,
hinter denen der Schwarzwald seinem Namen Ehre macht. In Basel wendet
sich der Strom, nachdem er die Wasser aus dem Jura und dem Schwarzwald
aufgenommen hat, resolut nach Norden. Die Bäche des Sundgaus,
der sich bis hin zu den Vogesen sanft auswellt, zieht die Ill an sich,
die sich erst in der Nähe von Strassburg zur Vereinigung mit dem
Rhein entschliesst.
Das Elsass. Unmittelbar nach Basel, nachdem auch die Wiese, „des Feldbergs
liebliche Tochter”, sich mit dem Rhein vermählt hat, beginnt die
Landschaft anders zu sprechen. Die Grammatik ist anders, das Vokabular,
der Tonfall. Oberhalb von Basel windet sich der Rhein der tiefsten
Kerbe entlang; unmittelbar nach Basel öffnen sich die Vogesen
links und die Höhen des Schwarzwaldes rechts wie zwei Arme, die
vergeblich eine nach Norden auslaufende Ebene zu umfassen versuchen.
Die Dörfer auf beiden Seiten scheinen unsicher, ob sie sich vorsichtig
bis an den Fluss vorschieben oder umgekehrt an die fruchtbaren Gebirgsterrassen
zurückziehen wollen.
Das Elsass liegt links vom Rhein, das ihm gegenüberliegende Ufer hat keinen
einheitlichen Namen, heisst bald Markgrafschaft, Breisgau, Kaiserstuhl.
Spuren der Geschichte. Und was war vorher? Im Pliozän lag möglicherweise
die Wasserscheide zwischen einem Nordrhein und einem dem Rhone-System
zugeordneten Rhein beim Kaiserstuhl. Jetzt hat sich diese Wasserscheide
südwestlich ins Gebiet der burgundischen Pforte verschoben. Vogesen
und Schwarzwald gehörten einst zur gleichen Formation, in der
sich die Schichten des Erdmittelalters nahezu ungestört ablagern
konnten. Dann begann die Absenkung des Beckens, und zum Ausgleich wurden
die Höhenzonen am Rand verstärkt abgetragen. Riesige Gesteinsmassen
rutschten nach. Im Oligozän brach von Süden das Meer in diesen
Graben ein, schwemmte Tone und Sande mit sich. Als das Klima trockener
wurde, bildeten sich Lagunen und Sümpfe, das Wasser verdunstete,
die Salze blieben zurück.
Nun lag er abgesackt und eingebrochen da, der oberrheinische Graben. Die Schmelzwasser
aus den Alpen, den Vogesen und dem Schwarzwald transportierten Schotter
heran. Zwei verschiedene Gewalten trafen aufeinander: Das Geschiebe,
das der Rhein heranführte, und die Schotter, die aus den Vogesen
und dem Schwarzwald stammten. Geologisch gesagt: Die Sedimentfracht
des Rheins unterbrach den Abfluss der seitlichen Gewässer zum
Rhein als Vorfluter. Somit bildeten sich links und rechts der Rheinebene
Terrassen, an die auch die grössten Hochwasser nicht mehr heranreichten.
Aber im Tal hatte der Rhein freies Spiel. Zum einen brachte er Geröll
und lehmartige Partikel mit sich, füllte also die Ebene weiter
an. Zum andern suchte er sich in diesem System von Ablagerungen immer
wieder neue Abkürzungen, Umwege, Durchbrüche. Wasser strebt
ja stets zum tiefsten Punkt, und wenn es sich selber mit dem eigenen
Geschiebe ein zu hohes Bett geschaffen hat, erzwingt es einen Ausbruch.
Der Wind machte mit in diesem Spiel – vor Jahrmillionen. Kaltzeitliche Auswehungen
aus den Rheinschottern, so sagen es die Geologen, wehten feinstes Sedimentmaterial
mit den jahreszeitlichen Abschmelzvorgängen von Gletschern an
natürlichen Hindernissen ab, so entstand Löss, feinster Lehm.
Noch heute sind die Böden der oberrheinischen Tiefebene extrem
unterschiedlich: dünne Humusschichten, mit Sand durchsetzt, auf
einem Untergrund von Schotter, bräunliche oder braunschwarze ehemalige
Sumpfwiesen, gelbe oder sogar blaue Lehmerde, dazwischen plötzlich
mit Felsbrocken oder Rheinkieseln durchsetzte angeschwemmte Böden.
Wer auf der oberrheinischen Tiefebene Landwirtschaft betreiben will, muss schon
wissen, mit welcher Art Boden er es zu tun hat.
Der Rhein von heute ist nicht der Rhein, den die Menschen von keltischen Zeiten
bis in das 18. Jahrhundert kannten. Der gerade Lauf, der jetzt die
Grenze zwischen Frankreich und Deutschland markiert, ist Menschenwerk
aus dem 19. Jahrhundert. Zwischen 1817 und 1876 wurde der Rhein zwischen
Mannheim und Basel um nicht weniger als 81 km verkürzt. Er wurde
schneller und tiefer. Im 20. Jahrhundert, nach dem Ersten Weltkrieg,
entstand auf der französischen Seite der Kanal mit Schleusen für
die Rheinschifffahrt und vielen Staustufen für Kraftwerke. Von
diesen beiden Eingriffen, die die Grundwasserströme beeinflussten,
war der Rhein weniger ein Fluss als ein Flussgeflecht mit Inseln, verlandeten
Nebenarmen, Sandbänken und Auenwäldern – ein ganzes System,
das seine Gestalt auch dramatisch ändern konnte. Breisach, zu
spätrömischer Zeit am Kaiserstuhl ein militärischer
Festungsbau, lag vermutlich im frühen Mittelalter links vom Rhein,
wenn es nicht sogar eine Insel darstellte. Es hat also seine geschichtliche
Logik, dass es nach dem Dreissigjährigen Krieg zeitweise zur Hauptstadt
des damals schon französischen Elsasses erklärt wurde.
Aber was hat diese alles mit Amélie Zürcher zu tun und mit
ihrem Schatz unter dem Boden?
Sicher lebten einst Kelten im Elsass und gegenüber, zu den Füssen
des heutigen Schwarzwaldes. Aber dieser Wald stand nicht isoliert da,
er bedeckte die Ebene zu grossen Teilen. Wald hiess Hard oder Hart;
die letzten Hardwälder von heute sind seine Nachkommen. Schaut
man sich die keltischen Fundstellen am Oberrhein an, erkennt man eine
auf beiden Seiten des Rheins und über das heutige Basel hinausgehende
gemeinsame Kultur. Das Rheingeflecht war beidseitige Übergangs-
und Austauschzone, nicht Grenze. Es hatte zahlreiche Furten, auf denen
es sich überqueren liess.
Dann aber, rund 50 Jahre vor dem Beginn unserer Zeitrechnung, stiessen hier
die beiden grössten Mächte der damaligen Zeit aufeinander,
die Germanen und Rom. Die Germanen drängten über den Rhein,
machten sich die keltischen Völker tributpflichtig. Dem römischen
Gallien, das sich von der Rhone bis zu den Pyrenäen erstreckte,
drohte Gefahr an der nördlichen Flanke, schon hatten die helvetischen
Kelten unter dem Druck der Germanen den Auszug geprobt. Zwischen Mülhausen
und Colmar treffen sich der römische Statthalter Julius Caesar
und der Germanenkönig Ariovist zu einer politischen Verhandlung.
Sie einigen sich nicht, die Waffen müssen entscheiden. Der Sieg
fällt den Legionen zu.
Wieder: was hat das mit Amélie Zürcher zu tun? Verbürgt ist
es nicht, aber manches deutet darauf hin, dass dieser Kampf auf dem
Boden ihres Gutes (oder in nächster Nähe) stattfand, auf
einem Feld, das später den Namen Ochsenfeld bekam. Damals wurde
der Rhein zur römischen Grenze, dann zur Ausgangsbasis für
die römischen Vorstösse bis an die Elbe, dann zwei Jahrhunderte
später zur Verteidigungslinie gegen die nachdrängenden Germanen.
Mit den Römern kamen der Anbau besserer Getreidearten, Gemüsezucht
und Obstveredlung, vor allem etablierte sich der Weinbau an den Berghängen.
Schon Caesar pries die sequanische Erde, gemeint ist das von den Sequanern
bewohnte Elsass, als die beste von ganz Gallien. Die Gutsherrin Amélie
Zürcher erntete nach der Sanierung ihres Gutsbetriebes 120 Wagen
Heut, die Roggenhalme hatten eine durchschnittliche Länge von
2,30 Meter, einzelne Zuckerrüben wogen 22 Pfund. Ihr Verwalter
schrieb: „Wir hatten soviele Kirschbäume auf dieser Erde, die
man für unfruchtbar hielt, dass wir zur Zeit der Ernte zwei bis
drei Tage brauchten, nur um sie zu versteigern.”
Im frühen Mittelalter standen sich nicht mehr Römer, das heisst romanisierte
Kelten, und Germanen gegenüber, sondern auf dem rechten Ufer Alemannen
und auf dem linken Ufer Franken. Man glaubt, dass die Dorfnamen, die
auf -ingen enden, alemannischen Ursprungs sind, und die Dörfer,
die auf -heim enden, von den Franken gegründet wurden. Und wenn
man dann auf der Karte nachschaut, wird der Rhein wieder als Übergangszone
dieser Stämme sichtbar, weil Dorfnamen mit -ingen und -heim auf
beiden Seiten des Rheins zu finden sind.
Karl der Grosse liebte den Oberrhein, unter seinen Nachfolgern kam er zum mittleren
Reich Lothars, der Name Lothringen zeugt noch heute davon. Der Oberrhein
war eine Wiege königlicher Geschlechter, hier wurden die Zähringer
gross, und aus dem Elsass stammen ursprünglich die Habsburger,
die erst nachher über die Aare-Gegend und die vorderösterreichischen
Lande bis nach Wien und Böhmen gelangten.
Die Stauferkaiser waren den oberrheinischen Städten freundlich gesinnt,
erteilten ihnen zahlreiche Privilegien. Der Oberrhein, mit ihm auch
das Elsass, gehörte zum Reich, aber als Grenzland. Im Süden
sassen die Eidgenossen, die sich nach 1499 vom Reich zu lösen
begannen, Basel wurde zwei Jahre später eidgenössisch; im
Südwesten lauerten die Burgunder. Katharina von Burgund hatte
im 15. Jahrhundert den österreichischen Erzherzog Leopold geheiratet,
liess sich als Wittum die Herrschaft über die Landgrafschaft des
Elsasses verschreiben und übte sie nach dem Tod ihres Gatten auch
aus. Für die Elsässer war sie die Dame von Österreich,
für die Österreicher die Dame von Burgund. Mit der Erschlagung
Karls des Kühnen durch die Eidgenossen welkten die burgundischen
Träume dahin, doch aus der Verbindung Marias von Burgund mit Maximilian
von Österreich entstand das Weltreich Karls V., eine Bedrohung
für die französische Krone.
Der Oberrhein, in einem weiteren Sinn bis nach Lothringen und in die Freigrafschaft
Burgund verstanden, blieb Grenzzone, in der sich die grossen europäischen
Mächte in kleinen und kleinsten Herrschaften ineinander verzahnten.
Zu einem eigenen Fürstentum konnte er nicht werden, auch wenn
Bernhard von Sachsen-Weimar im Dreissigjährigen Krieg davon träumte.
Die Geheimverträge, die dieser deutsche Fürst auf der protestantischen
Seite mit Richelieu schloss, von dem er zur Ausrüstung seiner
Truppen gewaltige Summen erhielt, bildeten dann die Grundlage, auf
der Frankreich zur Zeit Ludwigs XIV. das Elsass beanspruchte und seine
Reunion, die eher eine Union war, diplomatisch und militärisch
durchsetzte. Das Strassburg, in dem Goethe studierte, war eine französische
Stadt, auch wenn die meisten Leute deutsch sprachen. Die ersten Kanäle,
die auf der elsässischen Seite in der Rheinebene gegraben wurden,
entstanden aus den Notwendigkeiten des französischen Festungsbaus.
Aushubmaterial musste weg-, Steine mussten antransportiert werden.
Die (heute kaum mehr sichtbare) Befestigung von Hüningen und das
als wehrhafte Stadt noch weitgehend erhaltene Neuf-Brislach wurden
nach den Plänen Vaubans gebaut. Die Bevölkerung des Elsasses
war durch den Dreissigjährigen Krieg entsetzlich dezimiert worden,
nun lockte dieses in der Fruchtbarkeit einzigartige Land wieder als
Einwanderungsland, in das auch zahlreiche Schweizer, oft Untertanen
französischer Zunge aus der von Bern beherrschten Westschweiz,
strömten.
Dass die Französische Revolution im Elsass zum Teil sehr heftige Formen
annahm, kann auch so verstanden werden, dass die Elsässer gegen
noch aus dem alten Reich stammende Herrschaftsverhältnisse aufbegehrten.
Die Marseillaise wurde erstmals in Strassburg gesungen; die meisten
Freiwilligen für die Armée du Rhin kamen von dort. Sowohl
die Jakobiner in Süddeutschland als auch die helvetischen Patrioten
in der Schweiz richteten ihre Blicke auf das revolutionäre Elsass.
Als aus der französischen Republik zuerst ein Konsulat und dann
ein Kaiserreich wurde, hielt Napoleon immer grosse Stücke auf
seine aus dem Elsass stammenden Generäle.
Aber es verstellt ein wenig den Blick auf die tatsächlichen Verhältnisse,
wenn man in der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert die Leute am Oberrhein
in erster Linie unter nationalstaatlichen Kriterien sehen will. Es
gab wohl das jetzt napoleonisch gewordene Frankreich, aber es gab noch
kein politisch geeintes Deutschland und nur eine im helvetischen Staatsentwurf
scheiternde Schweiz. Für das Elsass viel wichtiger wurden die
Wandlungen gesellschaftlicher und sozialer Natur. Es war seit Menschengedenken
immer ein Bauernland gewesen, wenn man unter dem Begriff des Bauern
auch die Wein- und Obstbauern, die Viehzüchter und Tabak-, später
die Hopfenpflanzer versteht, es war eine Kornkammer für die umliegenden
Gebiete. Wenn Fruchtsperren verhängt wurden, also Ausfuhrverbote
für Getreide, merkten das die Basler sofort. In den Städten
und Städtlein aber entwickelten sich erstaunliche gewerbliche
Kenntnisse wie der Stoffdruck, in den Tälern der Vogesen wurden
Silber und Eisen abgebaut. Der Buchdruck, der die Wende vom Mittelalter
zur Neuzeit signalisiert, wurde durch Gutenberg vielleicht zum ersten
Mal in Strassburg ausprobiert, einzelne Basler Konzilsherren hatten
schon um 1440 von der nova ars scribendi, der neuen Kunst zu schreiben,
gehört.
Wie in England und später in der Schweiz ist auch im Elsass die Textilindustrie
die Mutter der weiteren Industrialisierung. Denn sie führt fast
zwangsweise in andere industrielle Bereiche. Spinnmaschinen und Webstühle
müssen repariert werden, der gute Mechaniker bringt eigene Verbesserungen
an und wird zum Konstrukteur; Textilfasern müssen gebleicht, gefärbt
und appretiert werden. So lockt sozusagen die Textilindustrie den Maschinenbau
und die Chemie hervor. Das revolutionäre und napoleonische Frankreich
war selbstbewusst genug, die Konkurrenz zu England bestehen zu wollen.
Den nächsten Entwicklungsschub brachte der Eisenbahnbau, der am
Oberrhein um 1840 zu einem merkwürdigen Rennen zwischen den Linien
Strassburg-Colmar-Mülhausen-Basel und Mannheim-Karlsruhe-Freiburg-Basel
führte. Auf französischer Seite entstanden die Chemins de
fer d'Alsace-Lorraine, auf der gegenüberliegenden Seite wurde – auf
breiterer Spurweite – die erste staatliche Eisenbahn, die Badische
Staatsbahn, gebaut. Die Basler erhielten, zur eigenen Verwunderung,
gleich zwei vom Ausland her bediente Bahnhöfe. In Mülhausen
begann man mit dem Bau von Lokomotiven – schon die Zeitgenossen hatten
den Eindruck, dass Mülhausen so etwas wie das französische
Manchester würde.
Die Eisenbahnen, die im Elsass mit der Versuchslinie Thann-Mülhausen begonnen
hatten (und nach 1871 in der Zeit der deutschen Annexion aus militärischen
Gründen gewaltig ausgebaut wurden), brachten aber nicht nur neue
industrielle Möglichkeiten, sondern veränderten auch den
Aufbau und die Struktur der Bevölkerung: Weil das ganze Gebiet
verkehrsmässig so gut erschlossen wurde, konnte die ursprünglich
landwirtschaftliche Bevölkerung vom eigenen Wohnort aus in der
Fabrik arbeiten, sei es im Nachbardorf oder in einer grösseren
Stadt, und nebenbei die eigene Landwirtschaft weiter betreiben. Die
Bildung von Grossstädten unterblieb, der elsässische Arbeiter
behielt seinen Garten, Acker oder Rebberg. Ein eigentliches Proletariat,
das auch politisch ins Gewicht gefallen wäre, bildete sich nicht
oder nur ansatzweise.
Zu Beginn der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, sehen wir im Elsass
ein aus der vorrevolutionären Zeit stammendes Bürgertum,
oft in Dörfern oder Kleinstädten angesiedelt, unternehmerisch
gesinnt und zum Teil noch von napoleonischem Selbstbewusstsein erfüllt,
daneben eine langsam heranwachsende Arbeiterschaft von bescheidener
Qualifikation mit Frauen und Kindern im Textilbereich, von höherer
Qualifikation in der metallverarbeitenden Industrie, häufig technisch
begabt. Metallgewinnung und Bergbau jedoch waren im Rücklauf,
die grosse Mehrheit der elsässischen Bevölkerung lebte noch
immer von der Landwirtschaft, ein mächtig anziehendes Erzeugnis
war gerade um diese Zeit der Hopfen, dessen Anbau mit der Gründung
grosser Brauereien in der Strassburger Region zusammenfiel.
In dieser Welt wurde Amélie Zürcher hineingeboren.
Die
Tochter erbt ein Gut
Die meisten Nachrichten über Amélie Zürcher stammen von Eugène
J. Bertrand, der 1987, herausgegeben von der Maison du Mineur
et de la Potasse, eine illustrierte Broschüre über
diese Dame veröffentlichte. Er nahm sich die Mühe, möglichst
viele der noch lebenden Leute, die Amélie Zürcher selber
begegnet waren, zu befragen, Druckdokumente und Bilder zu sammeln,
studierte die Archive der Kali-Bergwerke.
Die Familie Zürcher lässt sich zurückführen auf einen Heinrich
von Zürich, der 1360 in Mülhausen nachweisbar ist. Vermutlich
war es ein Auswanderer, angelockt von der Fruchtbarkeit dieses Landes,
das mit dem noch nicht eidgenössischen Basel und weiteren eidgenössischen
Orten in Verbindung stand. Der Urgrossvater Amélies, Jean-Jacques
Zürcher (1751-1839), gründete 1785 eine Textilmanufaktur
in Cernay, die sein Sohn gleichen Namens (1783-1850) weiterführte.
Dessen Sohn Théodore (1817-1889) besass und leitete eine
Textilfabrik in Bollwiller und bewohnte das dortige Schloss. In ihm
kam Amélie am 27. August 1858 zur Welt als viertes Kind
nach drei Brüdern.
Das Elsass war schon seit 200 Jahren französisches Land, der Rhein war
seit den Revolutionskriegen unbestrittene Grenze, auch Zollgrenze,
zu Deutschland. Das einst als zugewandter Ort eidgenössische Mülhausen
war seit 60 Jahren Teil der Republik. Nur war diese Republik, für
die einst die Freiwilligen aus Strassburg gegen den deutschen Kaiser
in Wien angetreten waren, längst wieder zur Monarchie geworden.
1848 war nach dem Sturz des Bürgerkönigs Louis Philippe zwar
die Zweite Republik ausgerufen worden. Aber nachdem sie Louis Napoléon
Bonaparte zu ihrem Präsidenten gewählt hatte, stürzte
oder glitt sie in weniger als vier Jahren in das Zweite Kaiserreich,
das Louis Napoléons Staatsreich vom 2. Dezember 1852 besiegelte.
Die grossen europäischen Staaten – England, Frankreich, Österreich,
Preussen – beginnen sich wirtschaftlich zu messen. 1855 findet in Paris
eine erste Weltausstellung statt. Frankreich setzt alles in Bewegung,
um den industriellen Vorsprung Englands aufzuholen, es verdoppelt zwischen
1852 und 1870 die industrielle Produktion, verdreifacht das Handelsvolumen.
Die grossen europäischen Mächte stehen nicht nur auf dem
Kontinent im Wettstreit, sie gründen auch Kolonialreiche. Algerien
wird unter französischen Siedlern zur Kornkammer Frankreichs,
der Senegal, der Golf von Guinea, die afrikanische Ostküste und
Indochina werden französische Kolonien. Der Bau des Suezkanals
1859 durch eine französische Gesellschaft zeigt eine neue Dimension
des politischen Herrschaftswillens.
Wir wissen wenig von der eigentlichen Jugendzeit Amélie Zürchers
im Schloss Bollwiller. Sie ging im Dorf selber zur Schule. Als sie
noch nicht ganz zwölf Jahre alt war, brach der deutsch-französische
Krieg aus. Am 1. September 1870 geriet Napoleon III. nach der Niederlage
bei Sedan in deutsche Kriegsgefangenschaft, am 4. September wurde in
Paris die Dritte Republik ausgerufen.
Die Eltern Amélies, von Herzen französisch gesinnt, wollten sie
in Sicherheit wissen, schickten sie nach Nancy in ein Pensionat der
Dominikanerinnen. Amélie blieb dort bis 1877, also bis zu ihrem
19. Lebensjahr. Erhalten geblieben sind ihre Zeugnisse, das heisst
die kleinen Dokumente ihrer Schulpreise. Sie galt als intelligent,
begabt, fleissig, als gute Schülerin in Geschichte, Geographie,
Literatur; wir wissen auch, dass sie Französisch, Deutsch und
Englisch beherrschte. Jahr für Jahr sammelte sie erste oder zweite
Preise ein und wurde mit Buchgeschenken ausgezeichnet. Nicht weniger
glänzte sie in Handarbeiten.
Der schon zitierte Eugène J. Bertrand weiss zu berichten, dass
Amélie im Pensionat durch ihren gesunden Menschenverstand und
ihre persönliche Hygiene auffiel. Sie stand schon um 5 Uhr auf,
turnte während einer Stunde. Nach der Toilette wollte sie sich
nicht abtrocknen, sondern bewegte sich so lange, bis der Körper
von selber trocken war. Ihre Gesundheit war immer ausgezeichnet, ihre
Wangen waren Zeit ihres Lebens von natürlicher Röte, eine
Brille musste sie erst im fortgeschrittenen Alter zu Lesezwecken tragen.
Nur die Bronchien waren schwach, wiederholt begab sie sich deshalb
für ein Kur ins Massif Central.
Unter den Industriellen der damaligen Zeit war es nicht nur Sitte, sondern
erbtechnische Voraussicht, vor allem bei mehreren Kindern, das Vermögen
ausserhalb des Fabrikbetriebes auch in landwirtschaftlichen Gütern
anzulegen. Der Vater Amélies, Théodore Zürcher,
besass nicht nur die Textilfabrik in Bollwiller, in der 350 Leute beschäftigt
waren, sondern kaufte von seinem unverheirateten Bruder Alphonse (1809-1901)
den sogenannten Lützelhof auf dem Ochsenfeld, ein landwirtschaftliches
Gut in der Grössenordnung von 65 Hektaren.
Schon 1871 aber war, nach dem Zusammenbruch des Zweiten Kaiserreiches in Frankreich,
das Elsass wieder deutsch geworden, Reichsland unter kaiserlicher – und
das hiess – preussischer Verwaltung. Denn während Frankreich abermals
zu einer Republik geworden war, zur Dritten, kannte Deutschland neben
dem Kaiser in Wien nach dem Willen Bismarcks auch einen Deutschen Kaiser,
dem die übrigen deutschen Fürsten huldigten. In der Sicht
Bismarcks, der diese Annexion nur ungern sah, sollte es dem Elsass
gut gehen; interessant ist in dieser Hinsicht seine Eisenbahnpolitik,
mit der er die Verbindung auf der linksrheinischen Seite Strassburg-Basel
mit allen Mitteln förderte, zugleich aber von Berlin aus die Strecke
Mannheim-Basel auf der badischen Seite nicht einmal auf den affichierten
Fahrplänen erscheinen liess. Wo früher das Elsass ein für
das übrige Frankreich atypisches Grenzgebiet gewesen war, war
es jetzt im Rahmen des Deutschen Reiches wiederum Grenzgebiet am anderen
Rand, aber interessant für die deutsche Wirtschaft durch seine
teilweise hoch entwickelte Technik.
Der deutsch-französische Krieg von 1870/71 hinterliess in der Familie
Zürcher seine tiefen Spuren. Amélies Bruder Albert Zürcher (1849-1906)
wurde im Krieg schwer verwundet, wurde Halbinvalide. Er war Vertreter
für chemische Produkte in Ludwigshafen. Der andere Bruder, genannt James (1848-1870)
war in Algerien gefallen. Nach dem Tod des Vaters Théodore erbeten
Amélie und der invalide Bruder Albert das Gut Lützelhof,
er zählte 40, sie zählte 31 Jahre.
Der Lützelhof lag nahe bei Cernay in südlicher Richtung. Seinen Namen
hatte er von der Abtei Lucelle, eben Lützel, zu deren Besitztümern
er vor der Französischen Revolution gehört hatte. Das sogenannte
Ochsenfeld, dessen Teil der Lützelhof war, liegt zwischen Cernay,
Wittelsheim, Richwiller und Reiningue, somit nordwestlich Mülhausen.
Diesem Feld hat vermutlich der Stauferkaiser Friedrich II. im frühen 13.
Jahrhundert den Namen geben helfen, indem er Cernay das Privileg eines
Viehmarktes jeweils am Dienstag nach Quasimodo, Dreieinigkeit und St.
Martin verlieh. Im 16. und 17. Jahrhundert hielt unter dem gestrengen
Auge der habsburgischen Verwaltung von Ensisheim der Fleischordnungsverein
wöchentlich Viehmärkte ab, zu denen die Leute aus dem Burgund,
der Freigrafschaft, von Lothringen, aus dem Elsass und gewiss auch
aus der Basler Gegend zusammenströmten. 300 Reichstaler flossen
jeweils allein vom Ohmgeld, also der Wein-Umsatzsteuer, in die Kasse
der nach dem Dreissigjährigen Krieg französisch gewordenen
Regenz. Das Ochsenfeld muss auch immer ein Schlachtfeld gewesen sein,
vielleicht kämpfte hier Caesar mit Ariovist, der Hunnenkönig
Attila ritt vorbei, die Armagnaken zogen durch, die Bauernkriege wüteten,
im Dreissigjährigen Krieg stritten Kaiserliche und Schweden gegeneinander.
Das Gut Lützelhof zählte damals rund 65 Hektaren; der Viehbestand,
Kühe und Schafe, betrug über 50 Häupter, dazu kamen
zehn Pferde und ein Dutzend Schweine. Die beiden Geschwister widmeten
alle Energie ihrem Hof. Amélie, die Zeit ihres Lebens unverheiratet
blieb, war so etwas wie eine Tiernärrin. Auf Fotografien sieht
man sie häufig in Begleitung von Hunden. Daneben war sie eine
exzellente Jägerin. Der kriegsversehrte Albert hatte wie seine
Schwester eine natürliche Neigung für Landwirtschaft und
Tieraufzucht.
Das Hauptproblem des Gutes lag in der relativ dünnen Humusschicht – auf
blosse 25 cm schätzte sie der spätere Gutsverwalter – und
in der dadurch beschränkten Fruchtbarkeit. Bodenverbesserung war
das wichtigste Postulat. Die Geschwister begannen neue Bäume zu
pflanzen, liessen anspruchslose Föhren aus Österreich kommen,
studierten die Möglichkeiten der Schafzucht.
Dann kam der böse Sommer 1893. Vom März bis zum September fiel kein
Tropfen Regen, die elsässische Ebene trocknete vollkommen aus.
Amélie und ihr Bruder wussten nicht mehr, wie sie ihren kleinen
Viehbestand durchfüttern sollten. Jules Léopoldès,
der später in die Dienste von Amélie Zürcher trat,
berichtete als bestandener Mann, wie er als Schüler mit dem Lehrer
in den Wald von Nonnenbruch ging, um Moos von den Steinen und Bäumen
abzulesen, damit die Bauern ihren abgemagerten Tiere wenigstens etwas
verfüttern konnten. Die Gutsbesitzer kamen auch finanziell in
Schwierigkeiten, Amélie Zürcher aber wollte auf keinen
Fall die abgemagerten Kühe zu Preisen verkaufen, die nur noch
einen Zwanzigstel ihres eigentlichen Wertes darstellten. Erst im Oktober
kam wieder Regen, der freilich Wunder wirkte, denn es konnte noch einmal
Gras gemäht werden.
Aus den Aufzeichnungen von Eugène J. Bertrand können wir
uns ein detailliertes Bild der Gutsherrin Amélie Zürcher
machen. Sie war eine sehr bestimmte Person von paternalistischem – nein:
maternalistischem Charakter. Auffallend ist ihre eigene Disziplin,
die sie dazu anhielt, von ihrem Personal die gleiche Exaktheit und
peinlichste Sauberkeit wie von sich selber zu fordern. Sie verlangte
viel.
Aber sie legte auch selber Hand an. Vor Weihnachten bereitete sie Festtagsbrot,
die Berawecka, also mit Birnen und anderen Früchten durchsetztes
Brot. Wenn die Linden blühten, wurde Tee eingesammelt; Kamille
und andere Kräuter wurden getrocknet. Sie schloss sich gelegentlich
in der Küche ein, um selber Pomaden und Salben von schwarzer Farbe
gegen Furunkel herzustellen. Sie besorgte den Hühnerhof persönlich.
Jeden Samstag mussten die Bodenplatten des Hofes mit frischem Wasser
gewaschen werden. War ein Jahr zu Ende, wurden die Rechnungsbücher
einer genauen Kontrolle unterzogen.
Das alles liest sich heute sehr herrschaftlich, grossbürgerlich, vielleicht
sogar eigensinnig. Aber wir sind im letzten Fünftel des 19. Jahrhunderts,
wir beobachten eine Erbtochter aus dem industriellen Milieu. Zu diesem
Bild gehören auch die Jagden, die Amélie Zürcher auf
ihrem Gut veranstaltete. Schon aus dem 19. Jahrhundert, der Zeit vor
dem Ersten Weltkrieg, haben wir Nachrichten von einer Jagd, die durch
ein fotografisches Bild dokumentiert ist. Da steht Amélie mitten
im Kreis einer imposanten Gesellschaft wohlbeleibter Jagdherren. Ein
halbes Dutzend Wildschweine, anderthalb Dutzend Rehe, 150 Fasane oder
Rebhühner und 180 Hasen waren die Ausbeute. Die einzige Frau in
dieser Gesellschaft, die Gutsherrin selber, war gewiss nicht das, was
man heute als Alibifrau bezeichnet.
Aber man sollte die anderen Aspekte ihrer Tätigkeit nicht übersehen.
Wenn sie Ende Jahr die Rechnungsbücher durchgesehen hatte, verteilte
sie in genau abgefüllten Briefumschlägen die Gratifikationen
an ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Sie dachte auch an deren
Familien. Es gab in Mülhausen und Cernay viele Leute, die vom
Gut des Lützelhofes gratis Gemüse, Brennholz und sogar Kleider
erhielten. Sie tat das still und verschwiegen. Wenn sie aber den Eindruck
hatte, dass Landstreicher oder marodierende Diebe sich ihrem Gut näherten,
griff sie mitten in der Nacht zum Gewehr und sorgte für Ordnung.
So sehen wir in den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts eine tüchtige,
ihrer Sache sichere und selbstbewusste Frau neben einem invaliden Bruder
für das Geschick eines grossen Hofes sorgen. Alles war wohl geregelt,
die Zukunft schien überblickbar, an täglichen Aufgaben mangelte
es nicht, und der grosse landwirtschaftliche Betrieb stellte genug
Probleme, um die ganze Tatkraft einer intelligenten und zugleich naturliebenden
Frau in Anspruch zu nehmen. Es war nach dem bösen Sommer 1893,
dass das Leben der Amélie Zürcher eine ganz andere Wendung
nahm.
Der
Schatz unter der Erde
Im späten Mittelalter und besonders seit dem 14. Jahrhundert waren im
Elsass – wie übrigens auch auf der anderen Rheinseite – zahlreiche
kleinere Bergwerke und Stollen im Betrieb. Man baute Eisen ab, an gewissen
Stellen Blei, Silber und gelegentlich sogar Kupfer. Aber diese Minen
schlossen im Lauf des 19. Jahrhunderts eine nach der andern, die Ausbeute
war zu gering, die Verarbeitungskosten waren zu hoch. Mit den Kolonien
der grossen europäischen Mächte und der Dampfschifffahrt
baute sich ein Welthandel auf, gegenüber dem die Ausbeutung lokaler
Vorkommen bedeutungslos und vor allem unrentabel wurde. Heute vollziehen
sich die industriellen Fortschritte meistens unsichtbar vor den Augen
des Publikums; die entscheidenden Etappen und Durchbrüche geschehen
in Laboratorien oder technischen Entwicklungsstätten. Im zu Ende
gehenden 19. Jahrhundert war das anders: Jede technische Erfindung,
Entdeckung oder Entwicklung manifestierte sich fast über Nacht
in neuen technischen Anlagen, die oft grosse Flächen beanspruchten
und auf die bestehenden Landschaften, Flüsse oder Wegnetze wenig
Rücksicht nahmen. Die Leute dieser Epoche fühlten sich in
den wirtschaftlichen Wettstreit der Nationen eingebunden, die Zeitungen
waren voll davon, an den Weltausstellungen kämpften Länder,
Branchen und Firmen um Medaillen. Aufregende Kunde kam aus den Vereinigten
Staaten Amerikas von der Erdöl-Industrie und den sagenhaften Gewinnen,
die ihre Promotoren erwirtschafteten.
Geologisch war, wir haben es erwähnt, das Elsass ein besonderer Fall.
Im Unterelsass wurde schon lange bei Pechelbronn asphalthaltiger Sand
gewonnen, den ein paar Dutzend Arbeiter mit der Hilfe von kochendem
Wasser reinigten, um ein Schmiermittel für grosse Maschinen zu
gewinnen. 1882 bohrte die damit beschäftigte Firma tiefer und
stiess plötzlich auf leichtes Erdöl, das von selber aus dem
Bohrloch stieg. Das Petrolfieber bemächtige sich, nach amerikanischem
Vorbild, der ganzen Gegend. So entstanden die Pechelbronner Ölbergwerke,
die 1889 die existierenden Konzessionen zusammenkauften. Sofort meldeten
sich auch Konkurrenten, so die Deutsche Tiefbohr A.G., und vor
dem Ersten Weltkrieg betrug die Erdölförderung im Unterelsass
bereits 50'000 Tonnen, die Zahl der Arbeiter stieg von 1872 bis 1913
von 73 auf 433.
Ölrausch im Elsass? Man stellte bald fest, dass die gefundenen Erdölmengen
eigentlich bescheiden waren. Während am Anfang das Erdöl
von selber an die Oberfläche stiegt, musste man seit 1885 Pumpen
einsetzen. Je mehr man förderte, desto geringer wurden die Lager – das
Elsass war kein neues Texas.
Mit Amélie Zürcher hat das direkt nichts zu tun, aber indirekt
ergab sich plötzlich eine unvorhersehbare Verknüpfung. In
ihrem Umkreis erscheint eine unternehmerische Figur namens Joseph
Vogt (1847-1921), ein geologisch interessierter Maschinenbauer
aus Niederbruck, ein Lieferant für Bohrgeräte im Elsass.
Vogt war sich klar, dass unter der elsässischen Ebene interessante
Vorkommen liegen mussten, sicher Salz, aber vielleicht auch Kohle und
dann Erdöl. Vogt war streng französisch gesinnt, mit der
deutschen Annexion alles andere als zufrieden; er wurde später
Bürgermeister seines Dorfes Niederbruck und Generalrat sowie Regionaldeputierter
im Landesausschuss von Elsass-Lothringen, wo er sich immer auf die
Seite der französischen Interessen schlug.
Die grossbürgerlichen, industriell interessierten Familien im Elsass kannten
sich gegenseitig. Im Dezember 1893 fuhr Joseph Vogt in einem leichten
Pferdewagen vor dem Lützelhof vor und lud Anfang 1894 die Geschwister
Zürcher zu einem Familienanlass ein. Eugène J. Bertrand erzählt
die Szene wie folgt: „Nach dem Essen führte Joseph Vogt seine
Gäste in die Fabrik. Als Amélie eine Art kleinen Eifelturm
in Holz sah, fragte sie, was es damit auf sich habe. Das ist ein Bohrturm,
antwortete der Hausherr. Ach Albert, sagte die Dame vom Lützelhof
z ihrem Bruder, wir sollten eine Probebohrung auf unserem Gut, das
nichts abwirft, veranstalten. Der liebe Gott ist gerecht, wie die Erde
so arm ist, hab er sicher den Reichtum darunter versteckt. Amélie
schweig, gab der ältere Bruder zur Antwort, was du sagst, ist
eher dumm. Lass mich in Frieden.”
Es ist Amélie Zürcher selber, die den weiteren Gang der Dinge schildert.
Nach Hause zurückgekehrt hatte sie in der Nacht einen Traum oder
eher eine Vision, eine Art Offenbarung, die sich bei ihr zur Gewissheit
verdichtete: dass unter dem Boden ihres Gutes Dinge von grossem Wert
verborgen sein mussten. Am Morgen erzählte sie davon ihrem Bruder,
der zunehmend unwirsch zu reagieren begann. Er soll ihr sogar gesagt
haben, dass sie reif für das Irrenhaus sei. Finanziell hatte er
sein Kapital weitgehend in Immobilien investiert, hätte also die
notwendigen Mittel für solche Probebohrungen gar nicht aufbringen
können. Aber er hatte nicht mit der Hartnäckigkeit seiner
Schwester gerechnet. Sie blieb bei ihrem Vorhaben, nicht nur Tage und
Wochen, sondern über die nächsten zehn Jahre treu, erklärte
in der Familie wiederholt ihre Bereitschaft, ihr ganzes Erbteil für
ein solches Unternehmen einzusetzen. Das müssen merkwürdige
geschwisterliche Auseinandersetzungen gewesen sein. 1934 erzählte
sie: „Ich war zu sicher, dass ein Vermögen unter unseren Füssen
versteckt lag. Ich entschloss mich, diesem Unternehmen alles zu opfern.”
Eine familiäre Zusammenkunft mit Joseph Vogt vom 27. Oktober 1903 – Vogt
feierte die Heirat seiner Tochter Gabrielle – brachte die Wendung.
Einer der Eingeladenen an diesem Anlass war Jean-Baptiste Grisez,
ein geologisch interessierter Geschäftsmann, der seine Fähigkeit
als Rutengänger schon ausprobiert hatte und der mit Joseph Vogt
im Erdölgebiet von Pechelbronn zusammenarbeitete. Zusammen hatten
sie eine eigene Konzession erworben. Bei Sentheim unternahmen sie 1903
eine Probebohrung, die aber bis auf die Tiefe von 504 Metern keine
Ergebnisse lieferte.
Nach der Hochzeitsfeier ergaben sich familiäre Gespräche rund um
den Tisch. Amélie Zürcher richtete sich an Joseph Vogt
und berichtete später über den Verlauf des Gespräches: „Ich
habe meinen Traum Joseph Vogt erzählt, der mir lächelnd zuhörte.
Dann behauptete er, mich trotz meiner 46 Jahre eher als ein Kind betrachtend,
dass das Ochsenfeld geologisch von einer viel zu jungen Formation sei,
um irgendwelche Erze zu enthalten. Trotzdem war ich entschlossen, meine
Haltung zu verteidigen, und gab ihm zur Antwort, dass ich absolut entschieden
sei, da ich genau wüsste, wo dieser Schatz zu finden wäre.
Ich fügte hinzu, dass es vielleicht nicht unbedingt Gold sei,
das da unter unseren Füssen liege, aber aller Wahrscheinlichkeit
nach eine höchst interessante Schicht. Ich versteifte mich darauf
angesichts der klipp und klaren Weigerung Vogts, eine Probebohrung
vorzunehmen. Schliesslich, als mir die Argumente mangelten, erklärte
ich, dass dann eben ein aus Deutschland kommendes Unternehmen die Arbeiten übernehmen
müsse. Es werden Deutsche sein, die den Schatz unter dem Ochsenfeld
entdecken werden!
Diese Worte weckten den Patriotismus von Joseph Vogt, sein Stolz schien verletzt.
Das werde ich nie erlauben, rief er, und wie um sein Gewissen zu beruhigen,
fügte er hinzu: Warum sollte man schliesslich nicht eine Verlängerung
der Kohlenflöze von Ronchamp oder der Erdölschicht von Pechelbronn
finden?
Einige Wochen später gelang es mir endlich, neben Joseph Vogt, der mein
Gesellschafter wurde, auch Jean-Baptiste Grisez und seinen Schwager,
den Doktor Fischer, an meinen Projekten zu interessieren.”
Am 21. Mai 1904 wurde die Société en participation pour
la recherche de gisement de houille en Alsace gegründet.Houille – also dachte Vogt noch an Kohle. 100'000
Mark legten die Gesellschafter zusammen, Vogt übernahm die Hälfte,
Grisez ein Viertel, Amélie und Albert zusammen ebenfalls ein
Viertel. In heutigem Geldwert lag das investierte Kapital in der Grössenordnung
von weit über einer Million Schweizerfranken.
Am 13. Juni 1904 begann die Probebohrung im Wald von Nonnenbruch, dreieinhalb
Kilometer südlich vom Wittelsheimer Kirchturm, unmittelbar beim
Jagdhäuschen der beiden Geschwister.
Und nun wieder in den Worten Amélies:
„Meine Freude war tief zu sehen, dass meine Gewissheit von allen geteilt wurde.
Jedoch in 50 Metern Tiefe angekommen, wollte Herr Vogt aufgeben, entmutigt
nur Steine und Sand angetroffen zu haben. Ich behauptete, dass wir
nach dieser Lage interessanteren Boden finden würden.”
Noch 30 Jahre später erinnerte sich die damals schon mehr als 70jährige
Amélie Zürcher in einem Gespräch mit Lucien Naas lebhaft
an die Dramatik dieses Streites zwischen ihr und Joseph Vogt über
Aufgabe oder Weiterführung der Bohrarbeiten. (Eine deutsche Übersetzung
dieses Gesprächs findet sich im Ende dieses Textes.) Weibliche
Intuition und männlicher Sachverstand liegen einander in den Haaren.
Aber es kämpft nicht eine untertänige Frau gegen einen industriellen
Patriarchen; es kämpft eine entschlussfreudige Gutsherrin gegen
einen zwischen Spekulation und Kostenbewusstsein schwankenden Unternehmer,
den sie dazu nötigte, bis auf 400 Meter Tiefe zu bohren.
„Herr Vogt liess sich endlich überzeugen, und 150 Meter tiefer, das heisst
550 Meter unter der Oberfläche, erreichte man endlich die erste
Kalilagerung, von einer Reinheit, wie man sie um jene Zeit in der ganzen
Welt nicht kannte.
Es war der Triumph. Die Arbeiten wurden mit neuem Eifer weitergeführt.
Drei Monate später wurde eine Tiefe von 1'120 Metern erreicht.”
Amélie hatte den Schatz unter der Erde gefunden.
Sie erzählt weiter: „Als Joseph Vogt diese Kristalle von oranger, roter
und violetter Farbe sah, kannte er deren genaue Beschaffenheit noch
nicht, freilich machte er den Eindruck, als ob er schon eine Idee im
Kopf habe. Eine Sache war sicher: Das war der Schatz, den ich im Traum
gesehen hatte. Ich war überglücklich, gerade herausgesagt:
ich jubilierte.
Joseph Vogt schickte in höchster Geheimhaltung, am liebsten zur Nachtzeit,
einige Muster in ein Laboratorium eines seiner Freunde, des Herrn Van
Werwecke, Minenberater in Strassburg. Ein paar Tage später
bekam er die berühmte Nachricht. Es handle sich um Kali von einer
vorzüglichen Qualität; sollte das Lager gross genug sein,
müsste man seinen Abbau in Betracht ziehen.
Natürlich verschwiegen die Entdecker, Van Werwecke inbegriffen, diese
Entdeckung vollständig. Freilich fragten sich die Ingenieure in
Strassburg, die im Dienst der Minen standen, und die naturwissenschaftlichen
Professoren, die von den Probebohrungen gehört hatten, was man
da eigentlich in den Tiefen des Ochsenfeldes finden wollte. Joseph
Vogt machte sich ein diebisches Vergnügen daraus, ihnen mitzuteilen,
dass er Kohle zu finden hoffte oder sogar Erdöl, und auf fast
jesuitische Weise gestattete er sich, sie beiläufig zu fragen,
ob es wohl möglich wäre, dass man im Untergrund des Ochsenfeldes
Kali finden würde.
Die Ingenieure aus Strassburg antworteten, dass man da schon sehr tief bohren
müsste, um vielleicht Kohle oder Erdöl zu finden, dass es
aber sehr unwahrscheinlich sei, Kali zu entdecken, und sie fügten
bei, dass dieses Mineral – was damals zutraf – nur in der Gegend von
Stassfurt in Norddeutschland zu finden wäre.
Erst dann schickte Joseph Vogt ihnen Muster von Kali aus dem Ochsenfeld.
Auch die befragten deutschen Geologen, die mit Recht stolz waren, dass sie
im letzten Jahrhundert ein riesiges Kalilager entdeckt hatten, das
ihrem Land ein Weltmonopol sicherte, verneinten entschieden die Möglichkeit
eines Kalivorkommens im Elsass – ausgeschlossen, sagten sie, ausgeschlossen.
Man darf sich ihre erstaunten Mienen vorstellen, als sie von den elsässischen
Minen von diesem Umfang hörten...”
Freilich sah die Rechnung nicht schön aus. Die Probebohrungen hatten nicht
nur das ursprüngliche Kapital von 100'000 Mark verschlungen, sondern
die Arbeiten hatten insgesamt nicht weniger als 400'000 Mark gekostet.
Woher kam das Geld? Amélie Zürcher hatte alle ihre Güter
ausnahmslos mit Hypotheken belegt, und nicht nur ihre, sondern auch
jene ihres Bruders und seiner Neffen. Joseph Vogt suchte zuerst Kapitalien
in der Region, dann – erfolglos – bei den Banken in Paris. Es blieb
ihm nichts anderes übrig, als sich an deutsche Bankkreise zu wenden,
und mit deren Hilfe konnte er am 13. Juni 1906 die Minengesellschaft Gewerkschaft
Amélie gegründet werden, die nicht weniger als 120
Probebohrungen vornahm. Im Frühjahr 1908 begann sie mit dem Abtäufen
des Schachtes Amélie I, und im Februar 1910 konnte sie das erste
Kalisalz liefern.
Das Elsass war noch immer deutsches Reichsland – man darf das nicht vergessen.
Die deutschen Interessen waren stark; 1911, drei Jahre vor dem Ersten
Weltkrieg, trat die Gewerkschaft Amélie ihre Konzessionen an
die Deutschen Kaliwerke ab, eine deutsche Minengesellschaft,
deren Sitz sich in Bernterode in Sachsen befand.
Vogt war darüber alles andere als glücklich, er wollte nach wie vor
französisches Kapital für die Ausbeute dieser Minen organisieren.
Das war eine mühsame Arbeit, aber im Juni 1910 brachte er im Freundeskreis
genug Geld zusammen, um eine neue Aktiengesellschaft zu gründen,
die Kaliminen Sainte-Thérèse. Sein Sohn, Fernand
Vogt, übernahm die Direktion, und dieses zweite Unternehmen
verschaffte sich eine Reihe von Konzessionen bei Pulversheim, Ungersheim,
Ruelisheim, Feldkirch, Bollwiller und Ensisheim.
1912 waren nicht weniger als 106 Konzessionen im Oberelsass erteilt. 28 davon
gehörten den Kaliminen Sainte Thérèse, 78
den Deutschen Kaliwerken. Vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges
waren insgesamt 17 Schächte installiert auf einer Fläche
von 20'300 Hektaren, in die sich drei deutsche Gesellschaften, die Deutschen
Kaliwerke, Roechling und Wintershall, daneben die
vom Kapital her französische Kalimine Sainte Thérèse,
teilten.
Die Investitionen betrugen damalige 90 Millionen französischer Franken,
die Tiefe der Bohrlöcher lag zwischen 420 und 1‘100 Metern. 1910
arbeiteten bereits 222 Arbeiter in den Minen, die Ausbeute betrug 38'481
Tonnen Rohsalz, diese repräsentierten einen Wert von 512'000 Mark.
1913 war die Anzahl der Arbeiter auf 600 gestiegen, die jetzt 350'341
Tonnen förderten, deren Wert sich auf 6'115'000 Mark addierte.
Der Erste Weltkrieg, der das vor dem Harmannswiller-Kopf liegende Ochsenfeld
einmal mehr zur Kampfzone machte, brachte einen vollständigen
Umbruch in sämtlichen Verhältnissen. Das deutsche Kapital
wurde nach 1918 sequestriert, die Minen wurden dann vom französischen
Staat übernommen und 1924 als staatliches Unternehmen mit dem
Namen Mines Domaniales de Potasse d'Alsace (abgekürzt MDPA)
eingerichtet. Die bergmännische Erschliessung der Kaliminen begann
im grossen Stil in der Zwischenkriegszeit, die Produktion stieg von
592'365 Tonnen Rohsalz 1919 auf 3'569'000 Tonnen im Jahr 1939.
Wer heute durch das Elsass zwischen Mülhausen, Cernay und Ensisheim durchfährt,
sieht immer noch die alten Schachtgerüste. Und gelegentlich erfährt
er auch deren Namen. Namengebungen im industriellen Zeitalter nach
1830 beginnen im wesentlichen mit den Namen von Lokomotiven, die heissen
im Elsass zum Beispiel Napoléon, in Baden Johann Peter
Hebel. Dann folgen Hochkamine, für die Dichter, Politiker
oder Generäle gern den Namen geben, so stossen Victor Hugo, Léon
Gambetta oder Georges Boulanger Rauchwolken aus. In der
Minenindustrie sind es oft Heilige, die ihren Namen geben, oder es
sind eben Ortschaften. Dazu kommen dann die Namen der Leute, deren
unternehmerische Aktivität geehrt werden soll.
Somit heissen die Schachtanlagen auf dem Ochsenfeld eben Amélie oder Joseph. Elise geht
auf den Namen einer Schwiegertochter von Joseph Vogt zurück. Mit
den Namen Fernand, Thérèse und Marie-Louise bewegen
wir uns in der Familie von Fernand Vogt, beim Schacht Théodore handelt
es sich entweder um den Vater Amélies oder um einen Minendirektor
Theodor Lichtenberger aus Heilbronn. Die Schächte Max und Alex gehen
auf deutsche Industrielle der Epoche vor dem Ersten Weltkrieg zurück,
der Schacht Rodolphe bezieht sich auf einen österreichischen
Kaisernamen. Der Schacht Guillaume erinnert an Kaiser Wilhelm
II., der sich persönlich bei deutschen Banken für eine Kreditgewährung
an die elsässischen Minen einsetzte.
Aber hier geraten wir bereits in die moderne Industriegeschichte des Elsasses;
mit Amélie Zürcher hat das immer weniger zu tun, wir sollten
uns wieder ihr und ihrem landwirtschaftlichen Betrieb zuwenden.
Die
Gutsherrin des Lützelhofes
Man hat in Amélie Zürcher wegen ihres unerschüttlichen Glaubens
an den Schatz unter der Erde schon so etwas wie eine (grossbürgerliche)
Jeanne D'Arc des 19. Jahrhunderts gesehen, und ganz unzweifelhaft wären
ohne sie die Kali-Vorkommen im Elsass so früh nicht entdeckt worden.
Man hat sich auch schon gefragt, ob diese Frau einen übernatürlichen
Sinn hatte, ob sie gar ein Medium war. Es ist bezeugt, dass sie fast
auf den Tag genau den Todestag ihres Bruders voraussagte, sich freilich
im Jahr irrte; einer heimkehrenden Jagdgesellschaft schilderte sie
einmal ausführlich, an welcher Stelle genau soeben die Wildschweine
geschossen worden wären – es stimmte genau. Vor allem darf man
sich daran erinnern, dass Amélie immer die exakte Stelle für
die erste Bohrung (nahe der Jagdhütte der Geschwister) unbeirrt
bezeichnet hatte. Aber dass der Engel Gabriel selber ihr einst die
Stelle für die erfolgreiche Probebohrung gezeigt hätte, dementierte
sie auf das entschiedenste.
Der Kali-Abbau mehrte ihren Reichtum. Ihr Gut profitierte davon. Über
die Entwicklung des Landwirtschaftsbetriebes sind wir dank den Berichten
von Jules Léopoldès (1884-1967) genauer unterrichtet.
Wer war dieser Monsieur Jules, geboren in Cernay? 1901, im Alter von 17 Jahren,
wurde er auf dem Lützelhof als Aufseher über die Hunde und
als Vorreiter angestellt. Von 1904 bis 1907 absolvierte er seinen (deutschen)
Militärdienst, kam nachher wieder auf den Hof zurück, und
dann sagte ihm Amélie: „Mein Kleiner, ich hab dich bei der Arbeit
genau beobachtet, du bist der Mann, den ich brauche.” Das war der Beginn
seiner Karriere als eigentlicher Gutsverwalter, und bald hiess er nicht
mehr mon petit, sondern Monsieur Jules. Er exekutierte, was Amélie
projektierte, blieb Verwalter bis 1923, übernahm dann auf eigene
Rechnung die Schafzucht mit einer Herde von zwischen 300 und 500 Tieren.
Das Hauptproblem des Lützelhofes war die Wasserversorgung, weil die Humusschicht
auf dem kiesigen Untergrund dünn war, somit in trockenen Jahreszeiten
sofort Wasser zu fehlen begann. Auf der ganzen elsässischen Seite
des Oberrheins hatte sich seit langem eine eigene Technik des Kanalbaus
entwickelt, mächtig gefördert durch die Festungsbauten unter
Ludwig XIV., wo für den Transport von Baumaterialien Kanäle
ausgehoben werden mussten. Der Lützelhof bezog Wasser aus einem
Bach aus der Gegend von Aspach und Leimbach; ein ganzes System von
nicht weniger als 44 Schleusen leitete das Wasser bis auf den Hof.
Monsieur Jules installierte in den Ställen ein eigenes System,
bei dem Kühe lernten, mit einem Druck der Schnauze am Boden eines
Troges Wasser hervorsprudeln zu lassen, so dass der tägliche Gang
zur Tränke wegfiel.
Ein Hauptaugenmerk galt der Bodenverbesserung, wozu Amélie ihn immer
wieder ermunterte. Das hiess Mist- und Kompostwirtschaft, also regelmässige
Verteilung des Stallmistess; hiess sorgfältigen Umgang mit den
jeweiligen Niederschlägen und Beschaffung von zusätzlichem
Humus. Wo immer neue Strassen gebaut und Wiesengrund entfernt wurde,
trat Monsieur Jules als Ankäufer auf.
Aber er kaufte auch Land. Aus den Mitteln, die Amélie durch die industrielle
Ausbeutung der Kaliminen zuflossen, vergrösserte sie das Gut ohne
Unterlasse. Aus den vom Vater geerbten 65 Hektaren wurden fast 800
Hektaren, die Are kostete damals zwei Franken. Denn der Boden galt
immer noch als arm. Der Lützelhof vergrösserte sich Richtung
Wittelsheim, Cernay und Richwiller, umfasste auch Hunderte von Waldstücken,
deren Bearbeitung zahlreiche Hände verlangte. Die Belegschaft
nahm zu, es waren teilweise über 40 Personen, dazu kamen fast
anderthalb Dutzend Saisonarbeiter. Desgleichen wuchs die Zahl der Tiere,
die jetzt nach Hunderten von Kühen, Ochsen und Pferden gezählt
wurden. 350 Schafe aus Bayern trieb man in einem Marsch von zwölf
Tagen ins Elsass, dazu kamen Schweine, Federvieh und Bienenvölker.
Als älterer Mann erzählte Monsieur Jules einem Redaktor der Zeitung L'Alsace vom
täglichen Leben auf dem Lützelhof:
„Gemolken wurde von zwei Knechten, die um 01.30 Uhr aufstanden, denn schon
um 05.00 Uhr verliess der erste Wagen das Gut Richtung Bahnhof Cernay,
von wo die Milch per Zug nach Mülhausen ging. Um 03.45 Uhr weckte
ich das übrige Personal. Um 05.45 Uhr waren wir fertig mit der
Tierpflege, hatten die kleinen Alltagspflichten erledigt und bereits
auch das Frühstück in der Gesellschaft von Fräulein
Zürcher eingenommen. Diese stand jeden Tag pünktlich um 05.00
Uhr auf. Genau um 06.00 Uhr verliessen die Gespanne den Hof. Wir arbeiteten
auf den Wiesen, im Wald, auf dem Feld und in den Gärten bis 11.00
Uhr.
Das Mittagessen nahm man immer in Gegenwart von Fräulein Zürcher
ein, die die Teller selber füllte, und um 13.00 Uhr gings zurück
an die Arbeit bis Schlag 18.00 Uhr. Dieser regelmässige Rhythmus,
Voraussetzung für die guten Ergebnisse des Hofes, wurde von einer
Glocke begleitet, die jeden Tag den Anfang und das Ende der Arbeit
einläutete.”
Der Lützelhof besass eine eigene Dampfmaschine, die auch eine Ölpresse
betrieb. Die Bauern der Umgebung konnten dort ihren Raps verarbeiten.
Angeschlossen waren eine Dreschmaschine sowie die Wasserpumpe für
die Füllung des Reservoirs, von dem das Wasser mit Druck in die
Wohnhäuser und Ställe verteilt wurde.
Liest man diese Berichte über die Herrin des Lützelhofes, wie sie
von den letzten Augenzeugen überliefert sind, ist die Versuchung
gross, sich ein herrschaftlich-matriarchalisches Bild von einer zielgerichteten
Entwicklung auszumalen. Dann aber muss man sich anhand der Lebensdaten
von Amélie Zürcher die einzelnen Etappen ihres Werdegangs
veranschaulichen. Als der deutsch-französische Krieg ausbrach,
war sie 12 Jahre alt. Als sie vom Schatz unter dem Boden träumte,
zählte sie 35 Jahre. Sie selber hält fest, dass sie zur Zeit
der Entdeckung der Kali-Lager 46 Jahre alt war. Sie näherte sich
schon dem 50. Altersjahr, als sie Jules Léopoldès zum
Gustverwalter berief. Die grosse Erweiterung des Lützelhofes erlebte
sie als Frau zwischen dem 50. Und 60. Lebensjahr, in einer Spanne also,
die nach dem Geist ihrer Zeit und ihrer Gesellschaft für Frauen
schon als Rückzug ins private Leben galt. Mit 56 Jahren sah sie
den Ausbruch des Ersten Weltkrieges, 60 war sie, als er zu Ende ging.
Wie der Zweite Weltkrieg begann, war sie 81jährig; 86, als er
vorbei war, und wie sie 1947 starb, stand sie 13 Wochen vor ihrem 89.
Geburtstag. Sie fühlte sich als Französin, wurde als Elsässerin
dann Bürgerin des Deutschen Reichslandes Elsass, war in der grössten
Entwicklungsphase des Kali-Bergbaus zwischen den beiden Weltkriegen
wieder Französin, erlebte die erneute Annexion des Elsasses durch
das Dritte Reich und sah in hohem Alter die Rückkehr der französischen
Armee, die das Elsass wieder französisch werden liess. Von Geruhsamkeit
kann keine Rede sein.
Nicht zu vergessen ist, dass das flache Ochsenfeld hinter Cernay an die Ausläufer
der Vogesen stösst, und dass somit dieses Gelände militärisch
fast unweigerlich bei jeder deutsch-französischen Auseinandersetzung
zum Kampffeld werden musste. Die wohl zum Teil mit deutschem Kapital,
aber unter französischer Leitung stehenden Kaliminen drohten beim
Rückzug der deutschen Truppen 1918 gesprengt zu werden. Henri
Koch, ein Cousin Amélies, der Verwaltungsrat der Deutschen
Kaliwerke war, setzte alle seine Beziehungen zu seinen Berliner
Kollegen und zur Deutschen Bank ein, um die Anlagen vor der geplanten
Sprengung zu retten. Amélie hatte 1914 den Lützelhof, der
sozusagen im Schlachtfeld lag, verlassen müssen. Wir berechtigt
das war, zeigte die Zerstörung des Gutsgebäudes im Jahr 1918
durch Artilleriebeschuss. Sie hatte sich zuerst nach Mülhausen
zurückgezogen, lebte 1916 ein paar Monate in Paris, kehrte aber
immer wieder auf den Hof zurück, dessen Hauptgebäude in ein
Lazarett verwandelt worden war. Aus der Gutsherrin wurde eine freiwillige
Krankenschwester.
Kaum war der Krieg vorbei, war sie die erste, die in Begleitung eines Inspektors
der Eaux et Forêts die Kriegsschäden inspizieren
wollte: von der Artillerie verletzte Bäume, zerstörte Gebäude
und Granattrichter. Sie kletterte resolut über Stacheldrahtverhaue
und zur Mittagszeit – sie konnte es nicht lassen – besorgte sie selber
das Mittags-Picknick für die kleine Gruppe der Inspektoren.
1928 – die vom französischen Staat übernommenen Minen standen in
der grössten Entwicklungsphase – kaufte sie in Mülhausen
eine Villa an der rue du Moenchsberg 17 mit Park und Gemüsegarten.
Monsieur Jules hatte autofahren lernen müssen, neben Pferdefuhrwerken
standen zur besten Zeit drei Autos zur Verfügung. Abfahrtszeit
war noch immer 06.00 Uhr – da blieb Amélie ihren Gewohnheiten
treu. Auch ihre Tierliebe dauerte an, Fotos zeigen sie bei der Fütterung
ihrer Hunde. Wohltätigkeit übte sie im Verborgenen aus; für
den Bau der neuen Kirche Sacré Coeur stellte sie ein ihr gehörendes
Terrain zur Verfügung, verbat sich aber zu ihren Lebzeiten das
wiederholte Glockengeläute. Jeden Tag besuchte sie die Messe.
Dann kam der Zweite Weltkrieg, nach dem Fall Frankreichs wurde das Elsass wieder
von Deutschland annektiert. Amélie blieb in Mülhausen.
1942, im Alter von 84 Jahren, erlitt sie im Badezimmer einen schweren
Unfall, brach sich einen Schenkelknochen und ein Bein. Sie konnte das
Haus nicht mehr verlassen. Am 11. Mai 1944 – der Ausgang des Krieges
war schon entschieden – heulten in Mülhausen die Sirenen. Amélie
spielte Karten mit ihrer Gesellschafterin Maria Groell. In die
Keller wollte niemand gehen, die „feindlichen” Flugzeuge waren ja jene
der Alliierten. Und bisher war nach einem Alarm noch nie etwas erfolgt.
Da schlug eine Bombe im Haus an der rue du Moenchsberg ein, die Köchin
Elisa war sofort tot. Ein Lebensmittelhändler, René Seiller,
konnte die Feuerwehr alarmieren, welche die beiden Damen, die im halb
zerstörten Haus gefangen waren, befreite. Nach einem kurzen Aufenthalt
bei ihrem Immobilienverwalter musste Amélie in Cernay hospitalisiert
werden, ihr Gesundheitszustand verschlechterte sich, Wundbrand stellte
sich ein. Die letzten Kämpfe um das Elsass verfolgte sie vom Bett
aus, da Cernay in die Frontzone geriet. Dann kam sie in das Hasenrain-Spital
in Mülhausen, wo ihr – der Krieg war zu Ende – im Oktober 1945
noch ein Bein amputiert werden musste. „Geben Sie mir eine Lokalanästhesie”,
sagte sie zum operierenden Arzt, „ich will sehen, was Sie machen.” Endgültig
bettlägerig, redigierte sie ihr umfangreiches Testament, besprach
alles und jedes genau mit ihren Vertrauten.
Am 8. Juni 1947 starb sie, noch nicht ganz 89 Jahre alt. Begraben liegt sie
im Friedhof von Cernay.
Zwei
Welten
Im Palazzo Pubblico in Siena finden sich zwei Ambrogio Lorenzetti aus der ersten
Hälfte des 14. Jahrhunderts zugeschriebene Bilder, genannt „Folgen
des guten Regimentes”. Das eine Bild nennt sich „Stadtleben”, das andere
heisst „Landleben”.
Diese Bilder stellen einen Gegensatz dar, der in der spätmittelalterlichen
Welt zum ersten Mal als grundsätzliche Polarität empfunden
wurde: eben Stadt und Land. Das Landleben zeigt Weinbauern, eine Jagdpartie,
Reiter, pflügende Gespanne, Erntearbeiten, Bäume, Felder,
Gehöfte und Tiere. Das Stadtleben schildert das Treiben in einer
Kleinstadt mit vorüberfahrenden Fremden, einkaufenden Hausfrauen,
tanzenden Mädchen, Handwerkern, Bauarbeitern, Marktfahrern und
häuslichen Szenen. Es ist ein Gegensatz, in welchen sich jeder
Bewohner der damaligen Welt eingefangen sehen konnte und der in Europa
noch tief bis ins 18. Jahrhundert weiterwirkte.
Unsere heutige Welt ist nicht mehr von diesem Gegensatz dominiert. Seit der
Einrichtung von Textilmanufakturen und der Erfindung der Dampfmaschine,
die sich in den Verkehrsmitteln (Eisenbahnen und Schiffen) einsetzen
liess, sind zwei andere, die Umwelt gestaltende Kräfte aufgetreten:
die Fabrik und mit ihr die Industrie, dann das Verkehrswesen mit seinen
weit in die Landschaft ausgreifenden Anlagen. Die Städte von heute
haben keine Mauern mehr, die sie exakt gegen das umliegende Land abgrenzen,
sondern sind von industriell genutzten Flächen, Verkehrs- und
Verteilanlagen umgürtet – Stadt- und Landleben durchdringen sich,
und mancher moderne Bauernhof schaut sich an wie eine kleine Fabrik.
Diese neue Verzahnung zweier früher gegensätzlicher Welten hat sich
nicht über Nacht ergeben, sondern ist langsam herangewachsen.
Sie begann vor der Zeit, da Amélie das Licht der Welt erblickte – ihr
Vater betrieb in Bollwiller schon eine grosse Textil-Manufaktur. Auch
die Eisenbahnlinie Mülhausen-Thann, eine der frühen auf dem
europäischen Kontinent, eröffnet am 6. August 1839, fiel
in die Zeit vor der Geburt Amélies. Aber wenn wir dann auf ihre
ganze Lebensspanne blicken, die fast von der Mitte des 19. Jahrhunderts
bis gegen die Mitte des 20. Jahrhunderts dauerte, blicken wir auch
auf die Zeit der grossen Veränderungen in ganz Europa und – besonders
spürbar – am Oberrhein.
Von 1817 bis 1876 wurde der Rhein zwischen Basel und Mannheim begradigt, um
nicht weniger als 81 Kilometer verkürzt, und nach dem Ersten Weltkrieg
begann der Bau des für die Schifffahrt und für die Kraftwerke
notwendigen Kanals auf der französischen Seite. Die Eisenbahn
Strassburg-Colmar-Mülhausen langte Ende 1845, diejenige von Mannheim-Karlsruhe-Freiburg
zehn Jahre später in Basel an.
Eine besondere Erwähnung verdient die elsässische Chemie. Der vorzügliche
Kenner der elsässischen Industriegeschichte, Michel Hau,
spricht von einer eigentlichen Ausblutung der zwischen 1823 und 1860
gegründeten Chemieunternehmen im Elsass – Richtung Basel, aber
auch nach Deutschland. (Amélies Bruder Albert war, vergessen
wir es nicht, Vertreter für chemische Produkte aus Ludwigshafen.)
Es war die im Elsass etablierte Textilindustrie, die für Wasch-,
Bleich- und Färbereivorgänge auf Chemie angewiesen war. Um
1860 beschäftigten die Chemiewerke in Thann schon über 250
Arbeiter, während in Basel neben der Farbholzmühle von Geigy
erst kleine Laboratorien und eher experimentelle Fabrikationsgebäude
in Betrieb waren.
Die Erfindung der synthetischen Textilfarbstoffe auf Anilinbasis 1856 durch
den Engländer Perkin änderte oder besser begründete
erst die ganze Farbstoffchemie. Charles Kestner in Thann, die
Firma Freund und Merlanchon in Hüningen, Jean-Gerber-Keller in
Dornach bei Mülhausen warfen sich sofort auf diese neue Technik.
Das Elsass brachte die notwendigen Voraussetzungen mit: leistungsfähige
Textilbetriebe, eine hohe handwerkliche Technik im Druck von Stoffen
und Papieren und, seit 1822, eine Ausbildungsstätte, die Ecole
de Chimie in Mülhausen. (Das Polytechnicum in Zürich
begann nicht vor 1855 mit der Chemieausbildung, die Universität
Basel sogar est 1904.) Zur Zeit der Geburt Amélies ist Mülhausen
als Chemiezentrum wichtiger als Basel; dann aber, zwischen 1860 und
1853, folgt das, was Michel Hau die Ausblutung nennt. Das französische
Patentrecht schützte bei chemischen Stoffen das Enderzeugnis,
nicht aber das Herstellungsverfahren. In der Nachfolge von Perkin produzierte
die elsässische Firma Gerber-Keller ein Azalein, das das
Fuchsin der Lyoner Firma Renard Frères et Franc, entdeckt
von François Verguin, konkurrenzierte. Es kam zum Prozess,
Gerber-Keller verlor ihn. Französische Chemiker, die bekannte
künstliche Farbstoffe auf intelligentere und ökonomischere
Weise synthetisieren konnten, hatten in Frankreich auf Grund des Patentgesetzes
von 1844 keine Chancen mehr. Sie gingen nach Deutschland, wo patentrechtlich
das Verfahren geschützt war, und in die Schweiz, die noch gar
keinen Patentschutz kannte, erst 1887 die deutsche Regelung einführte.
Chemiker und Techniker wie Jules-Albert Schlumberger, Jean und Armand
Gerber-Keller, Louis Durand und Edouard Huguenin zogen
nach Basel, wo ein anderer Mülhauser, Jean-Gaspard Dollfus,
den Baslern nicht nur die erste Gasversorgung einrichtete, sondern
auch mit Teerfarbstoffen zu arbeiten begann. Der Mülhauser Jean-Jacques
Müller-Pack richtete im Basler Rosental eine eigene Fabrik
für synthetische Farbstoffe ein, die bald danach von Johann
Rudolf Geigy übernommen wurde.
Es ist nicht übertrieben zu sagen: Ohne die elsässische Chemie und
ihren Erfindergeist hätten die damals heranwachsenden Basler Farbstoff-Firmen
Geigy, Ciba und Sandoz ihren Ruf im Bereich der organischen Chemie
nicht so erfolgreich begründen können. Die elsässische
Chemie hingegen sah sich auf die mineralische Chemie zurückgebunden,
wo sich dann, nach der Entdeckung der Kali-Lager, neue Möglichkeiten
auf dem Gebiet von Düngerprodukten ergaben und 1931 zum Beispiel
die Fabrique de produits chimiques de Thann mit der Kali-Sainte
Thérèse eine gemeinsame Gesellschaft, die Société Potasse
et Produits Chimiques, gründete.
Doch waren das industrielle Bewegungen und Verlagerungen, die sich mehr im
stillen Kämmerlein, das heisst in kleinen Fabriken und Laboratorien,
vollzogen, in der grossen Gesellschaft und vor allem in der Landschaft
jedoch wenig sichtbar wurden. Die grosse Veränderung im Oberelsass
brachte erst die Kali-Industrie. Gabriel Wackermann, ein intimer
Kenner dieses industriellen Kapitals, sagt, dass die elsässischen
Minenunternehmen zu eigentlichen Versuchslaboratorien im ökonomischen,
professionellen, gesellschaftlichen und kulturellen Bereich wurden,
bereit zu avantgardistischen Initiativen. Die Rekrutierung grosser
Belegschaften – Wackermann denkt da an die Zeit des französischen
Elsasses nach 1918 – brachte zudem eine moderne Gewerkschaftsbewegung
hervor, die es im bisher von der Landwirtschaft und von kleinen sowie
mittelgrossen Unternehmen dominierten Elsass so noch nicht gab.
Man braucht nur in das Gebiet des einstigen Ochsenfeldes und darüber hinaus
zu fahren, um diese Veränderungen noch heute zu sehen. Was findet man?
Die Schachttürme mit ihren grossen Rädern, jetzt zum Teil
verlassen. Die um den Schachtturm gruppierten technischen Bauten für
Zwischenlager und erste Verarbeitungen, die Transportwege, oft kleine
Güterbahnhöfe. Gegenstück zu den Schachttürmen – derjenige
von Staffelfelden ist 70 Meter hoch – sind die aufgeschütteten
Abraumhalden, die die flache Ebene in eine dreidimensionale Industrie-Landschaft
verwandeln.
Aber es entstanden nicht nur andere Landschaften, sondern – noch heute auffallend – neue
Dörfer oder Dorferweiterungen, es wuchsen eigentliche Arbeitersiedlungen
heran. Entwürfe vom Reissbrett, mag man denken, aber handkehrum
entdeckt man sie in eine geschichtliche, vielleicht sogar lokale Tradition
eingebunden. Liegt nicht in der Nähe von Dôle die 1775 bis
1779 erbaute Saline Royale des Claude Nicolas Ledoux,
der imponierendste, leider unvollständige Entwurf zu einer kompletten
Industriesiedlung? In einem Halbkreis stehen da auf einer Linie die
Häuser für die Salzlager und in der Mitte das Direktionsgebäude
in Form eines Tempels, im Halbkreis darum die Gebäude für
Ställe, Schmitte, Salzfässer, das Salzsteueramt und das Büro.
Nach den Plänen des Architekten hätten sich in einem weiteren
Kreis die Arbeiterhäuser, wiederum von einheitlicher Architektur,
anschliessen müssen – sie stehen nicht mehr oder wurden zum Teil
nie gebaut. Denkt man an die damalige Zeit des voll erblühten
Rokokos im langsamen Übergang zur sogenannten Klassik, mutet die
massive Bauweise des ganzen Komplexes wie der Übergang (drei Generationen
später) vom Biedermeier in das erste Industriezeitalter an.
Wenn Mülhausen, das Manchester Kontinentaleuropas, nach 1853 eigentliche
cités ouvrières baute, Gartenstädte mit pavillonartigen
Einfamilienhäusern, konnte es an schon Bestehendes anknüpfen.
Hier rechnete man von Anfang an mit einer Arbeiterschaft, die auch
ihre Pflanzgärten pflegen und einen agrarischen Lebensstil weiterführen
wollte. Gabriel Wackermann sagt es so: „Als die Kali-Minen geschaffen
wurden und die Notwendigkeit sich aufdrängte, die zuziehende Arbeiterschaft
unterzubringen, konnte man auf eine neu geschaffene Tradition zurückgreifen,
unterstützt von der Société Industrielle,
die bei ihrer avantgardistischen Zielsetzung bleiben wollte. Da das
Elsass damals deutsch war, überrascht es nicht, dass die bestimmenden
Leute aus Deutschland die elsässischen Formen mit architektonischen
und urbanistischen Elementen aus dem Saarland, aus Hessen und Sachsen
ergänzten.” So finden sich im ganzen Gebiet des Ochsenfeldes Bauten
und Haustypen aus den ersten 25 Jahren des 20. Jahrhunderts, die neben
dem elsässischen Grundklang noch ganz andere Stilmerkmale zeigen.
Als das Elsass nach 1918 wieder französisch wurde, steigerte sich
die siedlungsmässige Erschliessung von Cernay bis Ensisheim zu
neuen Dimensionen. Man plante nicht nur für Jahrzehnte, sondern
dachte an Jahrhunderte. Jede Mine sollte in einer Gehdistanz von zehn
Minuten ihr Personal unterbringen können – das war der einstige
Traum von Ledoux. Noch immer dachte man in hierarchischen Strukturen,
es gab Arbeiter-, Angestellten- und Direktorenhäuser. Allein zwischen
1925 und 1930 – Amélie Zürcher beging in Mülhausen
ihren 70. Geburtstag – entstanden 2'946 Wohnungen, ohne die Kirchen,
Schulen, Gemeinschaftshäuser, Kantinen, Festsäle, die Sportanlagen,
die Sanitäts-, Polizei- und Feuerwehrgebäude zu rechnen.
Der heutige Besucher des Ochsenfeldes sieht naturgemäss zuerst die Schachttürme
und die Abraumhalden, die zum Teil weit auseinander gezogenen Siedlungen
fallen ihm weniger ins Auge. Aber er sieht auf jeden Fall eine industrielle
Landschaft und sieht auch ihre Wunden. Wenn er dann von der Naturliebe
und der auf die Umwelt bedachten Sorgfalt der einstigen Gutsherrin
hört, will das nicht recht zusammenpassen. Die Annahme, dass man
in der Frühzeit des Kali-Abbaus, also noch vor dem Ersten Weltkrieg,
nur unbekümmert vorangemacht habe, dass lediglich bergmännische
Interessen den Taktstock geschwungen hätten, trifft nicht zu.
Man war sich von Anfang an klar, dass diese Entwicklung, die ins obere
Elsass von einem Jahr auf das andere einbrach, weitreichende Folgen
haben würde, man wollte sich vorsehen und das Vorhaben in seiner
ganzen sozialen Komplexität bedenken. Der Vertrag von Joseph Vogt
mit der Gemeinde Wittelsheim über weiteren Landerwerb durch die
Gewerkschaft Amélie verpflichtete diese: für alle Schäden
aufzukommen, die Fabrikabwässer zu filtern, die Jagdrechte zu
garantieren, Schulhausbauten zur Hälfte zu finanzieren und die
zusätzlich notwendig gewordenen Lehrkräfte zu honorieren.
Hier soll nicht die ganze Geschichte der Kali-Industrie im 0beren Elsass erzählt
werden – der schon genannte Gabriel Wackermann hat das in seiner Publikation Le
Pays de la Potasse ausführlich getan. Halten wir fest, dass
in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen die vorwiegend mit deutschem
Kapital gegründete Gewerkschaft Amélie und dann
die nach dem Zweiten Weltkrieg mit elsässischen und französischen
Geldern aufgebaute Kali Sainte-Thérèse in der
Gesellschaft Mines domaniales de Potasse d'Alsace (MDPA), einem
Staatsunternehmen, aufgingen. Vertrieb und Verkauf wurden einer eigenen
Gesellschaft, der Société commerciale des Potasses
d'Alsace, übertragen, die 1929 das heute noch gelegentlich
sichtbare Markenzeichen mit dem stehenden Storch vor der Silhouette
des Strassburger Münsters schuf. Zwischen 1923 und 1930 kamen – Arbeitskräfte
begannen in der ganzen Region zu fehlen – nicht weniger als 3400 bergmännisch
ausgebildete Polen in die verschiedenen Siedlungen, rund 7500 Wohnungen
mussten von der Gesellschaft an 15 Standorten eingerichtet werden.
(Noch heute liest man gelegentlich polnische Ladenbeschriftungen.)
Nach dem Zweiten Weltkrieg waren mehr als 3000 Wohnungen beschädigt
oder ganz zerstört, verschiedene Schachtanlagen hatten ebenfalls
gelitten, aber das Tempo des Wiederaufbaus war imponierend.
Den wirtschaftlichen Höhepunkt erlebte die elsässische Kali-Industrie
1948. Damals zählte sie 12'880 Personen „sous le statut de mineur”,
dazu kamen Ärzte, Lehrer, Gärtner, Lehrerinnen, also mehrere
hundert Hilfskräfte. Noch in den 60er Jahren waren es Tausende,
die für die Minen arbeiteten, aber 1979 war deren Zahl auf 6000
und nach 1990 auf 3000 gesunken. Die Gründe für den Rückgang
sind verschiedener Natur: Entdeckung neuer Kali-Vorkommen in anderen
Ländern und Kontinenten, Preiseinbrüche auf dem Weltmarkt,
vor allem aber die absehbare Erschöpfung der elsässischen
Kalivorkommen, die sich für das Jahr 2004 abzeichnet. Dannzumal
kann diese bergmännische Industrie mit ihrem Ende zugleich auf
100 Jahre zurückblicken. Dazu kam ökologischer Kummer, weil
auf dem Höhepunkt des Kali-Abbaus nicht weniger als sieben Millionen
Tonnen Salz in den Rhein abgeleitete werden mussten. 1972 wurde von
den betroffenen Staaten, nämlich Frankreich, Deutschland, Holland
und der Schweiz, erstmals ein Vertrag im Hinblick auf die Reduzierung
der Salzabfälle geschlossen; 1983 sah die Unterzeichnung einer
weiteren Konvention, die die Kali-Industrie im Elsass zur massiven
Reduktion der Salzeinleitungen in den Rhein verpflichtete. Der Produktionsrekord
wurde 1974 erreicht, als nicht weniger als 13'361'709 Tonnen abgebaut
wurden, die 2'678'853 Tonnen K2O ergaben. Jetzt bemüht
sich die MDPA darum, salzhaltige Abfälle auf abgedichteten
Oberflächen so zu deponieren, dass keine ökologischen Schäden
mehr zu befürchten sind; das erstarkende Umweltbewusstsein der
Bevölkerung ist zu einem wesentlichen politischen Faktor geworden.
Wird aus dem bergmännischen Oberelsass langsam wieder ein vermehrt
landwirtschaftlich genutztes Gebiet, oder gelingt es unserer heutigen
Gesellschaft, neue umweltschonende Techniken und Beschäftigungen
in den alten Revieren anzusiedeln?
Der Beitrag der Kali-Industrie an die Verwandlung des Oberelsasses und an seinen
Wohlstand ist nicht zu übersehen. Die Realisierung des Traums
der Amélie Zürcher vom Schatz unter dem Boden steht in
seinem 100-Jahr-Jubiläum. Die Kali-Industrie hat dem Elsass Hafenanlagen,
spezielle Bahn-, Fluss- und Strassenverbindungen gebracht, sie hat
vor allem eine Unzahl von Gesellschaften und Betrieben im mechanischen,
chemischen und gewerblichen Sektor hervorgerufen. Zahlreiche Schulen
und technische Ausbildungsstätten entstanden, sie nehmen sich
der neusten Techniken an, etwa der Informatik. Zu sehen, wie eine ganze
Industrie, konfrontiert mit ihrem Auslaufen, sich um Verwandlung und
Neuanfänge bemüht, dabei erste Erfolge verzeichnet, ist eindrücklich,
fast pathetisch. Wenn man hinter der Stadt Wittenheim verfolgen kann,
wie die einstige Abraumhalde der Mine Fernand Anna zunehmend
grün wird, scheint die Natur an diesem Wandlungsprozess teilzunehmen.
Noch waren im 20. Jahrhundert einzelne Minen im Betrieb, gelegentlich
sah man an der Spitze eines Schachtturms ein sich drehendes Rad. Aber
andere sind stillgelegt; die Betriebsgebäude der Mine Rodolphe beabsichtigt
das Ecomusée in Ungersheim in seinen Gesamtkomplex einzubinden.
Auf der einen Seite also das traditionelle Elsässerdorf mit seinen
landwirtschaftlichen Praktiken und den jahrhundertealten Riegelbauten,
auf der anderen Seite die Industrie bergmännischen Zuschnitts
aus dem 19. und 20. Jahrhundert.
Heute gibt es nicht mehr viele Leute, die in die Bücher ihrer Sammlung
ein Ex Libris kleben. Vor 100 Jahren war das im gebildeten Bürgertum
noch selbstverständlich. Wir kenne das Ex Libris das sich Amélie
Zürcher anfertigen liess. Es zeigt ihr Familienwappen, ein
diagonal geteiltes Feld mit je einem freigestellten sechseckigen Stern
in den halben Flächen. Über diesem Wappen, an dessen Fuss
ihr Name in gotischen Lettern steht, wird ein Hintergrund sichtbar.
Wir sehen ein dicht bewachsenes Feld, in dem Obstbäume stehen,
dahinter erscheint ein Bergwerk mit dem Schachtturm, am Horizont werden
aufgetürmte Hügel sichtbar, es sind die Abraumhalden. Dieses
Ex Libris dürfte noch vor dem Ersten Weltkrieg gezeichnet worden
sein, aber sicher nicht vor 1910. Es stammt also aus der Zeit, da die
damals rund 50jährige Amélie Zürcher ihre Lebensaufgaben
wie selbstverständlich in ein Bild umsetzen konnte – abschliessend,
ist man versucht zu sagen: hier die Obstbäume, dort das Bergwerk.
Es ist die Polarität, die das Leben von Amélie Zürcher geprägt
hat. Ihr Traum vom Schatz unter der Erde bewahrheitete sich. Er brachte
ihr Reichtum und ein sorgloses Leben. Gabriel Wackermann weiss
zu berichten, dass um 1910 einzelne Aktien der Gewerkschaft Amélie äusserst
spekulativ gehandelt wurden, sie stiegen damals auf 12'000 und 14'000
Mark, gelegentlich wurde ein Preis bis 30'000 Mark gezahlt. Das macht
es verständlich, dass Amélie in Mülhausen einen grossen
Grundbesitz erwerben konnte und sowohl einen Immobilien- wie Finanzverwalter
in ihre Dienste nahm. Von ihrem ganz privaten Leben wissen wir sonst
nicht mehr viel; alle Nachrichten, über die wir verfügen,
zeigen eine ungewöhnlich gradlinige, mutige, in ihrer Selbstdisziplin
bewundernswerte Frau. Die Erinnerung an ihre Person mag langsam verblassen,
aber die Folgen ihres Traumes haben aus der Ebene des oberen Elsasses
ein ganz anderes Land gemacht.
Interview
mit Amélie
1934 besuchte Lucien Naas als Journalist Amélie Zürcher in
Mülhausen. Es sei ein schöner Frühlingstag gewesen,
weisse Wolkenschärpen hätten am Himmel von türkisblauer
Farbe geschwebt. Auf dem Weg an die Rue du Moenchsberg hätte er
sich verschiedene Entdeckungen überlegt, Christoph Kolumbus und
Amerika, das vom Ehepaar Curie entdeckte Radium. Und wie entdeckte
Amélie Zürcher das Kali?
Der Bericht von Naas ist vom 25. Mai 1934 datiert. Für die Geschichte
der Amélie Zürcher ist er eine wichtige Quelle. In den
entscheidenden Passagen lautet er wie folgt:
„Meine Geschichte? bemerkte Amélie Zürcher, aber sie ist einfach.
Ich widmete mich meinem Bruder, Kriegsverletzter von 1870. Wir bewirtschafteten
im Ober-Elsass die grosse Ferme des Lützelhofes bei Sennheim,
wo wir, im Jahre 1893, sechsundfünfzig Stück Rindvieh, zehn
Pferde und ein Dutzend Schweine hielten. Nun war aber die Trockenheit
in diesem Jahr fürchterlich, und Mitte Sommers standen wir vor
der Unmöglichkeit, unser Vieh zu ernähren. Unsere Besorgnis
war tief...
Diese peinlichen Erinnerungen erweckten Traurigkeit im Geist meiner Gesprächsführerin.
Sie seufzte und fuhr fort:
Wir brachten grosse Opfer, um unsere Herde zu ernähren, denn wir konnten
uns zu jener Zeit nicht dazu entschliessen, die Tiefe für 40 oder
50 Franken zu verkaufen, wo sie in normaler Zeit zwanzig mal mehr galten.
Da der Regen immer noch auf sich warten liess, wurde unsere Verlegenheit äusserst
gross. Wieviel unfruchtbare Versuche, wieviel unausführbare Pläne
wurden geschmiedet in jener Zeit! Eines Nachts erwachte ich mit der
Gewissheit, dass unter unserem Boden etwas verborgen sei.
Ein Traum, Mademoiselle, oder eine Vision? ... Vielleicht eine Enthüllung?
Oh nein! Einfach eine Gewissheit, aber eine absolute Gewissheit, dass unsere
Erde etwas enthält.
Auf was beruhte diese Gewissheit?
Auf nichts!... Der Gedanke wurde mir vertraut. Zweifel kannte ich keine: unser
Boden enthält unerwartete, ungewöhnliche Dinge – ich wusste
zwar nicht welche –, die mir erlauben würden, unser Budget ins
Gleichgewicht zu bringen. Ich weckte meinen Bruder, um ihm diese Mitteilung
zu machen; aber er hielt mich für verrückt. Am folgenden
Tage wollte er nichts mehr davon hören, und als ich darum anhielt,
Erdbohrungen bewerkstelligen zu lassen, erwiderte er, dass er über
keinerlei Kapital verfüge und mir nicht helfen könne.
Dieser Misserfolg war sicher dazu angetan, Sie zu entmutigen?
Oh nein! Ich war zu sicher, dass unter unseren Füssen ein Vermögen
vergraben war. Ich entschloss mich, diesem Unternehmen alles zu opfern,
was ich persönlich besass. Aber zehn Jahre, sollten vergehen,
ohne dass ich den ernsten Mitarbeiter finden konnte, dessen ich bedurfte.
Es waren noch zehn peinliche Jahre, während welchen die Idee notwendiger
Bohrungen sich immer mehr in meinem Geist festsetzte, ohne dass ich
eine unmittelbare Verwirklichung sah. Meine lange Geduld sollte ihre
Anerkennung finden. Ich konnte endlich für meine Pläne einen
Spezialisten für Bohrungen interessieren, Herrn Joseph Vogt, der
mein Beteiligter wurde, sowie Herrn J.-B. Grisez von Chapelle-sous-Rougemont.
Die erste Bohrung fand am 1. Juni 1904 zwischen Lutterbach und Sennheim statt,
im Walde meines Bruders.
Da war ein schöner Tag für Sie, Mademoiselle!
Meine Freude war tief zu sehen, dass meine Gewissheit vor allen geteilt wurde.
Jedoch in 50 Meter Tiefe angekommen, wollte Herr Vogt aufgeben, entmutigt
nur Steine und Sand angetroffen zu haben. Ich behauptete, dass wir
nach dieser Lage interessanteren Boden finden würden. Um ihn von
seinem Entschluss abzubringen, musste ich sehr eindringlich sein. Ich
erreichte es endlich, und die Arbeiten wurden wieder aufgenommen. Bei
400 Meter, in Gegenwart von Sodium clorure in sehr reinem Zustand,
erklärte Herr Vogt, dass es unnütz sei, weiter zu bohren,
da das Salz die Kosten nicht bezahlen könne.
Unter dem Salz gibt es etwas anderes, behauptete ich. Es muss weiter gebohrt
werden!
Was Herr Vogt verweigerte. Verzweifelt, so nahe am Ziel aufgeben zu müssen,
drang ich in Herrn Vogt, bat ihn, ich sagte ihm: Bohren Sie weiter,
Reichtum erwartet uns. Hätte ich zwanzig Köpfe, ich gäbe
sie, wenn wir nicht an's Ziel gelangen ... Wenn Sie aufgeben, werde
ich allein handeln, ich werde irgendwo einen anderen Bohrer suchen!
Herr Vogt liess sich endlich überzeugen, und 150 Meter tiefer, d.h. 550
Meter unter der Oberfläche, erreichte man endlich die erste Kalilagerung,
von einer Reinheit, wie man sie um jene Zeit in der ganzen Welt nicht
kannte.
Es war der Triumph. Die Arbeiten wurden mit neuem Eifer weitergeführt.
Drei Monate später wurde eine Tiefe von 1120 Metern erreicht.
Lächelnd und mit Einfachheit stellte Mlle Zürcher ihren Erfolg fest.
Ich verneigte mich vor der unvergleichlichen Anregerin von Nachforschungen,
die dieser Region ein neues Leben gaben.
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